K. über die Reaktionen anderer auf ihre jüdische Identität

K. erzählt über die Reaktionen anderer in der Schule und bei dem Bürgeramt auf ihre jüdische Identität.

Wir hatten zum Beispiel in der Schule in der achten Klasse Anatevka 11Anatevka ist ein Musical, welches im Jahre 1905 in der fiktiven, jüdisch geprägten Kleinstadt Anatevka spielt. aufgeführt und mein Lehrer hatte mich gefragt, ob ich durch unsere Connection zur Synagoge jüdische Requisiten besorgen könnte, wie diese Gebetsschale und Kippas und sowas. Und ob ich ein bisschen was über die jüdische Gemeinde erzählen könnte. Und so richtig was über die Gemeinde konnte ich nicht erzählen, aber ich hab halt die Sachen dann geholt – und da hab ich mich so ein bisschen gefragt, zum einen, woher er das weiß, dass ich jüdisch bin. Ich weiß nicht genau, ob meine Eltern da vielleicht was erwähnt hatten oder wie er an die Info gekommen ist.

Dann wurde ich von einer Freundin mal sehr witzig so sehr leise und tuschelnd gefragt, ob das stimmt, dass ich jüdisch bin. Lange Zeit hatte ich auch gedacht, das ist was, was man auch nicht erzählen darf, dass wir jüdisch sind, dass es irgendwas ist, was geheim bleiben sollte. Weil es halt bei uns, glaube ich, nie so ein richtiges Thema war. Aber ich glaube nicht, dass es bei meinen Eltern kein Thema war, weil es ein Geheimnis ist, sondern einfach, weil sie dem nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Das ist halt so und da muss man jetzt nicht immer drüber reden. Bei mir als Kind war das aber sowas, dass man nicht drüber reden darf. Vielleicht auch, weil es irgendwie was Besonderes ist jüdisch zu sein, in meinem Kopf.

Dann gab’s letztens erst ’ne Situation, als ich einen neuen Pass beantragt hab und eine Geburtsurkunde von mir mitbringen musste. Und in den alten Geburtsurkunden – auch in meiner Geburtsurkunde – steht noch, dass meine Mutter jüdisch ist. Aber ich hab da nicht drüber nachgedacht und hab denen halt die Geburtsurkunde zum Kopieren gegeben und dann hat meine Mama zu mir gemeint, dass die das ja gar nichts angeht. Also dass es eigentlich eine Information ist, die sie jetzt nicht unbedingt durch alle Bürgerämter tragen möchte. Und dann musste meine Mutter auch einen Pass beantragen, bei demselben Bürgeramt und hat ihre Geburtsurkunde mitgegeben, weil die da eine Kopie gebraucht haben und [meine Mutter] meinte, sie möchte aber nicht, dass die Daten ihrer Eltern dort aufgenommen werden. Und dann hat die Frau die da gearbeitet hat drauf geschaut und meinte: „Ah, ich verstehe“, und hat Jüdin und Jude raus gestrichen bei meinen Großeltern; hat das geschwärzt, aber die Namen halt drin gelassen. Das sind so Momente, wo ich irgendwie drüber nachdenke, dass das nichts Alltägliches ist, jüdisch zu sein. Dass das für viele Menschen einfach etwas ist, was irgendwie besonders ist und etwas ist, was halt geheim gehalten werden müsste, dass man das rausstreichen muss.

Ich glaube ich teile das auch einfach zu wenig, als dass es viele Menschen wissen würden und mich eben deshalb anders behandeln würden, ich erzähl das ja nicht jedem einfach so. Aber zum Beispiel wüsste ich jetzt auch gar nicht unbedingt, in welchen Situationen ich das erzählen würde. Also warum ich das mit Menschen teilen muss und man sieht’s mir nicht an, ich trag keine Davidssterne irgendwie an mir… Genau, deswegen weiß ich jetzt nicht genau, weshalb ich das so teilen würde.

 

    Fußnoten

  • 1Anatevka ist ein Musical, welches im Jahre 1905 in der fiktiven, jüdisch geprägten Kleinstadt Anatevka spielt.

K. ist als Kind mit ihrer Familie über das Kontingentflüchtlingsprogramm von Russland nach Deutschland gekommen. Sie erzählt von Situationen, in denen das Jüdischsein ihr stärker bewusst wird und in welchen andere Personen merkwürdig auf diesen Teil ihrer Identität reagieren. Gleichzeitig verspürt sie auch nicht das Bedürfnis, Menschen mitzuteilen, dass sie jüdisch ist – sie will es nicht geheim halten, sieht aber auch keinen Grund, es zu erzählen.

Das Interview wurde von Johanna Sünnemann im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv durchgeführt und ausgewertet.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.