The Arrival of Hannah Arendt
Dieser Film beschreibt das Ankommen von Hannah Arendt - einer jüdischen, deutsch-amerikanischen politischen Theoretikerin und Publizistin - in New York und ihre Reflektionen über Flucht und Unterstützung beim Neuanfang.
Dieser Beitrag basiert auf der Forschung des Leo Baeck Instituts in New York, die in die Online-Ausstellung “Refuge in the Heights” mündete und hier mit freundlicher Genehmigung des LBI und in teilweise abgewandelter oder erweiterter Form reproduziert wird:11Darüberhinaus hilfreich war insbesondere: Loro Gemeiner Bihler, Cities of Refuge: German Jews in London and New York, 1935–1945 (Albany: SUNY Press, 2018).
Bis sich der Name Washington Heights um 1870 durchgesetzt hatte, war das Gebiet die Heimat des Stammes der Wiechquaesgeck und später die Hochebene, von der aus George Washington während des amerikanischen Revolutionskriegs den Norden Manhattans verteidigte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begriffen wohlhabende New Yorker:innen die bisher sehr ländlichen Heights als Alternative zum Moloch der Innenstadt und begannen, hier Wohnhäuser zu bauen. Die U-Bahnerschließung 1904 bis zur 157. Straße hatte eine rapide Immobilienentwicklung zur Folge und brachte in großer Zahl unterschiedliche neue Bewohner:innen – darunter Armenier:innen, Ir:innen, osteuropäische Jüdinnen:Juden sowie Griech:innen – in die Heights. Und obwohl diese Gruppen alle in unmittelbarer Nähe zueinander lebten, lebten sie in vielerlei Hinsicht auch in Parallelwelten – vom Straßengitter Manhattans getrennt. Mit der nördlichen Erweiterung des U-Bahn-Netzes im Jahr 1932 wurden Washington Heights und Inwood noch besser erreichbar und zu einem beliebten Ziel, insbesondere auch wegen der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Mietwohnungen. Für jüngere Mieter:innen gab es Angebote für ein Zimmer mit Verpflegung. Familien konnten aus einer der vielen verfügbaren Wohnungen in den Heights auswählen.
In den 1930er, 1940er und 1950er Jahren lebte in Washington Heights eine Vielzahl ethnischer Gruppen, davon waren schon Ende der 1930er Jahre etwa 37 Prozent der Einwohner:innen jüdisch, zumeist deutschsprachig. Die deutschsprachige New Yorker Zeitung Aufbau, die 1934 als zwölfseitiges, monatliches Mitteilungsblatt des New World Club deutsch-jüdischer Einwanderer:innen und Geflüchteter, die in der Upper West Side lebten, begann,22Peter Schrag, The World of Aufbau: Hitler’s Refugees in America (Madison: The University of Wisconsin Press, 2019). veröffentlichte wöchentlich Wohnungsanzeigen, die eine Reihe von Preisklassen und Lagen aufzeigten. Ab 1940 erschien zweimal wöchentlich in Washington Heights eine alternative deutschsprachige Zeitung, The Jewish Way, die sich im Gegensatz zum literarisch geprägten Aufbau stärker auf „jüdischen Glauben, jüdische Ehre, jüdische Rechte und die jüdische Zukunft“ konzentrierte. Auch sie war eine gute Quelle für den Wohnungsmarkt und das aufblühende Kulturleben.
Deutsch-jüdische Neuankömmlinge siedelten sich im Allgemeinen westlich des Broadway an, insbesondere entlang der Fort Washington Avenue, die von Außenstehenden manchmal als „The Fourth Reich“ bezeichnet wurde. Interethnische Vorurteile, Antisemitismus, Vandalismus, Mobbing und Feindseligkeit waren Teil des Lebens in den Heights, während man gleichzeitig versuchte, sich in New York auf die eine oder andere Weise ein neues Leben aufzubauen.
Meine Eltern hatten mich sehr gut ausgestattet, mit vielen Sachen. Aber die Sachen waren deutsch, das heißt, ich hatte einen Regenmantel, der aussah wie der eines Polizisten. Das war nicht das, was Kinder trugen… Ich hatte das Gefühl, dass ich dadurch so aussah, dass man mir sofort ansah, dass ich nicht von hier stammte… Die Farben der Kleidung waren anders und der amerikanische Stil war viel lockerer. Man musste keine Krawatte und keine Jacke und so weiter tragen. Als meine Eltern mich dann sahen, hatten sie das Gefühl, ich sei schlampig geworden. Ein Amerikaner trug ein Sweatshirt und eine Hose, und das war gut genug. Flüchtlinge gingen ins Kino und mussten sich mit einer Krawatte anziehen.33“My parents had outfitted me very well with lots of stuff. But the stuff was German which meant I had a raincoat that looked like a policeman’s. Now that wasn’t what kids wore… I felt it gave me an appearance that people could tell immediately that I wasn’t native born… The coloring of the clothes was different and American styles were much more relaxed. You didn’t have to wear a tie and jacket and everything. So when my parents saw me when they came, they felt I had become sloppy. An American wore a sweatshirt and a pair of pants and that was ood enough. Refugees went to the movies and had to dress with a tie.” Walter Baum, Interview with Loro Gemeiner Bihler, zitiert in: Loro Gemeiner Bihler, Cities of Refuge: German Jews in London and New York, 1935–1945 (Albany: SUNY Press, 2018), 74. Übersetzung ins German: We Refugees Archiv.
