Fatima D. über ihre Flucht

Fatima D. berichtet über ihre Flucht durch die Wüste.

 

Fatima D., Palermo 2019 © Minor

Ich verstehe dort viele Wörter. Ich verstehe ein bisschen Französisch. Ich bin dort das einzige Mädchen. Die meisten von ihnen sind 27, aber auch 15, 16, 17, 18 …. Aber es sind zu viele. Sie sagen ‚fatigué‘. Und ich denke mir: Vielleicht ist Fati ein Name und Gué ist ein Nachname. Worüber sprechen sie? Das ist ein Name und ein Nachname? Ich habe schließlich verstanden, was es heißt, weil ich das Wort tausend Mal gehört habe. […] Auch ich bin müde, aber irgendwie bringt es mich zum Lachen. Einige versuchen, mich zu beschützen, aber andere versuchen, du weißt schon, es selbst gut abzupassen.

Wenn sie mich schubsten, sagten sie: „Stop, Stop! Benehmt euch, da ist ein junges Mädchen hinter euch, Jungs. Wollt ihr dieses kleine Mädchen umbringen? Ihr könnt das nicht tun, sie ist ein kleines Mädchen. Und ihr macht ihr Angst.” Aber ein anderer sagt: „Wir sind hier alle gleich. Wir sterben alle. Es gibt keine Bäume. Da ist nur die Sonne. Wir alle sterben. Du kannst nichts essen, es gibt kein Essen.”

Und alle waren so hässlich, denn du konntest dich ja nicht waschen. Und deine Haarfarbe hat sich verändert. Es war lustig, weißt du, oh mein Gott!

Ich erinnere mich an diese 200 Männer, ich bin das einzige Mädchen. Die Soldaten wollten ihren Vorteil aus mir ziehen, mich schlagen, damit ich ihnen das ganze Geld gebe und jeder von ihnen 200 Euro bekommt. Seit sie mich gesehen haben, waren sie total glücklich. Ich sehe die Reaktion in ihren Gesichtern und denke mir: „Ich bin tot. Mein Leben ist vorbei. Und sie kommen einfach zu mir. Wenn sie mich schlagen, werde ich sterben. Ich habe keine Kraft, ich esse nichts, ich werde sterben.“

Interview mit Fatima D. in Palermo, 12. Juni 2019

Übersetzung aus dem Englischen © Minor Kontor

Fatima D. kommt aus Gambia und ist im Mai 2017 in Sizilien angekommen. Sie gehörte zu den vielen minderjährigen Geflüchteten, die ohne Begleitung ihrer erwachsenen Familienangehörigen auf der Flucht sind. Im Jahr 2018 waren es nach Angabe von Unicef 12.700 Kinder, die unbegleitet nach Europa kamen. 11Unicef: Latest Statistics and Graphics on Refugee and Migrant Children. https://www.unicef.org/eca/emergencies/latest-statistics-and-graphics-refugee-and-migrant-children (09.09.2019).

In diesem Interviewausschnitt erzählt sie von ihrer Flucht durch die Wüste, von Bedrohung durch sexuelle Gewalt, Müdigkeit, Hunger und Erschöpfung und von der Mutlosigkeit, die die Bedingungen der Flucht in ihr auslösten.

Die Flucht durch die Sahel-Sahara-Zone und über das Mittelmeer ist extrem gefährlich und endet für viele Menschen tödlich. Die Anzahl derjenigen, die in der Wüste ihr Leben verlieren, ist nicht bekannt, übersteigt vermutlich jedoch die derer, die im Mittelmeer ertrinken. Viele der Geflüchteten, die diese Route auf sich nehmen, bleiben in Libyen oder Algerien und kommen nicht bis nach Europa. 22Bachmann, Anna-Theresa: Eurpas Grenze in der Sahelzone, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, https://www.rosalux.de/publikation/id/40043/europas-grenze-in-der-sahelzone/ (24.01.2020).

