Anatolien: Ein Zufluchtsort
Anatolien blickt auf eine lange Geschichte verschiedener Flucht- und Migrationsformen zurück. Seit der byzantinischen Epoche fanden hier verschiedene Gruppen von Menschen Zuflucht. Anatolien wurde im Laufe der Geschichte von Migration hauptsächlich türkischer und ursprünglich muslimischer Gemeinschaften allmählich muslimisiert. Jüdische Immigration ins Osmanische Reich nach der Vertreibung aus Spanien und Portugal 1492 war eine Ausnahme. Die Muslimisierung Anatoliens wurde noch sichtbarer, als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Osmanische Reich rapide schrumpfte. Die Vertreibung von tscherkessischen und Krim-Muslim*innen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Russischen Kaiserreich flohen, war in der Größenordnung vergleichbar mit den Migrationsbewegungen von Iraner*innen, Turkvölkern, Kurd*innen, Bosnier*innen, Kosovar*innen und Syrer*innen, die den gewaltsamen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und auf dem Balkan entflohen, welche in den frühen 1980ern begannen.
Die erste zeitgenössische Fluchtbewegung war die aus Iran infolge der Revolution von 1979. Weitere große Fluchtbewegungen waren die von fast 60.000 Kurdin*innen, die 1988 aus Irak flohen, und von einer halben Millionen Menschen, die 1991 aus Irak kommend Zuflucht in der Türkei suchten. 1989, als mit dem bulgarischen “Wiederbelebungsprozess” eine Assimilierungskampagne gegen Minderheiten einsetzte, flohen fast 310.000 ethnische Türk*innen in die Türkei. In den darauffolgenden Jahren gewährte die Türkei 25.000 Bosnier*innen und 18.0000 Kosovar*innen während der Kriege in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo Asyl. Die Türkei lag zudem seit 1990 auf der Transitroute von nicht registrierten Migrant*innen aus Afghanisten, Bangladesh, Irak, Iran und Pakistan. Zudem ist die Türkei ein Ziel von Menschenhandel in der Schwarzmeerregion, dessen Opfer meist aus Moldawien, der Ukrainie, Russland, Kirgistan und Usbekistan kommen. Mittlerweile ist die Türkei auch zu einem Ziel für Immigrant*innen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion geworden, die in ihr das Tor für neue Jobs, einen Neuanfang im Leben und eine Stufe zur beruflichen Weiterentwicklung im Westen sehen.
Die geographische Lage der Türkei hat sie zu einem wichtigen Ort nicht regulierter Migrationsrouten gemacht, insbesondere für Migrant*innen, die versuchen, Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu erreichen. Istanbuls Position in Migrationsprozessen ist einzigartig und es ist ein bedeutender Ort sowohl für nationale als auch für internationale Siedler*innen geworden. Die Türkei und insbesondere Istanbul sind durch die vielen Neuankommenden und internationalen Migrant*innen, viele von ihnen aus EU-Ländern und anderswoher, insbesondere aus Deutschland, Russland und der Golfregion, zu einem demographisch komplexen Ort geworden.
Syrische Geflüchtete in der Türkei
Der Krieg in Syrien hat die schlimmste Geflüchtetenkrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst und fast 12 Millionen Menschen in eine Notlage getrieben, in der sie auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Im Moment gibt es 7,6 Millionen Binnengeflüchtete, während sechs Millionen Menschen in Syriens direkten Nachbarstaaten Zuflucht gesucht haben: die Türkei, der Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten. Unter diesen Ländern hat die Türkei infolge ihrer offenen Grenzpolitik die meisten syrischen Geflüchteten aufgenommen. Diese kommen größtenteils aus der Region Aleppo im Norden Syriens. Zum 27. Mai 2021 leben 3.671.625 Syrer*innen unter temporären Schutz in der Türkei, von denen 524.721 sich in Istanbul angesiedelt haben.