Der Broadway fungierte als Trennlinie zwischen beispielsweise irischen Geschäften auf der Ost- und jüdischen Geschäften auf der Westseite der Straße. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppen alternierte von distanziert bis konfrontativ – mal angeheizt durch den Wettbewerb um Wohnraum, dann durch sozioökonomische Unterschiede oder auch von der Stadtpolitik.
Einige deutschsprachig jüdische Geflüchtete kamen an und waren begierig, eine zweite Chance in Amerika zu ergreifen. Einst zur deutschen Mittelschicht gehörend, nahmen viele trotz Überqualifizierung vorerst manuelle Jobs an oder mussten neue amerikanische Qualifikationen erwerben, um arbeiten zu können. Viele Frauen traten zum ersten Mal ins Berufsleben ein, und andere sahen sich bei der Arbeitssuche offenem Antisemitismus ausgesetzt.
Ich glaube, die wahren Helden der frühen Kämpfe um ein wirtschaftliches Standbein waren die Frauen – umso bemerkenswerter, als die meisten von ihnen aus einem bürgerlichen Milieu stammten, in dem Ehefrauen oder erwachsene Töchter den Haushalt schmückten und möglicherweise organisierten, aber keine Hausarbeit verrichteten, und in dem die Ausbildung nur relativ wenige auf eine professionelle oder semiprofessionelle Tätigkeit vorbereitet hatte. Die Frauen verdingten sich als Hausangestellte, Köchinnen, Erzieherinnen, Kindergartenhelferinnen, Verkäuferinnen oder nutzten die in Hitlerdeutschland erworbenen Fähigkeiten, um Bäckereien oder Lampenschirmwerkstätten zu betreiben oder Avon-Produkte von Tür zu Tür zu verkaufen, während die Männer nach Möglichkeiten suchten, in das System einzusteigen. Und sie taten dies, ohne ihre Würde zu verlieren und in der Überzeugung, dass dieser Weg nur ein vorübergehendes Provisorium war, also kein Gefühl der sozialen Degradierung mit sich brachte. 44“I believe the real heroes of the early struggles for an economic foothold were the women – all the more remarkable since most of them came from a middle-class milieu where wives or grown daughters adorned and possibly organized the hoursehold but did not do household chores, and where education had prepared relatively few for professional or semi-professional work. The ladies hired themselves out as domestics, cooks, governesses, kindergarten assistants, sales clerks, or used the skills acquired in Hitler Germany to run bakeries or lampshade workshops, or sold Avon products door-to-door while the men were seeking ways to enter the system. And they were doing so without loss of dignity and in the conviction that this way only a temporary expedient, so it involved no sense of social degradation.” Leo Grebler, German-Jewish Immigrants to the United States during the Hitler Period: Personal Reminiscences and General Observations, YIVO (1976), 84. Übersetzung ins Deutsche: We Refugees Archiv.
Wieder andere waren erschöpft und zermürbt von den Monaten, gar Jahren der Verfolgung. Ein Verlust von Heimat, Gemeinschaft, Freundschaften, Arbeit, sozialem Status und Lebensart verband sie wohl alle, so dass die Verbindung mit Menschen aus der Heimat, das Aufrechterhalten von Traditionen sowie die Pflege der deutschen Sprache eine Priorität für viele war. Einige ließen sich sogar ihre Möbel aus Deutschland schicken.
