Nacibullahs Probleme ohne Papiere und Aufenthaltsstatus in Istanbul
Nacibullah ist als 16-Jähriger im Jahr 2018 ohne seine Familie aus Afghanistan in die Türkei gekommen. In diesem Interviewabschnitt beschreibt er die Probleme, die ihm dadurch entstehen, ohne Papiere und Aufenthaltsstatus in der Türkei zu sein: Dies betrifft die Wohnungssuche, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und die Freizügigkeit im Land, aber auch andere Diskriminierungsformen.
Ich lebe seit etwa ein bis anderthalb Jahren in Istanbul. Am Anfang hatten wir viel zu leiden; ich konnte keine Arbeit finden. Wir gingen hin und fragten nach Arbeit, und dann arbeiteten wir zwei oder drei Tage oder vielleicht vier Tage, aber dann wurden wir gebeten zu kündigen. Das war extrem schwierig. Ein weiteres Problem war, dass wir keine Wohnung zur Miete finden konnten. Die Tatsache, dass wir auf illegalem Wege hierher gekommen sind, hatte zur Folge, dass wir keine Papiere wie Reisepass, Visum oder Aufenthaltsgenehmigung hatten. Die Vermieter wollten ihre Wohnungen nicht an uns vermieten, da wir keine Papiere hatten. Im Laufe der Zeit haben wir dann mit Hilfe türkischer Freund*innen nach und nach Stadtteile entdeckt. Und jetzt überleben wir.
Wir haben uns nicht angemeldet und haben keine Aufenthaltsgenehmigung. Für eine Aufenthaltsgenehmigung braucht man eine Menge Geld, und so viel Geld habe ich nicht. Andererseits ist es nicht möglich, in andere Städte zu fahren, weil die Busunternehmen ohne Pass oder Papiere keine Fahrkarten ausstellen. Und der Transport mit dem eigenen Auto ist sehr teuer. Ich kann nicht gehen. […]
Abgesehen davon, dass ich mit der Wohnungssuche konfrontiert war, konnten wir, als ich in Istanbul ankam, keinen richtigen Arbeitgeber finden, der mich wie versprochen bezahlte. Ich habe an irgendeinem Ort gearbeitet und dann hat er uns nicht bezahlt. Es kam sogar vor, dass wir Überstunden gemacht haben, aber sie haben uns nicht bezahlt.
[…] Manchmal kommt es vor, dass ich mich an meinem Arbeitsplatz wie ein Fremder fühle, während ich in Istanbul lebe. Es gibt zum Beispiel türkische Freunde, die die gleiche Arbeit machen wie wir, aber sie werden anders behandelt. Wir werden anders behandelt. Manchmal passiert das, aber ich komme trotzdem darüber hinweg. Ich glaube, ich habe mich an diese unterschiedliche Behandlung gewöhnt, seit ich hierher gekommen bin. […] Zum Beispiel machen wir unsere Teepausen genauso wie die türkischen Freunde bei der Arbeit. Aber wenn wir unsere Teepause machen, werden wir anders behandelt, nur weil wir keine Aufenthaltsgenehmigung haben, und die türkischen Freunde werden bei ihren Teepausen anders behandelt. Ein anderes Beispiel: Wenn die Arbeitszeit vorbei ist, gehen die Türken nach Hause. Das ist bei uns aber nicht der Fall. […] Wir werden schlechter bezahlt als unsere türkischen Freunde.
[…] Eines Tages, als wir bei der Arbeit waren, kamen einige Freunde. Es waren unbekannte Gesichter unter ihnen, Freunde von Freunden. Sie sagten zu uns: „Schaut euch die an! Sie sind hierher gekommen und haben uns die Arbeit gestohlen. Und wir können keine Arbeit finden, um zu arbeiten.“ Nachdem ich verstanden hatte, was sie sagten, war ich sehr traurig und dachte: „Wenn es in meinem Herkunftsland keinen Krieg gegeben hätte, dann würde ich natürlich in meinem Land sein und arbeiten.“ Egal ob mehr oder weniger, ich würde in meinem Land bleiben und arbeiten, wenn es keinen Krieg gäbe.
[…] Ich bin hier, um meine Familie in Afghanistan finanziell zu unterstützen. Ich war mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert: Diskriminierung, keine Bezahlung, aber ich habe mich damit abgefunden und bin trotzdem hier geblieben. Ich ertrage das alles, weil es mir reicht, um meine Familie zu unterstützen.
Nacibullah hat als 16-Jähriger im Jahr 2018 ohne seine Familie aus existenzieller wirtschaftlicher Not und wegen des Krieges Afghanistan verlassen. Nachdem er kurze Zeit in Konya lebte, entschied er sich wegen der zahlreichen Arbeitsmöglichkeiten für ein Leben in Istanbul. Mittlerweile arbeitet Nacibullah wie viele andere afghanische und andere Migrant*innen in der Türkei in einem irregulären Arbeitsverhältnis mit körperlich schwerer Arbeit, geringer Entlohnung und Benachteiligungen gegenüber nichttürkischen Mitarbeitenden, in seinem Fall in der Automobilindustrie. Dass er irregular in die Türkei gekommen ist und ohne Papiere und Aufenthaltsstatus dort lebt, führt nicht nur zu prekären Arbeitsverhältnissen, sondern auch zu Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, keinen Schutzmöglichkeiten vor Diskriminierungen und Einschränkungen in der Freizügigkeit. Wie Nacibullah führen auch viele andere Zwangsmigrant*innen aus Afghanistan in Istanbul ein prekäres Schattendasein. Sie bleiben, unter anderem wegen der Angst vor einer Abschiebung oder anderen rechtlichen Problemen aufgrund ihres irregulären Aufenthalts, oft auch zivilgesellschaftlichen und organisatorischen Unterstützungsstrukturen verborgen. 11Zur Situation von Afghan*innen in Istanbul siehe u. a. GAR, 2021: Ghosts of Istanbul. Afghans at the Margins of Society. https://www.gocarastirmalaridernegi.org/attachments/article/193/GHOSTS%20OF%20ISTANBUL%20N.pdf (22.07.2021).
Für viele Zwangsmigrant*innen in der Türkei ist es trotz theoretisch bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen schwierig, sich registrieren zu lassen und damit zum Beispiel eine Arbeitserlaubnis zu behalten. Darüber sprach in einem Interview mit dem We Refugees Archiv die Anwältin Esin B..
Fußnoten
1Zur Situation von Afghan*innen in Istanbul siehe u. a. GAR, 2021: Ghosts of Istanbul. Afghans at the Margins of Society. https://www.gocarastirmalaridernegi.org/attachments/article/193/GHOSTS%20OF%20ISTANBUL%20N.pdf (22.07.2021).
Das Interview wurde von Elif Yenigun im Auftrag des We Refugees Archivs im April 2021 online auf Persisch und Türkisch geführt.