Hier gibt es keine für europäische Studien gut ausgestattete Bibliothek; die internationale Verbindungen stockten; so daß ich auf fast alle Zeitschriften, auf die meisten neueren Untersuchungen, ja zuweilen selbst auf eine zuverlässige kritische Ausgabe meiner Texte verzichten mußte. Es ist daher möglich und sogar wahrscheinlich, daß mir manches entgangen ist, was ich hätte berücksichtigen müssen, und daß ich zuweilen etwas behaupte, was durch neuere Forschung widerlegt oder modifiziert worden ist. […] Mit dem Mangel an Fachliteratur und Zeitschriften hängt es auch zusammen, daß das Buch keine Anmerkungen enthält […]. Es ist übrigens sehr möglich, daß das Buch sein Zustandekommen eben dem Fehlen einer großen Fachbibliothek verdankt; hätte ich versuchen können, mich über alles zu informieren, was über so viele Gegenstände gearbeitet worden ist, so wäre ich vielleicht nicht mehr zum Schreiben gekommen.
Erich Auerbach war deutscher Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie für unzählige andere wurde seine Laufbahn in Deutschland aufgrund des am 7. April 1933 ratifizierten, rassistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,“ das sowohl auf die Entfernung jüdischer Beamter als auch auf die Entlassung politisch Andersdenkender zielte, vorzeitig beendet. Da bei ihm das sogenannte Frontkämpferprivileg griff und er zusätzlich 1934 sogar einen “Treueid deutscher Beamter” auf Adolf Hitler schwor, verlor er seinen Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Marburg “erst” Ende 1935. Mehr als absehbar kontaktierte er jedoch schon im Verlauf des Jahres 1935 Kollegen in Italien, England und anderen Orten, um eine Anschlussstelle, selbst weit unter dem Rang des Professors, zu finden. Dank der Vermittlung der 1933 gegründeten konfessionsübergreifenden und antirassistischen Selbsthilfeorganisation “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland,” die ab 1933 schwerpunktmäßig in die Türkei vermittelte, folgte er schließlich dem Ruf an die İstanbul Üniversitesi. Letztere war 1933 im Rahmen des kemalistischen Westernisierungs- und Modernisierungsprogramms gegründet worden und hatte u.a. die Anwerbung von Expert:innen zur Aufgabe. Auf diesem Wege emigrierten mehrere hundert deutsche Intellektuelle und ihre Familien den Auerbachs gleich in die Türkei, vor allem in die städtische Zentren Istanbul und Ankara, und wurden dort in die Arbeit der Universitäten und Ministerien eingebunden. Da Auerbachs Hoffnung auf eine Rückkehr auf den Lehrstuhl einer deutschen Universität unerfüllt blieb, emigrierte er 1947 von der Türkei in die USA, wo er seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte.
Er zählt noch heute zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches. Sein in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenes Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur gehört zu den grundlegenden Werken der deutschen Romanistik. Fußnotenlos umgibt die Studie heute eine Art Mythos. Sie ist auch das Produkt eines Paradoxes: Auerbach benötigte händeringend eine Fachbibliothek in Istanbul; vollendete Mimesis aber gerade aufgrund des Mangels an Fachliteratur. Kurzum ist dieses monumentale Werk der Stadt am Bosporus zu verdanken – nicht nur, aber insbesondere auch, weil Auerbach hier den Holocaust überlebte. Dass die wissenschaftliche Disziplin ausgerechnet der Komparatistik von einem Geflüchteten in der Metropole am Übergang zwischen Europa und Asien begründet worden sein soll, ist überaus bedeutend wie symbolträchtig.
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen: A. Francke Verlag, 2015. S. 518.