In den meisten Fällen bestand die einzige offizielle Berührung mit dem Generalkonsulat während der ersten fünf, sechs Jahre darin, daß man sich dort seinen Paß erneuern ließ. Das brachte längere Zeit keinerlei Schwierigkeiten mit sich. Dann aber wurde die Lage für viele von uns immer prekärer. Das zeigte sich unter anderem darin, daß wir mit Schreiben vom 30. Mai 1938 vom deutschen Generalkonsulat in Istanbul auf Veranlassung des Auswärtigen Amts einen Fragebogen erhielten, in dem Auskunft nicht nur über den Beginn unseres Vertrags mit der türkischen Regierung, sondern auch darüber verlangt wurde, ob man selbst und/oder seine Ehefrau „Arier“ sei oder aber Jude bzw. „nichtarisch versippt“.
Damals begann jener Druck, der sich bis zu dem Zeitpunkt verstärkte, wo auf Anraten des Chefs der eidgenössischen Fremdenpolizei, Dr. Heinrich Rothmund, die deutschen Pässe, deren Inhaber nach nationalsozialistischen Standards Juden waren, mit einem großen roten „J“ gestempelt wurden. Das war jedoch nur die Einleitung zu weiteren schärferen Maßnahmen, und so erfuhr ich eines Tages – nicht offiziell, sondern auf dem Wege über einen deutschen, in der Schweiz lebenden Bekannten, der die betreffende Nachricht zufällig im „Reichsanzeiger“ Nr. 161 vom 12. Juli 1940 gelesen hatte –, daß ich samt Frau und Kindern ohne irgendeine Begründung ausgebürgert worden war: durch eine Bekanntmachung des Reichsinnenministers „unter Beschlagnahme meines Vermögens“ (in Wirklichkeit des kleinen in Deutschland blockierten Guthabens meiner Frau, da ich selbst keinerlei Vermögenswerte besaß). Die globale Ausbürgerung aller „nichtarischen“ deutschen Staatsbürger erfolgte erst einige Zeit später; warum ich noch individuell dieser Ehre teilhaftig wurde, ist mir nicht bekannt geworden. Wie dem auch sei, wir und viele andere waren nunmehr paßlos, und das war nicht zuletzt im Hinblick auf den Krieg, der bereits begonnen hatte, eine alles andere denn angenehme Situation, ganz abgesehen von dem tiefen Schmerz, den meine Frau und ich angesichts der Tatsache empfanden, von dem trotz allem als Heimat angesehenen Land formell ausgestoßen worden zu sein. Daß uns die türkische Regierung auch in der paßlosen Zeit keinerlei Schwierigkeiten bereitete, vielmehr uns in großzügiger Weise half, jene Frist zu überstehen, sei hier mit besonderer Dankbarkeit hervorgehoben.
Fritz Neumark war ein deutsch-jüdischer Finanzwissenschaftler und in den Jahren 1954/55 und 1961/62 Rektor der Universität Frankfurt.
Im Frühjahr 1933 verlor Fritz Neumark aufgrund seiner jüdischen Herkunft seine Professur an der Universität Frankfurt. Im September 1933 emigrierte er mit seiner Frau und den beiden Kindern, die zwei und vier Jahre alt waren, in die Türkei. Durch Vermittlung der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland konnte er an der Universität Istanbul eine Professur im Fachgebiet Sozialhygiene und Statistik antreten. Unter dem damaligen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk waren deutsche Wissenschaftler:innen dort willkommen. Mit ihrem Fachwissen sollten insbesondere Wissenschaftler:innen bei der Entwicklung und Modernisierung der Türkei mitwirken.
Er gewöhnte sich rasch ein und lernte schnell Türkisch. Das ermöglichte ihm einen intensiven Kontakt zu seinen Studierenden. Fritz Neumark gab bald eine wirtschaftswissenschaftliche Fachzeitschrift heraus und schrieb zahlreiche Fachpublikationen. Nach Kriegsende blieb Fritz Neumark zunächst in der Türkei und leitete ab 1946 das neugegründete finanzwissenschaftliche Institut der Universität Istanbul. Er beriet die türkische Regierung und die Zentralbank und war an der Reform des türkischen Steuersystems beteiligt. Als er 1949 einen Ruf an die Universität Frankfurt erhielt, nahm er diesen zunächst nur als Gast wahr. 1952 entschloss er sich, dauerhaft nach Deutschland zurückzukehren. Die deutsche Staatsbürgerschaft nahm er, neben der türkischen, erst 1954 wieder an.
Ab 1933 lud die Türkei spezialisierte Fachkräfte sowie Angehörige wissenschaftlicher und künstlerischer Berufe aus Deutschland zur Einwanderung ein. Sie sollten bei der Entwicklung des wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens mitwirken. Viele erhielten leitende Positionen, etwa in Ministerien oder an Hochschulen. An der Universität Istanbul waren bis Mitte der 1940er Jahre über die Hälfte der Lehrstühle mit Exilierten besetzt. Sie gaben ihr fachliches und institutionelles Wissen weiter und erhielten dafür ein Spezialistengehalt. Zu den Vertragsbedingungen gehörte aber auch das schnelle Erlernen der Sprache, um bald auf Türkisch unterrichten und publizieren zu können. Politische Betätigung war den Emigrierten verboten.
Neumark, Fritz, Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933–1953. Frankfurt am Main: Verlag Josef Knecht 1980, S. 182-183.