Auch deshalb ist die Zahl derjenigen, die auf dem Seeweg nach Europa kommen, besser dokumentiert. Im Jahr 2019 wurden vom UNHCR bis Anfang November 79.889 Menschen gezählt, die über das Mittelmeer kamen. Das ist eine kleinere Zahl als in den vergangenen Jahren. In 1.089 Fällen wurde dokumentiert, das Menschen dabei ihr Leben verloren. Die Todesfälle von Geflüchteten auf dem Mittelmeer und an anderen Orten werden seit 1993 von UNITED for International Action dokumentiert, in vielen Fällen bleibt das Schicksal von Menschen, die auf der Flucht zu Tode kommen, jedoch unbekannt. Bis Juni wurden 2019 rund 22.800 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Mit 11.418 Menschen wurde ein Großteil von ihnen nach Italien gebracht. Die staatliche Seenotrettung wurde in den letzten Jahren stark eingeschränkt. Private Seenotrettungen wie z. B. Sea-Watch, Mission Lifeline und SOS Méditerranée versuchen, diese Lücke zu füllen und so viele Menschen wie möglich zu retten, deren Leben weiterhin bei der Mittelmeerüberquerung bedroht ist. 33Alle Zahlen und Informationen stammen vom UNHCR Deutschland: FAQ Seenotrettung, in: UNHCR Deutschland Webseite, 2019: https://www.unhcr.org/dach/de/services/faq/faq-seenotrettung#01 (26.11.2019).

Fatima lebt heute in Palermo, wo sie zur Schule geht und das Konservatorium besucht. Sie träumt davon, Sängerin und Musikerin zu werden. Ein Filmteam von We Refugees Archiv hat sie durch ihr Palermo begleitet. Daraus entstand der Film „Fatima: Next Level Bad Girl“.

    Fußnoten

  • 1Unicef: Latest Statistics and Graphics on Refugee and Migrant Children. https://www.unicef.org/eca/emergencies/latest-statistics-and-graphics-refugee-and-migrant-children (09.09.2019).
  • 2Bachmann, Anna-Theresa: Eurpas Grenze in der Sahelzone, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2019, https://www.rosalux.de/publikation/id/40043/europas-grenze-in-der-sahelzone/ (24.01.2020).
  • 3Alle Zahlen und Informationen stammen vom UNHCR Deutschland: FAQ Seenotrettung, in: UNHCR Deutschland Webseite, 2019: https://www.unhcr.org/dach/de/services/faq/faq-seenotrettung#01 (26.11.2019).

Wie entstanden die Selbstzeugnisse, Filme und Filmfragmente in Palermo?

Diawara B. und Diallo S. von Giocherenda gestalteten mit den Teilnehmenden Glory M., Fatima D., Ismail A., Kadijatu J., Marrie S. und Mustapha F. einen dreitägigen Workshop, indem es um ihre eigenen Erfahrungen in Palermo ging. Mit verschiedenen Ansätzen und Spielen konnten in der Gruppe persönliche Erfahrungen ausgetauscht und vor der Kamera des We Refugees Archiv Filmteam in der Black Box erzählt werden. Fatima D., Ismail A. und Mustapha F. erklärten sich bereit, außerhalb des Workshops von Giocherenda mit dem We Refugees Archiv Filmteam Kurzfilme über ihr Leben und ihre Themen in der Stadt zu drehen.

Giocherenda ist eine professionelle Organisation von und mit jungen Geflüchteten in Palermo, die Spiele zum Storytelling anbietet. Es geht im Ansatz nicht darum Geflüchteten zu helfen und zu unterstützen, sondern ausdrücklich um den umgekehrten Ansatz: Geflüchtete helfen Europäer*innen im gemeinsamen Zusammensein und Erfahrungsaustausch.

Giocherenda kommt aus der afrikanischen Sprache Pular und bedeutet Solidarität, aber auch Interdependenz and Stärke, die aus der Zusammenkunft der Menschen entsteht. Es ähnelt dem italienischen Wort ‚Giocare‘ (Spielen), das das Kollektiv dazu inspirierte, Spiele zu entwickeln, die Erzählungen erzeugen und persönliche Erinnerungen teilen können.

Perspektive der Geflüchteten

Es wurde bewusst auf ein Drehbuch oder standardisierte Fragen in den filmischen Interviews verzichtet. Es ging allein um die Perspektive der Geflüchteten und die Themen, über die sie sprechen wollten. Einzige Vorgabe des Workshops war ein grober inhaltlicher Rahmen zu ihren Lebenserfahrungen in Palermo und ihren Visionen in naher Zukunft. Entsprechend konnten die Teilnehmenden frei entscheiden, was sie thematisieren und über welche Eindrücke, Probleme und Perspektiven sie sprechen wollten. Dass einige von ihnen dennoch über ihre Fluchterfahrungen nach Europa sprachen, beruhte also nicht auf einer Workshopvorgabe, sondern allein auf ihrer eigenen Entscheidung.