Margarethe Schütte-Lihotzky und der kommunistische Widerstand in Istanbul

Als überzeugte Kommunistin kam die progressive Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky 1938 nach Istanbul und lehrte dort an der Akademie der Schönen Künste. In diesem Abschnitt ihrer Memoiren schildert sie die vorangegangenen Stationen ihres Exils, erzählt, wie sie sich den kommunistischen Widerstandsstrukturen in Istanbul anschloss und sich vor den Nazi-Vertretern tarnte, und warum sie sich 1940 dazu entschied, nach Österreich zurückzukehren.

Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte in Istanbul, 1938. © Margarete Schütte-Lihotzky, Erinnerungen aus dem Widerstand, hrsg. von Chup Friemert, Berlin: Volk und Welt, 1985, S. 49.

Wir entschieden uns vorerst für England und reisten im August 1937, zusammen mit unseren Freunden, der Familie des Schweizer Architekten Hans Schmidt, der auch mit unserer Gruppe 1930 in die Sowjetunion gekommen war, aus Moskau ab.

Abschied am Bahnhof. Alle sowjetischen und ausländischen Freunde waren da; zum letztenmal umarmten wir uns. Die Fahrt ging nach Odessa, ein sowjetisches Schiff sollte uns von dort über Istanbul nach Athen bringen. Es war kein leichter Entschluß gewesen, dieses Land zu verlassen. Lange standen wir an der Reling, bis die letzten Lichter von Odessa langsam dem Blick entschwanden. Ein neues Leben lag vor uns.
Einen Tag Aufenthalt in Istanbul mit Besuch bei unseren Freunden Bruno und Erika Taut. Bruno Taut war einer der bekanntesten deutschen Architekten der zwanziger Jahre, bahnbrechend vor allem für den Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit. Seit 1937 war Bruno Taut Professor an der » Académie des Beaux Arts « in Istanbul und leitete neben seiner Professur ein Büro für die Planung von Erziehungsbauten für das Unterrichtsministerium. Das war auch unser Spezialgebiet. Sofort schlug er uns vor, an der Akademie zu arbeiten. Im Hafen wartete das Schiff. Wir beschlossen, an Deck zurückzukehren. Westeuropa war unser Ziel.

Einige unvergeßlich leuchtende Tage im glühendheißen Athen, dann eine herrliche Küstenfahrt nach Triest und schließlich Paris. Wider Erwarten erhielten wir dort neue deutsche Pässe, o Wunder, Pässe für fünf Jahre. Es war hoffnungslos, sich in Paris eine berufliche Existenz aufbauen zu wollen. Wir hatten eine Unterredung mit dem deutschen Kommunisten Hermann Duncker. Sobald wir unser neues Domizil aufgeschlagen hätten, sollten wir ihm unsere Adresse mitteilen. Er würde dann für eine Möglichkeit sorgen, damit wir im Widerstand gegen die Nazis etwas tun konnten. Von Bruno Taut erhielten wir einen Brief: „Warum lassen Sie nichts von sich hören? Ich habe bereits im Ministerium in Ankara vorgesprochen. Man will Sie beide für die Arbeit an der Akademie in Istanbul haben.“ Trotz dieses Angebots fuhren wir weiter nach London, um uns dort nach Arbeit umzusehen.

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April 1938. Einen Monat zuvor waren die Deutschen in Österreich einmarschiert. Nun kamen auch österreichische Emigranten nach England. Deshalb konnten wir auch hier – wie in Frankreich – keine Arbeit finden. Wir waren nun doch entschlossen, die Berufung nach Istanbul anzunehmen, und kehrten zunächst nach Paris zurück. Von dort reisten wir mit überaus günstigen Verträgen in der Tasche im August 1938 in die Türkei. Ich sollte an der „Académie des Beaux Arts“ arbeiten und unterstand dem türkischen Unterrichtsministerium.

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Noch bevor ich mich in Istanbul an diese Leute [gemeint sind kommunistische Verbündete] wenden konnte, erschien im November 1938 bei uns in der Akademie ein charmanter junger Mann, ein österreichischer Architekt. Er kenne mich dem Namen nach, komme aus Paris und arbeite bei Professor Clemens Holzmeister in Tarabya, einem Villenvorort am Bosporus. Das war meine erste Begegnung mit Herbert Eichholzer, der die Auslandsgruppe der KPÖ [Kommunistische Partei Österreichs] in der Türkei aufbaute, die für den Widerstand in Österreich und seine Verbindung mit der Auslandsleitung von Bedeutung werden sollte. Kurz nachdem uns Herbert Eichholzer in der Akademie aufgesucht hatte, fand sich eine österreichische Widerstandsgruppe in Istanbul zusammen. Über zwei Jahre blieb sie bestehen. Für jeden von uns war dies eine Zeit befriedigender, sinnvoller Arbeit: theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus in direkter Verbindung mit dem Widerstand in Österreich, mit der Möglichkeit der praktischen Unterstützung.

Istanbul war eine verhältnismäßig sichere Verbindungstelle, Transitpunkt für einige Genossen auf dem Weg in die Sowjetunion.