Viele Familien benutzen immer noch die schweren deutschen Möbel, die sie in ihren Umzugskisten mitgebracht haben … Das Zentrum des traditionellen Wohnzimmers ist ein massiver Tisch mit geraden Stühlen drum herum; entlang einer Wand erstreckt sich das so genannte „Buffet“, ein zweistöckiger Schrank, in dem Wäsche, Porzellan und Silber aufbewahrt werden. In der oberen Hälfte, einer Glasvitrine, werden Krimskrams und kleine Antiquitäten ausgestellt. Ein Teil einer anderen Wand kann von einem fast deckenhohen Bücherregal eingenommen werden, wobei die Bücher durch eine verschlossene Glastür vor Staub und dem bloßen Betrachten geschützt sind … Wo es der Platz erlaubt, sind die riesigen deutschen Einzelbetten – jedes Bett fast so groß wie ein amerikanisches Doppelbett – im Schlafzimmer geblieben. Sie sehen zwar nicht mehr ganz zeitgemäß aus, aber sie sind zu bequem, um weggeworfen zu werden, und außerdem ist ein Schlafzimmer ohnehin nicht als Vorzeigeobjekt gedacht.55“Many families are still using the heavy German furniture they brought over in their packing crates… The center of the traditional living room is a massive table with straight-backed chairs around it; along one wall stretches the so-called “buffet,” a two-story cabinet used to store linen, china, and silver. In the top half, a glass showcase, knick-knacks and small antiques are exhibited. Part of another wall may then be taken up by a bookcase almost ceiling high, with the books protected from dust and the mere browser by a locked, glass-paneled door…. Where space permits, the vast German twin beds – each bed almost the size of an American double bed – have remained in the bedroom. They may not look very up to date, but they are too comfortable to be thrown out, and besides a bedroom is not meant to be a showplace anyway.” Ernest Stock, “Washington Heights’ ‘Fourth Reich,’” Commentary 11 (Juni 1951): 584–85. Übersetzung ins Deutsche: We Refugees Archiv.
In den Heights traf man auf vertraute Namen und Gesichter, auf deutschsprachige Geschäfte und Clubs sowie auf jüdische Einrichtungen, die von Menschen osteuropäischer Abstammung gegründet worden waren, die sich in den Jahren zuvor auf den Weg uptown gemacht hatten. Wie in allen anderen von We Refugees Archiv behandelten Städten war auch in New York das Erlernen und Beherrschen des Englischen eines der dringendsten Probleme für die ankommenden Einwanderer:innen und Geflüchteten. Es bestimmte die Berufsaussichten, das soziale Leben, den Status, die Wohnung und die Nachbarschaft. In der Öffentlichkeit auffällig Deutsch zu sprechen, war mit dem Stigma der Provinzialität behaftet, doch hielt insbesondere die ältere Generation an Geflüchteten am Deutschen auch in der Öffentlichkeit fest und konnten dies in den Kabaretts, Cafés, Gesellschafts- und Sportvereinen der Heights tun.
Viele der Geflüchteten, die nach Washington Heights zogen, waren junge, alleinstehende Erwachsene – zu alt, um noch zur High School zu gehen, aber mit langen Arbeitszeiten und ohne die Möglichkeit, sich mit amerikanischen Gleichaltrigen zu treffen. In den späten 1930er Jahren halfen ihnen Clubs, Partner:innen zu finden. In den frühen 1940er Jahren waren die meisten jungen Geflüchteten so schon verheiratet und hatten Familien gegründet, so dass die Bedeutung von religiösen Einrichtungen zunahm. Viele Geflüchtete kamen aus orthodoxen Gemeinden in Europa und behielten ihre religiösen Praktiken in Amerika bei. Sie zogen es jedoch vor, getrennt von den ostjüdischen Gemeinden mit ihren eigenen deutsch-jüdischen Minjanim 66Ein Minjan ist im Judentum das Quorum von mindestens zehn mündigen Juden, das nötig ist, um einen jüdischen Gottesdienst abzuhalten. zu beten, zu studieren und religiöse Feste zu begehen. Zwar waren ihnen die bereits bestehenden osteuropäischen Gemeinden in der Nachbarschaft bekannt, doch fühlten sich die meisten Neuankömmlinge angesichts der Unterschiede in Bezug auf Religionsausübung, Sprache und Traditionen nicht wohl dabei, diesen Gemeinden beizutreten.
Die von den deutsch- und österreichisch-jüdischen Geflüchteten gegründeten Gemeinden begannen mit bescheidenen Versammlungen in informellen Räumen. Im Laufe der Jahre gewannen sie an Größe und Stabilität und bauten ihre eigenen modernen Einrichtungen – darunter ein Dutzend neuer Synagogen zwischen 1935 und 1949, wie beispielsweise die ursprünglich in Frankfurt/Main aktive K’hal Adath Jershurun. Ihre neuen konservativen Gemeinden knüpften in der Regel an die deutsche Tradition des “liberalen Judentums” an und bewahrten so eine Kultur sowie religiöse Praktiken aus Deutschland und Österreich, die in Europa zerstört wurden. Innerhalb der Gemeinde der deutschen und österreichischen Jüdinnen:Juden in Washington Heights gab es vier religiöse Hauptrichtungen: Separatistisch-orthodox, traditionell-orthodox, konservativ und reformiert.
