Flucht, Rassismus und Recht auf Stadt – ein Kommentar

Noa Ha, DEZIM Berlin

 

Die Logik der Grenzsicherung ist nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch innerhalb europäischer Städte zu beobachten: Ihr folgen massive Polizeieinsätze bei Protesten im öffentlichen Stadtraum, die Unterbringung in Sammelunterkünften, die (abgeschaffte und wieder eingeführte) Residenzpflicht und das sogenannte Racial Profiling. Diese Grenzsicherungen produzieren mitten in den Städten einen lebensgefährlichen Rand. Ein Rand, der im Sommer 2014 deutlich über Berlin hing, als Geflüchtete drohten bei Räumung der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule als letztmögliche Form des Widerstands vom Dach zu springen. Das hohe Polizeiaufgebot riegelte während dieses Einsatzes für acht Tage eine ganze, umliegende Nachbarschaft in Berlin-Kreuzberg ab und kontrollierte so auch den Zutritt zu anliegenden Wohnungen. Dieser polizeilichen Praxis stellte sich ein langanhaltender Protest gegenüber: Eine solidarische Nachbarschaft, politische Initiativen wie das Bündnis «Zwangsräumung verhindern» oder antirassistische Gruppen.

An den lebensgefährlichen Rändern bewegen sich nicht nur die widerständigen, politisch aktiven, sondern alle geflüchteten Menschen. Innerhalb eines Jahres hat Deutschland zwei Asylpakete verabschiedet, die weniger darauf abzielen Geflüchteten Schutz zu gewähren, sondern eher sie zu kriminalisieren: Obwohl nach den selbstorganisierten Protesten der Geflüchteten aus den Jahren 2012 bis 2014 einige Bundesländer die Residenzpflicht abschafften, tritt sie nun wieder in der neuen Asylgesetzgebung auf. Auch die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten und die Dauer der Aufenthaltspflicht in den Sammelunterkünften verlängern sich. Legitimiert durch die Asylgesetzgebungen verschärft sich der prekäre Status von Geflüchteten. Gesetzgebungen, die in Zeiten der gesellschaftlichen Krise verabschiedet wurden. Eine oftmals unreflektierte, rassistisch-diskriminierende und emotionalisierende Berichterstattungen erhält den Status quo der „Krise“ aufrecht: Mit Berichten von kriminellen Handlungen der Geflüchteten, und von den kaum zu bewältigenden Herausforderungen, diesen Menschen eine Obhut, eine Arbeit, eine Schule und eine Perspektive zu geben. Demgegenüber gibt es kaum eine gesellschaftliche Empörung über die ansteigende, offene rassistische Gewalt gegenüber Sammelunterkünften und Geflüchteten im öffentlichen Raum. Vermutlich sind diejenigen, die sich empören könnten, so sehr in die ehrenamtliche Bewältigung von Notsituationen eingebunden, dass sie kaum noch öffentlich Stellung beziehen können. Anderen bleibt möglicherweise „bei dem vielen, was passiert, was gesagt wird, einfach die Luft weg. Und ohne Luft zu sprechen, ist nicht ganz so einfach.“ Wie der Oldenburger Migrationssoziologie Paul Mecheril sein eigenes Empfinden formuliert angesichts der rassistischen Kommunikation in den Medien.

Gerade seit Silvester 2015 hat sich der gesellschaftliche Diskurs einer Scheinheiligkeit hingegeben, die die Aufforderung der Kanzlerin „Wir schaffen das!“ hinter sich lässt. Seit Monaten werden in Berlin Sporthallen umgenutzt, der frühere Flughafen Tempelhof soll als Massenunterkunft mit Zeltlagern hergerichtet werden: Während alle Beteiligten wissen, dass diese Notunterkünfte zu äußerst prekären Wohnverhältnissen führen, müssen sie dann dennoch für eine jahrelange Improvisationslösung herhalten. Wie gestaltet sich so zukünftig ein gemeinsames Leben in den Städten Europas? Die scheinbar gewollte Improvisation für eine kurzzeitige Unterbringung blendet dies aus. Es ist, als würden wir zusehen, wie wir gegen eine Betonwand brettern, in eine gesellschaftliche Spaltung hinein. So wird eine soziale Schieflage manifestiert, die sich in den kommenden Jahren als handfester Konflikt artikulieren wird, sei es als benachteiligte Stadtquartiere oder als benachteiligte Schulen, die kaum Perspektiven für die ankommenden Menschen und ihren Nachkommen bieten. Dabei gibt es in diesem Land genug Erfahrungen mit Flucht und Migration, die jetzt genutzt werden könnten. Denn es ist nicht der erste Sommer der Migration nach Deutschland. So brachten etwa die Kriege in Ex-Jugoslawien, die zwischenstaatlichen Verträge zu sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen, aber auch die Kolonialherrschaft Menschen ins Land. Die Erfahrungen bündeln sich in den vielfältigen Selbstorganisationen von Migrant*innen. Sie setzen sich seit Jahrzehnten für ein interkulturelles Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland ein. Sehr konkret fördern sie in ehrenamtlicher Arbeit die Chancengerechtigkeit für ankommende Menschen und deren Nachfahren, wenn sie ehrenamtliche und rechtsanwaltliche Beratungen, Nachhilfe und muttersprachlichen Unterricht u.v.m. anbieten. Doch zuerst müssten den ankommenden geflüchteten Menschen langfristige Perspektive eröffnet werden – das Gefühl sich niederlassen und einrichten zu dürfen, weil ihnen Schutz gewährt wird. Dafür braucht es Wohnungen und den Abbau von Hürden in Bildungs- und Arbeitsfelder.

Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist sowohl eine Katastrophe für die geflüchteten Menschen als auch eine Krise der Europäischen Union und ihrer solidarischen Werte, wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Rund um die „Flüchtlingskrise“ artikuliert sich sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die über Fragen der Versorgung hinausgehen und solche von nationaler Identität und Gemeinschaft betreffen. Um diese Auseinandersetzung und die institutionellen Logiken zu begreifen, ist es notwendig, diese aus einer rassismuskritischen Perspektive zu befragen. Rassismus ist bis heute eine gesellschaftliche Realität, hervorgegangen aus den kolonialen Verstrickungen Deutschlands. Es ist in Deutschland weit verbreitet, Rassismus als ein individuelles Problem von Vorurteilen und Ängsten, und eben nicht als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit zu verstehen. Ein breiteres Verständnis von Rassismus gibt etwa der Macpherson Report. Als der Report 1999 in Großbritannien erscheint, definiert er als institutionellen Rassismus das „kollektive Versagen einer Organisation, angemessene und professionelle Dienstleistungen für Personen wegen ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft anzubieten“. Und weiter heißt es hier: „Abwertende Einstellungen und Handlungsweisen tragen zur Diskriminierung und der Benachteiligung Angehöriger ethnischer Minderheiten bei. Dies erfolgt unwissentlich durch Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypisierungen.“ Dieser institutionelle Rassismus betrifft ebenso deutsche Institutionen. So wirken über gesetzliche Grundlagen rassistische Ideen bis in das lokale Handeln in Stadtpolitik und -entwicklung fort.

Welchen konkreten Formen des institutionellen Rassismus sind Geflüchtete also im städtischen Raum in Deutschland ausgesetzt? Sehr deutlich werden die rassifizierten gesellschaftlichen Verhältnisse bei dem schon genannten Racial Profiling. Diese polizeiliche Methode zielt darauf ab, bestimmte Körper als verdächtig zu begreifen und ihnen zu unterstellen, dass sie z.B. undokumentiert reisen oder andere Verdachtsmomente wie Terrorismus, Drogenverkauf, etc. verkörpern. Unter diesem Verdachtsmoment geraten sie unter Kontrolle. Der Verdacht beruht hier auf der Deutung körperlicher Merkmale wie Haut- und Haarfarbe, nicht aber auf handlungsbezogenen Indizien. Dies führt dazu, dass Schwarze Menschen in Deutschland – egal welcher Staatsbürgerschaft – um ein Vielfaches mehr von Verdächtigungen und Ausweiskontrollen im öffentlichen Raum betroffen sind. Die Logik von Racial Profiling – von der die Polizei behauptet, dass es sie nicht gibt – kriminalisiert die Körper derjenigen, die als nicht dazugehörig betrachtet werden. Sie verfestigt die Grenzsicherung. Diese „innere“ Grenzsicherung hat Auswirkungen darauf, wer schon in der Stadt ist, wenn die gesetzliche Regulierung von Flucht und Asyl den Zugang zur Stadt verhindern will.

Gerade aus dieser Perspektive stellt sich die Frage: Wo sind eigentlich die Geflüchteten? Sind sie in den Städten, oder in gefängnisähnlichen Lagerstrukturen in den Peripherien? Diese Fragen stellen sich auch für die Formulierung eines Rechts auf Stadt, eine von Henri Lefèbvre neo-marxistisch inspirierte Parole. Sie verbindet in vielen Städten diejenigen Bewegungen, die sich gegen Verdrängung und Verwertung von städtischem Raum wenden. Auch Geflüchteten steht ein Recht auf Stadt zu. Sonst beschränkt sich die Perspektive der Bewegungen auf diejenigen, die als dazugehörig verstanden werden. Ihre Forderungen, wie zum Beispiel in der Mieten- oder Wohnungspolitik, stünden im Zentrum. Insofern würde das Recht auf Stadt auf einen Widerstand gegen unternehmerische Wohnungspolitik reduziert werden, eine rassismuskritische Analyse eines breiter gedachten Rechts auf Stadt bliebe aber ausgeklammert. Daher plädiere ich dafür, Aufenthaltspolitiken zu analysieren und mit einem Recht auf Stadt zu verbinden, um zu fragen: Wem wird der Zugang zu städtischen Infrastrukturen aus einem institutionellen Rassismus heraus verweigert?

Diese Überlegungen öffnen das Recht auf Stadt: So ist es nicht mehr nur ein Gegenentwurf zu einer verwertungsorientierten Stadtentwicklungspolitik, sondern bietet auch einen Gegenentwurf zum derzeit geltenden Aufenthaltsrecht, das an Fragen von Staatsbürgerschaft und nationalen Rechten geknüpft ist. Stadtpolitik kann auf solche nationalen Gesetze keine direkten Antworten liefern. Dennoch bietet die lokale, städtische Ebene Potentiale zur Veränderung: Denn hier, am konkreten Ort, können neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens erprobt und alte herausgefordert werden; hier können langfristige Perspektiven entstehen. Hier können geflüchtete Menschen im leerstehenden Bestand untergebracht werden, in handwerklichen Betrieben beschäftigt, in städtischen Universitäten ausgebildet und Kinder in gemeinsamen Klassen beschult werden.

Denn die lebensgefährlichen Ränder und eine permanente Grenzsicherung in den Zentren deutscher Städte erfordern den gesamtgesellschaftlichen Einsatz sowohl gegen rassistisches Handeln als auch für ein demokratisches Miteinander im interkulturellen, städtischen Alltag.

Noa Ha: Flucht, Rassismus und Recht auf Stadt – ein Kommentar, veröffentlicht in: Beitrag für stadtaspekte, Februar 2016