Die Türkei sieht sich vor vielen Herausforderungen, nicht nur hinsichtlich der Integration der Geflüchteten. Die soziale und politische Polarisierung des Landes ist seit der #occupygezi-Bewegung im Juni 2013 und dem fehlgeschlagenen Coup am 15. Juli 2016 offensichtlich zu Tage getreten, und auch Geflüchtete sind diesen Spaltungen immer mehr ausgesetzt. Die öffentliche Stimmung gegen syrische Geflüchtete wächst, insbesondere nachdem die türkische Regierung im Sommer 2016 bekanntmachte, dass eine Anzahl syrischer Geflüchteter die türkische Staatsbürgerschaft erhalten solle. Bisher sind nach offiziellen Angaben ca. 140.000 Syrer*innen eingebürgert worden. Die öffentlichen Ressentiments wachsen insbesondere in Südostanatolien unter den lokalen Bewohner*innen kurdischer und alevitischer Herkunft, weil Gerüchte umgehen, dass die Regierung plane, die sunnitisch-muslimischen Araber*innen demographisch zu instrumentalisieren, um die ethno-nationalistischen, zentrifugalen Forderungen der Kurd*innen zu konterkarieren.
Syrer*innen in Istanbul und kulturelle Intimität
Wie gehen Syrer*innen mit den Schwierigkeiten um, denen sie im Istanbuler Alltag begegnen? Syrer*innen, die in der Türkei im Allgemeinen und in Istanbul im Besonderen leben, haben sich diesen Zufluchtsort nicht nur wegen der geographischen Nähe ausgesucht, sondern auch wegen der kulturellen Nähe, die aus der gemeinsamen osmanischen Vergangenheit hervorgeht. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus einer Reihe von Feldstudien, die Ende 2015, Anfang 2016 und im Sommer 2018 durchgeführt wurden, wird dieser kurze Artikel darstellen, in welcher Weise Istanbul syrischen Geflüchteten eine Komfortzone bzw. einen Raum kultureller Intimität bietet, in dem sie sich trotz der alltäglichen Schwierigkeiten sicher fühlen.
In Grenzstädten wie Gaziantep, Hatay und Kilis lebt eine große Zahl von Syrer*innen im Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Diese Städte tragen schwer an den wachsenden Herausforderungen, wobei sie nur begrenzt von der Zentralregierung unterstützt werden. Trotz finanzieller Belastung haben diese Städte es geschafft, mit Massenmigration umzugehen und friedliche Formen des Zusammenlebens zwischen der lokalen und der syrischen Bevölkerung zu etablieren, die glücklicherweise ähnliche Kulturen teilen. Die Soziale Netzwerktheorie in Migrationswissenschaften besagt, dass Migrationsbewegungen sozialen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Netzwerken zwischen Herkunfts- und Ankunftsländern folgen.
Während die ersten Ankunfts- und Eintrittsorte in der Türkei für die meisten Syrer*innen Grenzstädte wie Şanlıurfa, Hatay, Gaziantep und Kilis sind, ziehen viele von ihnen weiter in andere Städte wie Istanbul, Adana, Mersin, Bursa und İzmir. Die meisten Syrer*innen, die nach Istanbul kommen, geben als Grund dafür bestehende verwandtschaftliche Beziehungen in Stadtteilen von Istanbul an. Diese Stadtteile werden auch wegen der dort vorhandenen beruflichen Möglichkeiten gewählt, die sich ebenfalls aus sozialen Netzwerken ergeben.
Michael Herzfelds Konzept der kulturellen Intimität (eng.: cultural intimacy) schließt verschiedene Handlungen und Verhaltensformen ein, die von Angehörigen einer Gruppe von Menschen wiederholt werden und zur Herausbildung eines dualen Verständnisses der Welt, aufgeteilt in “wir” und “sie”, führen. Diese Handlungen und Verhaltensweisen reichen von der Essentialisierung von Kultur und Vergangenheit, über die Praktizierung verschiedener Stereotypen im Alltag und die Performierung überzeugender Handlungen der Ähnlichkeit bis hin zu verschiedenen Formen der Ikonizität, also der Verwendung von mythischen, visuellen, musikalischen und gastronomischen Bildern, die Ähnlichkeit mit anderen Gruppenangehörigen demonstrieren.
