K. über die Bezeichnung „Kontingentflüchtlinge“

K. spricht über die Bezeichnung „Kontingentflüchtlinge“ und die eigene Fluchterfahrung aus ihrer Kindheitsperspektive.

Ich sehe mich nicht so richtig als geflüchtete Person, weil es für mich auch eher ein Umzug war – weil ich, glaube ich, aber auch die Kindheitsperspektive hatte. Ich weiß nicht genau, wie  sich Menschen fühlen, die in ihrem Land nicht mehr leben konnten und deshalb geflohen sind und nicht, weil sie’s nicht wollten. Ich glaube, das ist ein großer Unterschied wie die Kinder es dort wahrnehmen, ob das für sie als Fluchterfahrung wahrgenommen wird, oder ob es einfach auch als ein Wechsel der Umstände wahrgenommen wird. Aber ich würde von mir nicht behaupten, ich sei eine geflüchtete Person, obwohl das halt auf dem Papier schon so ist. Also ich weiß nicht, wie sich eine geflüchtete Person fühlt, aber ich fühl mich nicht so wie eine geflüchtete Person.[…]

Ich kann mir vorstellen, dass viele Kontingentflüchtlinge auch auf Grund von Zwang umgezogen sind. Also ich kann mir auch vorstellen, dass es für meine Eltern nochmal eine andere Wahrnehmung ist, also dass es in dem Sinne auch ein Zwang war, weil es für sie nicht lebenswert war in Russland weiter zu leben, weil sie das eben halt so weitsichtiger gesehen haben, als ich das gesehen hab. Aber ich glaube, es gibt irgendwie schon einen Unterschied, dass du in einem Land nicht mehr Leben kannst, durch Kriegsbedingungen oder sowas, dass du deshalb fliehen musst, weil du nicht willst, dass deine Kinder sterben, oder weil du umziehen willst, weil du deinen Kindern ein besseres Leben ermöglichen möchtest. Ja, ich glaube das ist schon ein großer Unterschied. […]

Ich weiß gar nicht genau, ob man das so benennen muss. Also wenn das zum Thema wird, wenn ich mit jemandem drüber spreche, sage ich, dass ich in Russland geboren, aber in Deutschland aufgewachsen bin. Das wird oft nicht hinterfragt, weil Menschen oft nicht wissen, dass man nicht einfach weg ziehen kann – vor allem nicht aus Russland einfach nach Deutschland ziehen kann, weil man gerne hier leben möchte. Wenn Menschen das hinterfragen, erwähne ich auch das Wort „Kontingentflüchtling“ meistens nicht: Ich erkläre, was das für ein Programm war, über das wir umziehen konnten. Weil ich glaube, bis auf eine Person wusste niemand, was das ist, mit denen ich bisher gesprochen hab. Und die eine Person hat ihre Masterarbeit darüber geschrieben. Aber ich glaube sonst Menschen, mit denen ich drüber gesprochen hab, die kannten das gar nicht, dass es überhaupt so ein Programm gab von Deutschland aus. Dass die halt die jüdischen Menschen wieder aufgenommen haben, um das jüdische Leben zu fördern. Ich kannte dieses Wort auch lange Zeit nicht, also ich wusste, dass wir über so ein Programm umgezogen sind, aber dass es eben „Kontingentflüchtling“ heißt wusste ich auch lange Zeit nicht. Ich weiß nicht, ob man da ein neues Wort für braucht, oder ob das überhaupt ein Wort sein muss. Aber ein bisschen fühlt es sich so an, als ob man die Fluchterfahrung von Anderen irgendwie weniger wichtig macht, wenn man sich selbst auch als geflüchtete Person bezeichnet.

K. ist als Kind mit ihrer Familie über das jüdische Kontingentflüchtlingsprogramm von Russland nach Deutschland gekommen. Sie kam so offiziell als „Flüchtling“ nach Deutschland, würde sich jedoch selbst nicht so bezeichnen. Im folgenden Abschnitt spricht sie darüber, was Flucht für sie bedeutet und hinterfragt, ob Benennungen wie „Kontingentflüchtling“ überhaupt sinnvoll sind. Sie kann sich vorstellen, dass es in dieser Wahrnehmung jedoch auch Unterschiede zwischen den Generationen gibt. Aus ihrer Kindheitsperspektive habe sich die offizielle „Flucht“ wie ein Umzug angefühlt – ihre Eltern hätten dies jedoch wahrscheinlich anders empfunden.

Das Interview wurde von Johanna Sünnemann im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv durchgeführt und ausgewertet.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.