K. berichtet von ihrer Perspektive auf jüdisches Leben in Deutschland

K. ist als Kind mit ihrer Familie über das jüdische Kontingentflüchtlingsprogramm von Russland nach Deutschland gekommen. Sie spricht hier über ihre persönliche Perspektive auf den gesellschaftlichen Blick auf jüdisches Leben in Deutschland. Jüdischsein fühlt sich für sie wie etwas an, das nicht normal ist; etwas, das immer als „besonders“ markiert wird. Die Gründe dafür sind laut K. nicht nur in der historischen Vergangenheit Deutschlands zu finden, sondern auch darin, dass die Gesellschaft allgemein viel zu wenig über verschiedene Religionen wisse.

Ich erleb das tatsächlich immer noch so, als ob das was Besonderes ist – hab ich immer das Gefühl. Ich weiß gar nicht genau, warum das so sein könnte, aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass das Judentum was ist, was nicht normal in der Gesellschaft ist, was irgendwie so ein bisschen weiterhin für sich lebt, wie’s halt auch früher war. Die haben halt irgendwie ihre Synagogen und man weiß gar nicht so genau, was da drin passiert. Weil in der Schule zum Beispiel sind wir früher mal in eine Moschee gegangen und haben uns das angeschaut, aber eine Synagoge haben wir uns nicht angeschaut und dann ist es halt so ein Geheimclub und so richtig weiß man nicht, was da passiert. Und der Umgang von Medien mit dem Judentum ist für mich eigentlich nur mit antisemitischen Übergriffen verbunden. Also man weiß nie irgendwas über die Feste, oder halt übers Judentum. Auf die Feste komm ich grad, weil man zum Beispiel auch erzählen könnte, dass heute das und das jüdische Fest ist. Also dass man auch darüber sprechen könnte und nicht nur, dass dort ein Rabbi verprügelt worden ist und hier ein jüdischer Friedhof beschmiert worden ist halt. […]

Ich glaub, es wäre schöner, wenn man mehr wüsste, also nicht nur über das Judentum, auch mehr über den Islam und mehr über – weiß ich nicht – über Buddhismus oder sowas. Und wenn man nicht nur die großen christlichen Feiertage ankündigen würde, sondern dass man vielleicht auch, also auch wenn man sie nicht als gesetzliche Feiertage einführt, aber dass man das zumindestens in der Schule mal erwähnt, was es für andere Feiertage gibt und dass man halt ein bisschen weltoffener ist. Ich glaube, es ist vor allem wichtig, das Kindern beizubringen, weil ich nicht genau weiß, ob man bei Erwachsenen noch irgendwas erreicht. Aber bei Kindern, dass die damit aufwachsen, dass es nicht nur das Christentum gibt, dass es halt auch andere Religionen und andere Glaubensgemeinschaften und andere Länder gibt. […]

Ich glaube halt auch, weil zumindestens in Deutschland da noch eventuell auch so eine Schuld mitschwingt, oder so ein schlechtes Gefühl zumindestens, aus der NS-Zeit. Dass was passiert ist, das „die Deutschen“ „den Juden“ angetan haben und deshalb darf man jetzt gar nichts über die sagen, weil dann wird man vielleicht sofort in eine Richtung geschoben, in die man nicht geschoben werden will. Vielleicht wird auch so wenig darüber informiert, weil die Menschen halt nicht wissen, wie man was sagt, das nicht falsch verstanden wird. Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich könnte mir deswegen vorstellen, dass es was ist, was als besonders gilt und als komisch gilt, weil man halt einfach zu wenig darüber weiß. Weil zum Beispiel in Russland ist das ein ganz anderer Umgang. In Russland wird super viel übers Judentum gesprochen, es gibt super viele Witze über die Juden und Judentum und irgendwie ist das auch viel mehr in der Gesellschaft verankert, dass man da drüber spricht, dass es nicht irgendwie komisch ist zu sagen, die Nachbarin ist Jüdin. Das ist jetzt nichts was man flüstert, man sagt es halt ganz normal. […]

Gefühlt gehört das Judentum nicht wirklich zu Deutschland dazu. […] In Berlin gibt es ja auf jeden Fall ein offenes jüdisches Leben auf der Straße, man sieht Menschen mit Kippa, man sieht im Prenzlauer Berg die Kinder aus der jüdischen Schule laufen mit diesen Fitzelchen 11Hiermit meint die Interviewte Tallit/Zizit. Tallit bezeichnet den jüdischen Gebetsschal, Zizit sind Fäden, die an den vier Ecken dieses Gebetsschals hängen. da unter der Schuluniform raus lunzen und wenn man diese Signale lesen kann, dann weiß man, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt. Aber ich glaube halt in vielen anderen Städten, wo es keine großen Gemeinden gibt oder wo die Menschen nicht offen jüdisch rumlaufen, weiß man vielleicht auch gar nicht, dass es jüdisches Leben gibt, wenn man sich nicht informiert. Aber ich hab irgendwie trotzdem das Gefühl, dass es so eine Parallelgesellschaft ist, die nicht in Deutschland angekommen ist und auch – also vielleicht ist es auch ein sehr subjektives Empfinden – aber ich hab das Gefühl, dass das jüdische Leben aus Israelis und Russen in Deutschland besteht, aber nicht aus deutschen Juden sozusagen. Also ich kenne niemand Deutsches, der jüdisch ist, ich kenne nur russische Menschen oder Israelis, die hergezogen sind.

    Fußnoten

  • 1Hiermit meint die Interviewte Tallit/Zizit. Tallit bezeichnet den jüdischen Gebetsschal, Zizit sind Fäden, die an den vier Ecken dieses Gebetsschals hängen.

K. ist als Kind mit ihrer Familie über das jüdische Kontingentflüchtlingsprogramm von Russland nach Deutschland gekommen. Sie spricht hier über ihre persönliche Perspektive auf den gesellschaftlichen Blick auf jüdisches Leben in Deutschland. Jüdischsein fühlt sich für sie wie etwas an, das nicht normal ist; etwas, das immer als „besonders“ markiert wird. Die Gründe dafür sind laut K. nicht nur in der historischen Vergangenheit Deutschlands zu finden, sondern auch darin, dass die Gesellschaft allgemein viel zu wenig über verschiedene Religionen wisse.

Das Interview wurde von Johanna Sünnemann im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv durchgeführt und ausgewertet.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.