Hier wird der Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet: Syrer*innen werden beobachtet, wie sie die Türkei essentialisieren und Intimität mit dem kulturellen und nationalen Milieu der Türkei geltend machen, während sie behaupten, europäische kulturelle, religiöse und nationale Räume zu missbilligen oder sich von ihnen ausgeschlossen zu fühlen.
Seit Beginn der Massenmigration in die Türkei wird darüber berichtet, wie syrische Geflüchtete in Istanbul und insbesondere in dessen konservativen Stadtteilen, Brücken zwischen sich und der Mehrheitsbevölkerung durch visuelle, musikalische, religiöse, gastronomische und sogar linguistische Ikonizitäten gebaut haben, die einen Raum der Intimität schaffen sollen. Dieser Artikel beschäftigt sich mit diesen Berichten und Details darüber, wie syrische Geflüchtete kulturelle Intimität mit ihren Nachbarschaften in Istanbul kultivierten, indem sie Ähnlichkeit und Zugehörigkeit demonstrierten. Syrer*innen in Istanbul bauen diese kulturelle Intimität auch auf, indem sie Unterschiedlichkeit von Europa geltend machen.
Den sozialen Netzwerken folgend
Die Netzwerktheorie ist eine der Theorien, die versuchen, empirische Erklärungen für Gründe von Migration zu bieten. Netzwerke können als wesentliche Gründe für Migration betrachtet werden, die als starke Verbindungen zwischen Migrant*innen und potenziellen Migrant*innen dienen. Diese Verbindungen werden häufig zu einer sozialen Formation, die potenziellen Migrant*innen sowie Migrant*innen dabei hilft, sich in Gesellschaften zurechtzufinden, in denen frühere Migrant*innen sich bereits ein Leben aufgebaut haben. Es gibt drei Arten von Netzwerken: Familiennetzwerke, Arbeitsnetzwerke und “illegale” Migrationsnetzwerke.
Es sollte hervorgehoben werden, dass Netzwerke, als ein wesentlicher Grund für Migration, mit der Verbreitung und Nutzbarkeit des Internets in einem breiten Teil der Gesellschaft noch sichtbarer und nützlicher geworden sind. Durch die größere Sichtbarkeit des Internets im Alltag nutzen Geflüchtete das Internet, um über ihre Routen [und ihre Ziele] zu entscheiden. Istanbul, als kosmopolitische Weltstadt, bietet sich Migrant*innen und Geflüchteten mit seiner plausiblen Möglichkeit zur Ansiedlung durchaus an.
Trotz allem ist Istanbul sicher!
2016, als Geflüchtete befragt wurden, wie sicher sie sich in Istanbul fühlen, drückte die Mehrheit (91,8 %) ein Sicherheitsgefühl aus, während nur 6,8 % angaben, sich mit der Sicherheitslage in der Stadt unwohl zu fühlen. Dem Kriegsgebiet und alltäglichem Terror der Gewalt in Aleppo fern zu sein, wurde gemeinsam mit dem Gefühl kultureller Intimität und religiöser Vertrautheit, als wesentlicher Faktor für ein sicheres Gefühl der Geflüchteten in Istanbul angegeben, wobei Frauen etwas mehr dazu neigen, sich mehr in den Extremen von Sicherheit und Unsicherheit zu fühlen als syrische Männer, die sich einem moderaten bis sicheren Gefühl auf dem Spektrum zuordnen. Mohammad, ein 27 Jahre alter Mann, den wir in Ümraniye interview haben, erklärt die Gründe, sich für Istanbul als Lebensort entschieden zu haben, in den folgenden Orten:
„Ich bin vor zwei Jahren über die türkisch-syrische Grenze hergekommen. Ich musste den Schmuggler*innen viel Geld bezahlen. Die Türkei war meine erste Wahl, weil hier die Versorgung besser ist als in den anderen Nachbarländern der Region. Und ich fühle mich hier in Istanbul sicher.“
In ähnlicher Weise wies der 55-jährige, in Ümraniya lebende Abo Bashar unsere Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten hin, die das Leben in einer Stadt wie Istanbul mit sich bringt, wobei er hinzufügte, hier glücklich zu sein:
„Ich bin hier glücklicher, obwohl es hart ist. Weil die Versorgung hier besser ist als in anderen Ländern. Ich plane nicht, in ein anderes Land zu gehen, sondern werde eines Tages zurück nach Syrien gehen. Wir würden uns wünschen, eine Arbeitserlaubnis zu haben und dass die Arbeitgeber*innen uns besser bezahlen. Wir wollen nicht unter solchen Bedingungen arbeiten. Wir würden uns wünschen, dass die Menschen hier uns besser behandeln und uns mehr unterstützen würden, weil wir nichts bekommen. Und wir würden uns wünschen, dass die Hauseigentümer*innen uns schonen und von uns die Miete nehmen würden, die im Vertrag steht.“
Die Ergebnisse einer Umfrage, die von unserem Forschungsteam 2015 und 2016 durchgeführt wurden, besagen, dass das primäre Motiv, nach Istanbul zu ziehen ist, einen Job zu finden (54,8 %).[1] Der am zweitmeisten genannte Grund in dieser Zeit war, den existierenden sozialen Netzwerken und familiären Verbindungen sowie Beziehungen und anderen relevanten, sozialen, ethno-kulturellen und religiösen Netzwerken zu folgen. Der dritte Grund für Geflüchtete, sich in Istanbul niederzulassen, war das Gefühl der Sicherheit. Marwa, eine 28-jährige, in Sultanbeyli auf der asiatischen Seite Istanbuls lebende Frau, drückte ihre Gefühle über Istanbul wie folgt aus:
„Ich fühle mich sicher hier in Istanbul. Ich möchte nicht zurück nach Aleppo, wo wir wegen des Krieges von Haus zu Haus gezogen sind. Ich möchte hier in der Türkei bleiben, weil es hier ähnlich zu unseren Traditionen und unserer Kultur ist und weil meine Familie hier ist. Ich möchte auch nicht nach Europa gehen, weil ich da niemanden habe. Und ich möchte überhaupt nicht zurück nach Syrien, weil ich meinen Mann dort verloren habe.“
Was sie nach Istanbul zieht, ist sowohl die kulturelle Intimität, die die Stadt bietet als auch bereits dort bestehende Familienverbindungen. Marwa ist eine der sunnitisch-muslimischen Araber*innen, die die Mehrheit der in Istanbul lebenden Syrer*innen ausmachen. Es gibt einige andere Bezirke wie Şişli, die beliebte Ziele für Syrer*innen mit kurdischem und/oder alevitischen Hintergründen sind. Solche Bezirke scheinen für sie Komfortzonen zu sein, weil sie von ko-ethnischen Bewohner*innen wie z. B. türkischen Bürger*innen mit kurdischem und/oder alevitischem Hintergrund bewohnt werden. Klasse, Ethnizität, Kultur, Glaube und Geschlecht spielen demnach eine wichtige Rolle für syrische Geflüchtete bei der Auswahl eines Wohnortes.
