Mascha Kaléko über ihre ersten Eindrücke von New York

Wenige Monate nach ihrer Flucht nach New York schildert die Dichterin Mascha Kaléko (1907–1975) ihre ersten Eindrücke von der Stadt in einem Tagebucheintrag vom 27. Januar 1939.

Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Ich habe es versäumt, die ersten New Yorker Eindrücke zu verzeichnen, schade. Nichts läßt sich so in die Erinnerung zurückrufen. Ich weiß jetzt nur: Alles ist anders, als wir es uns in Europa vorgestellt haben – vieles besser, manches böser. In den ersten Jahren erging es uns mit dieser Stadt wie einem ‚Flitterwöchner‘ mit seiner nagelneuen geliebten Frau. Alles war neu und schön, darum (manches nur darum) bezaubernd. Die Wolkenkratzer mitten aus der Nebel-Insel aufragend – unerwartet die hohen Türme funkelnder Lichtfenster, die glitzernde Liebe (?) am Broadway, ein bißchen wie Lust an Jahrmarktstreiben, Karussell und Lampion erfaßt mich beim Anblick des abendlichen Gewimmels am Broadway.

In den ersten Jahren sahen wir New York gehemmt durch Ws. Jakob W., der Komponist, mag sympathisch sein, der Mensch ist es nicht. Dumm, möchte raffiniert sein, stellt sich dumm an. Berechnend, geizig, quält Frau und Sohn. Wirkt auf uns beinahe erdrückend mit seinen ewigen Forderungen nach ‚Praktischkeit‘. Er gehört zu denen, die alle Hintertüren kennen und doch nie Einlaß finden. Die Frau ist ein feiner, hilfsbereiter Mensch, aber der Preis für ihre Gesellschaft ist mit dem Ertragen seiner Anwesenheit zu hoch bezahlt.
[…]

Für Chemjo 11Chemjo Vinaver, Ehemann von Mascha Kaléko uns Musiker (1895–1973). müßten hier Möglichkeiten sein. Schwer ist es nur, durchzuhalten.

 

 

 

 

    Fußnoten

  • 1Chemjo Vinaver, Ehemann von Mascha Kaléko uns Musiker (1895–1973).
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach
Porträt-Fotografie von Mascha Kaléko, 1933 © Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.

In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.

Diesen Auschnitt aus ihrem Tagebuch, in dem Mascha Kaléko nach der Schilderung ihrer Flucht über Paris ihre ersten Eindrücke von New York rekapituliert, hat sie in hebräischen Buchstaben geschrieben.

 

 

 

 

Kaléko, Mascha, 1939: Tagebucheintrag vom 27.01.1939.

Veröffentlicht in:

Zoch-Westphal, Gisela, 1987: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Berlin: Arani. S. 101-104.

Übertragung aus hebräischen in lateinische Buchstaben: Hanna Frei-Liron.