Keine ziellose Flucht – Ernst Eduard Hirsch als privilegierter Emigrant in Istanbul

Ernst E. Hirsch reflektiert seine privilegierte Emigration mit Hilfe der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland nach Istanbul, die mit einem Lehrstuhl an der neuen juristischen Fakultät der Universität von Istanbul einherging.

Ernst Eduard Hirsch with his students. Privat archive, with the kind permission of Enver Tandoğan Hirsch
Ernst Eduard Hirsch mit seinen Schülern. Privatarchiv, mit der freundlichen Genehmigung von Enver Tandoğan Hirsch

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Rechtlich betrachtet hatte ich das Deutsche Reich mit der Absicht verlassen, nach dem Verlust zweier Lebensstellungen mir nunmehr außerhalb der deutschen Grenzen einen neuen Tätigkeitsbereich zu suchen. Es handelte sich nicht um eine ziellose Flucht, sondern um eine von den zuständigen deutschen Behörden „abgesegnete“ ordnungsmäßige Auswanderung unter Aufgabe des Wohnsitzes im Reichsgebiet bei Aufrechterhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit. Ich war „Emigrant“ wie Tausende und Abertausende, denen man zwecks Freimachung von Arbeits- und Versorgungsplätzen für Parteigenossen von heute auf morgen im Rahmen des nationalsozialistischen „Umbruchs“ die Ausübung ihrer bisherigen Berufe rechtlich untersagt oder tatsächlich unmöglich gemacht hatte.

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Die Freiwilligkeit der Auswanderung war also der eine Umstand, der mich von der Masse der Emigranten unterschied. Der andere ganz besonders wichtige Unterschied lag darin, daß ich nicht ins Ungewisse fuhr und mir erst irgendwo draußen etwas suchen mußte, sondern bereits einen vorläufigen Arbeitsplatz gefunden hatte, von dem ich annehmen konnte, daß er binnen eines Jahres zu einer festen Stellung führen würde. So konnte ich mein Umzugsgut von Frankfurt (Main) nach Amsterdam verschiffen lassen und mir in Amsterdam zum 1. Oktober 1933 ein großes Zimmer in der Frans van Mierisstraat mieten. Unter dieser Adresse wurde ich bereits am 15. Juli 1933 ohne jede förmliche Schwierigkeit in das Einwohnerregister eingetragen.

Nachdem ich mein Umzugsgut eingelagert, mein mitgenommenes Geld bei einer Bank auf Konto eingezahlt und einige Besuche, insbesondere bei Professor Scheltema, gemacht hatte, entschloß ich mich auf dessen Anraten, den Sommer irgendwo an der Küste zu verbringen, bis ich in das gemietete Zimmer einziehen konnte. Der Aufenthalt an der See in einer kleinen Pension war erheblich billiger, ruhiger und gesünder als der Verbleib in einem kleinen Hotelzimmer in Amsterdam. Ich fand in Bergen N-H, damals ein kleines Fischerdorf, heute ein mondäner Badeort, im Huize „Zonneheuvel“ die Bleibe, die ich gesucht hatte, und begann dort mit der täglichen Arbeit, die ich mir bis zum Beginn des Universitätsjahrs 1933/34 vorgenommen hatte: der Vertiefung meiner niederländischen Sprachkenntnisse und Sprechkünste sowie der Vorbereitung der Vorlesung für die Umhabilitierung.

Eines Spätnachmittags, als ich, im Garten auf- und abgehend, Vokabeln memorierte, wurde ich zu meiner Überraschung ans Telephon gerufen. Aus Zürich meldete sich ein Professor Schwartz, der im Namen eines Komitees fragte, ob ich bereit sei, an der Universität Istanbul, die zurzeit reformiert werde, den Lehrstuhl für Handelsrecht zu übernehmen. Ich konnte nur antworten, daß die Universität Amsterdam sich bereit erklärt habe, mich im Herbst umzuhabilitieren und mir ein Jahr später den dann freiwerdenden Lehrstuhl für internationales Handelsrecht zu übertragen. Bevor ich nichts Näheres über die Umstände und Bedingungen des Istanbuler Projekts wisse, könne ich mich nicht erklären. Ich bäte um nähere Unterrichtung.

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Die Professoren der Juristischen Fakultät der Universität Amsterdam waren mir in höchst kollegialer Weise begegnet und hatte getan, was sie unter den gegebenen Verhältnissen für mich tun konnten. Noblesse oblige! Dies selbst dann, wenn ich mindestens ein Jahr lang ohne feste Besoldung bleiben mußte.