Unsere Istanbuler Gruppe hielt auch Verbindung zu deutschen Antifaschisten, jedoch lediglich zum Zweck politischer Aussprache. Organisatorisch waren Österreicher und Deutsche völlig getrennt. Aus konspirativen Gründen war solch strenge Abgrenzung nötig. Durch eine Kontaktperson hatten wir in Istanbul auch Verbindung zur illegalen Kommunistischen Partei der Türkei, die seit 1926 verboten war.

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Oft fragten mich nach 1945 verschiedenste Leute, auch solche, die keineswegs Nazis waren, warum ich denn aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist. Von der Erkenntnis, daß man sich in so harten Zeiten nicht einem angenehmen, risikolosen Leben hingeben darf, sondern im Widerstand gegen die Nazis auch etwas zu leisten hat, bis zur Meldung bei Herbert, daß ich bereit war, nach Österreich zu fahren, war nur ein kleiner Schritt. Dieser Schritt war nichts anderes als die notwendige Konsequenz jener Erkenntnis, die in mir herangereift war, als ich mir schon Jahre zuvor in Moskau die Frage gestellt hatte: „Was haben wir zu tun, damit wir nach dem Sturz Hitlers mit gutem Gewissen wieder in der Heimat leben können? Was haben wir zu tun, um zum Sturz Hitlers beizutragen?“

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Es ist selbstverständlich, daß man die Gesetze des Gastlandes, in dem man lebt und arbeitet, respektiert. Ist man, im Ausland lebend, zum Widerstand gegen das Regime im eigenen Land entschlossen, dann muß man sich gegenüber der eigenen diplomatischen Vertretung im Gastland tarnen, je vollkommener, desto besser. Mein Mann und ich waren deutsche Staatsangehörige. Wir hatten uns als in Istanbul arbeitende deutsche Spezialisten beim Generalkonsulat angemeldet. Da wir aber nie an Zusammenkünften im Konsulat teilgenommen hatten, wußte man sicher, daß wir keine Nazis waren. Ansonsten galten wir dort wohl als einigermaßen unverdächtige Leute. Nachdem ich mich zur illegalen Arbeit in Wien gemeldet hatte, suchten wir näheren Kontakt zum Konsulat. Der Generelkonsul gehörte einer evangelischen religiösen Sekte an, den Hernhutern, konnte also kein fanatischer Nazi sein. Wahrscheinlich war er als Diplomat ein „Mußnazi“, nicht mehr und nicht weniger. Im Frühjahr 1940 kam mir bei der Kontaktsuche ein willkommener Umstand zugute, nämlich der Besuch meiner Schwiegermutter in Istanbul. Durch sie, die Witwe eines evangelischen Pfarrers, war der Kontakt zu dem religiösen Hernhuter-Ehepaar leicht hergestellt. Bald verkehrten wir im Hause des Generalkonsuls.

Margarethe Schütte-Lihotzky (1897-2000) war eine der ersten österreichischen Architektinnen, die in den 1920ern Jahren vor allem für ihren Entwurf der sogenannten Frankfurter Küche bekannt wurde. Sie arbeitete auch in Deutschland und – bis 1937 – in der Sowjetunion. Als überzeugte Kommunistin war es für sie nicht mehr sicher, nach Deutschland oder Österreich zurückzukehren. Obwohl ihr Architektenkollege Bruno Taut sie schon 1937 dazu bringen wollte, wie er und weitere exilierte Vertreter des Neuen Bauens in die Türkei zu kommen, versuchte sie zunächst, in Paris und London Fuß zu fassen. 1938 entschied sie sich letztlich doch dafür, nach Istanbul zu kommen, wo sie an der Akademie der Schönen Künste lehrte und u. a. Typenprojekte für Dorfschulen entwarf. In diesem Ausschnitt aus ihren Memoiren erzählt sie aber nicht nur von ihren verschiedenen Exilstationen, sondern auch von den kommunistischen Widerstandsstrukturen gegen das NS-Regime in Istanbul, denen sie sich – trotz des Verbots politischer Aktivitäten für Exilierte in der Türkei – anschloss. Außerdem schildert sie die Herausforderungen des Zusammenlebens der verschiedenen deutschsprachigen Gruppen in Istanbul, zu denen sowohl offizielle Vertreter:innen und Anhänger:innen des NS-Regimes als auch diejenigen gehörten, die von diesem ins Exil vertrieben worden waren.

Schütte-Lihotzky blieb jedoch nicht lange in Istanbul: 1939 trat sie der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei und kehrte im Dezember 1940 nach Wien zurück, um sich dort dem im Geheimen agierenden kommunistischen Widerstand anzuschließen und ihren Teil zum Sturz der Nationalsozialisten beizutragen. Bereits wenige Wochen nach ihrer Ankunft wurde sie allerdings enttarnt und von der Gestapo festgenommen. Anders als viele ihrer Genoss:innen entging sie der Todesstrafe und überlebte die Zeit bis zur Befreiung im Jahr 1945 im Zuchthaus. Nach dem Krieg setzte sie ihre Tätigkeit als Architektin fort.

Schütte-Lihotzky, Margarethe, 1994: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938-1945. Das kämpferische Leben einer Architektin. Wien: Promedia, S. 34-42.