Ein starkes Netzwerk von Institutionen in Washington Heights brachte die Generationen zusammen, stärkte die Bindungen innerhalb der Gemeinschaft und schuf Stabilität für die deutsch-jüdische Enklave. Die George Washington High School in der West 193rd Street war für viele Teenager, die in den Heights erwachsen wurden, eine prägende Erfahrung, die sich auch auf die weitere Gemeinschaft auswirkte. Die Neuankömmlinge besuchten den Unterricht mit anderen Einwander:innen, Geflüchteten und Amerikaner:innen und gewöhnten sich daran, gemeinsam zu lernen, zu spielen, zu leben.
Mein Sohn besucht seit zwei Jahren die George Washington High School, was sich als sehr wichtig für unsere ganze Familie erwiesen hat. … Er sagt uns, in welche Filme und Theater wir gehen sollten. Unser Englisch hat sich enorm verbessert, seit er zur Schule geht. … Meine Patienten sind erstaunt über mein Wissen über Baseball und Football. Meine Frau und ich ziehen ernsthaft in Erwägung, unseren Sohn zum allgemeinen Informations- und Werbemanager der Familie Kern zu ernennen, mit einem festen Gehalt für hervorragende Leistungen! 77“My son has attended George Washington High School for two years, which has proved to be of great significance for our whole family. … He tells us which movies and theatres we should go to. Our English has improved tremendously since he began going to school. … My patients are amazed at my knowledge of baseball and football. My wife and I seriously contemplate nominating our son as general information publicity manager of the Kern family with a fixed salary for outstanding service!” Walter Kern in Gerhart Saenger, Today’s Refugees, Tomorrow’s Citizens: A Story of Americanization (New York: Harper and Brothers, 1941), 181. Übersetzung ins Deutsche: We Refugees Archiv.
Das YM & YWHA of Washington Heights and Inwood („das Y“) wurde 1917 als eines der ersten jüdischen Gemeindezentren in der Stadt gegründet. Es befand sich zunächst in der 159th Street und der St. Nicholas Avenue und zog 1956 in die Nagel Avenue um. Aufgrund des integrativen Charakters des Y war es für deutschsprachige Geflüchtete ein Leichtes, Mitglied zu werden und an Sprachkursen, Aktivitäten und Sommerlagern für Kinder teilzunehmen. Zusammen mit den osteuropäischen Juden, die schon früher nach Washington Heights gekommen waren, besuchten einige Geflüchtete die Gottesdienste und andere Angebote des Y.
Die Geschichte der Heights selbst ist ein bemerkenswertes Kapitel in der Geschichte New Yorks. Das Viertel ist eines vieler Stimmen und Geschichten – der Einwanderung und Zuflucht, der Integration und Ausgrenzung, der Amerikanisierung und Abgrenzung, des Konflikts und der Harmonie, der Neuerfindung. Für deutsche und österreichische Jüdinnen:Juden, die in den 1930er und frühen 40er Jahren vor den Nazis flohen, war Washington Heights ein fruchtbarer Boden, auf dem sie ein neues Leben aufbauen konnten. Dort konnten sie das, was sie an der deutschen und jüdischen Kultur am meisten schätzten, in einem neuen kulturellen und sozialen Kontext pflegen und anpassen und gleichzeitig auf die eine oder andere Weise Amerikaner:innen werden.
Ich betrachtete die Menschen genau […], die sich auf den Alleen drängten. Viele waren gut gekleidet, andere in Lumpen. Orthodoxe Juden in schwarzen Gewändern mischten sich mit Jugendlichen in bunten Kleidern. … Als ich dieses Durcheinander von Anblicken, Gerüchen und Geräuschen in mich aufnahm, wurde mir klar, dass ich hier ein Individuum unter Individuen bleiben konnte. Es gab nicht nur eine Art zu leben… Ich konnte ich selbst sein und mich trotzdem einfügen. 88“I scrutinised the people […], who thronged the avenues. Many were well-dressed, others in rags. Orthodox Jews in black garb mingled with youth in brightly coloured outfits. … Absorbing this jumble of sights and smells and sounds, it struck me that here I could remain an individual among individuals. There was not just one way to live… I could be myself and still blend in.” Bridget Stross Laky, On Being Jewish, LBI NY, 65. 94. Übersetzung ins Deutsche: We Refugees Archiv.
Dieser Beitrag basiert auf der Forschung des Leo Baeck Instituts in New York, die in die Online-Ausstellung “Refuge in the Heights” mündete und hier mit freundlicher Genehmigung des LBI und in teilweise abgewandelter oder erweiterter Form reproduziert wird. Darüberhinaus hilfreich war insbesondere: Loro Gemeiner Bihler, Cities of Refuge: German Jews in London and New York, 1935–1945 (Albany: SUNY Press, 2018).