Auf der anderen Seite wurde mir zum sofortigen Antritt ein Lehrstuhl zu Bedingungen angeboten, die unter damaligen Verhältnissen mehr als angemessen waren und es mir ermöglichen würden, in Kürze für meine Familie und mich ein sicheres Einkommen zu beziehen. Schließlich war zu bedenken, daß Amsterdam sehr nahe der deutschen Grenze lag, während ich „weit hinten in der Türkei“ vor Hitler und etwaigen Folgen seines Expansionsdrangs nach menschlichem Ermessen sicher sein konnte.

Diese aufgeführten Gesichtspunkte besprach ich eingehend mit Professor Scheltema. Er riet mir, mein Einverständnis für eine etwaige Berufung nach Istanbul zu erklären, aber meine Zelte in Amsterdam erst abzubrechen, sobald die Berufung auf den Istanbuler Lehrstuhl faktisch und rechtlich gesichert sei. Daraufhin erklärte ich gegenüber der Notgemeinschaft in Zürich telephonisch und brieflich meine Bereitschaft zur Übernahme des Lehrstuhls. So konnte Philipp Schwarz, als er Ende Juli zum zweiten Male zwecks Regelung zahlreicher offen gebliebener Fragen nach der Türkei reiste, unter den Vorschlägen zur Besetzung der Lehrstühle auch meine Zustimmung den zuständigen türkischen Stellen zur Kenntnis bringen. […]

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Da stand ich nun, ein in der deutschen Heimat als Jude mißachteter, wegen seiner „minderwertigen“ Rasse aus seinen Ämtern verjagter, unter Aufgabe von Heim und Herd ins ausländische Exil emigrierter „Réfugié“ „weiter hinten in der Türkei“ inmitten eines von Kristall, Alabaster, Marmor, Porphyre, Intarsien strotzenden, mit kostbaren Möbeln Teppichen und Gemälden ausgestatteten ehemaligen Thronsaal als einer zu den oberen Tausend gerechneter deutscher Professor! Es war eine Sternstunde, die zu erleben mir gleich zu Beginn meiner türkischen Jahre vergönnt war.

Ernst Eduard Hirsch wurde im März 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amt als Richter auf Lebenszeit in Frankfurt am Main und als Privatdozent entlassen. Im Oktober 1933 folgte er einem Ruf der Universität Istanbul auf den Lehrstuhl für Handelsrecht. Ernst E. Hirsch war wohl der jüngste unter allen an die Universität Istanbul Berufenen und der einzige, dem es gelang, den Sprung vom Privatdozenten (noch ohne Professorentitel) zum Ordinarius zu schaffen.

Er zu den wenigen, die in relativ kurzer Zeit die türkische Sprache so erlernten, daß sie sich ihrer zunächst in den Prüfungen, dann auch in den Vorlesungen bedienen und bald darauf selbst ihre Bücher in der Landessprache verfassen konnten.  Nach dem Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit im Jahr 1943 wechselte er an die Universität Ankara und lehrte dort neben Handelsrecht auch Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie. Neben seiner Lehrtätigkeit widmete er sich in Istanbul dem Aufbau der Juristischen Fakultätsbibliothek, wovon er in seiner Autobiografie berichtete. Dort existierte zwar bereits eine Bibliothek, doch bestand diese aus Fachliteratur zum osmanischen Recht in arabischer Schrift, nicht jedoch zum Recht der 1923 gegründeten Republik Türkei und zum internationalen Recht.

In diesen Ausschnitten aus seinen Memoiren beschreibt Hirsch seine Flucht aus Deutschland, zunächst in die Niederlande, dann – mithilfe der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland – in die Türkei als eine verhältnismäßig privilegierte und geordnete Ausreise und gesicherte Zuflucht. Der letzte Absatz bezieht sich auf eine nationale Festveranstaltung, zu der Hirsch – bereits in Istanbul angekommen – als einer der von der Türkei im Rahmen ihres Modernisierungsprogramms aufgenommenen deutschen Professoren – eingeladen war.

1952 kehrte Hirsch nach Deutschland zurück, um dort die neugegründete Freie Universität Berlin als Ordinarius für Handelsrecht und Rechtssoziologie, Rektor und Prorektor mit aufzubauen.

 

Auszüge aus der Autobiographie: Ernst E. Hirsch, 1982: Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks. Eine unzeitgemäße Autobiographie, J. Schweitzer Verlag: München.