Wie die lokale Gesellschaft die syrischen Geflüchteten aufnimmt, ist ein weiterer sehr wichtiger Faktor für diese Entscheidung. […] Die Mehrheit der lokalen Einwohner*innen in Istanbul unterstützte die “Ansar Spirit”-Rhetorik, die von staatlichen Akteuren und insbesondere der Regierung bis 2019 stark gemacht wurde, bis zu den Kommunalwahlen im Mai 2019, in denen die regierende AKP-Partei [Adalet ve Kalkınma Partisi, dt.: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung] die großen Städte an die sozialdemokratischen und liberalen Parteien verlor (CHP [Cumhuriyet Halk Partisi, dt.: Republikanische Volkspartei] and İyiParti [Gute Partei]). Istanbul war eine dieser Städte, die die AKP verlor. Der Ansar Spirit wurde von gläubigen muslimischen türkischen Bürger*innen aufgegriffen, die die Araber*innen und die von ihnen gesprochene arabische Sprache als heilig begreifen. Die Tatsache, dass der Prophet Mohammed arabischer Herkunft war und die Sprache des Korans Arabisch ist, ist den gläubigen Muslim*innen in der Türkei und anderen nicht-arabischen islamischen Regionen klar. Die Angehörigen der lokalen Communities in den sechs Bezirken von Istanbul, die von AKP-geführten Verwaltungen regiert werden bezogen sich häufig auf die kulturelle und religiöse Intimität, die sie im Alltag mit sunnitischen Araber*innen aus Syrien praktizierten.
In dieser Weise werden religiöse und linguistische Affinitäten nicht nur von sunnitisch-muslimischen syrischen Geflüchteten instrumentalisiert, sondern auch von Angehörigen der sunnitischen lokalen Communities, bei denen die Sprache und Ethnizität der sunnitischen Araber bereits zu einer kulturellen und symbolischen Praxis umgesetzt wurde.
Kulturelle Intimität in Istanbul: Kultur, Religion und Gender
In vielen migrantischen Narrativen, die sich in denen von uns im Sommer 2018 in Istanbul durchgeführten Interviews zeigten, haben wir eine Konstruktion kultureller Intimität vorgefunden, in der Kultur, Religion und Gender eng verbunden waren und sich syrische und türkische Kulturen als einander ähnlich im Gegensatz zu einer scheinbar unähnlichen europäischen Kultur, die manchmal als feindlich gegenüber muslimischen Migrant*innen dargestellt wird, positionieren Zum Beispiel erklärte die 29-jährige Mona, sie wolle in der Türkei „wegen der Kultur und Religion” bleiben: „Hier ist es natürlich leichter zu leben.” Sie gab an, dass sie sich in der Türkei wohler damit fühle, sich konservativ-religiös zu kleiden, als in Syrien. Aber sie befürchtete, zu einem Umzug nach Europa gezwungen zu sein, weil ihr Mann, der in der Möbelindustrie arbeitet, oft ohne Bezahlung arbeitete und ihre eigenen Träume, einen Masterabschluss zu erreichen, außerhalb des Erreichbaren schienen, da ihre Zeugnisse von den türkischen Behörden nicht anerkannt wurden. Sie erklärte: „Während die Situation so schlecht ist, denken wir übers Weggehen nach. Wenn die Situation besser wird, verwerfen wir diesen Gedanken.” Sieben Monate später konnte sie ihre bürokratischen Probleme lösen und wurde in ein Promotionsprogramm einer türkischen Universität aufgenommen, sodass sie endgültig entschied, in der Türkei zu bleiben. Eine rationale, auf ökonomischen Realitäten basierende Entscheidung, hätte ihren weiteren Migrationsweg bestimmen können, aber sie kämpfte darum, in der Türkei zu bleiben, wo sie sich wegen des religiösen und kulturellen Milieus wohlfühlte.
Gemeinsame religiöse Ansichten und Praktiken sind für viele Geflüchtete ausschlaggebend, um in Istanbul bleiben zu wollen. Abeer, eine 26-jährige Hausfrau aus Aleppo, erklärte beispielsweise: „Ich will überhaupt nicht nach Europa gehen. Wir hatten die Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen, aber das ist unmöglich. Es würde alles dort fremd sein. Hier in der Türkei gibt es zumindest den Islam, ich höre den Klang des Gebetsrufs.”
Diese Art der kulturellen und religiösen Affinität ist nicht nur auf religiöse und linguistische Gremien begrenzt, sondern betrifft auch gastronomische und musikalische Geschmäcker.
Die Anzahl der syrischen Restaurants in Istanbul steigt rapide, nicht nur in Fatih und Esenyurt, sondern ebenfalls in den touristischen Ballungsräumen der Stadt, wie etwa Beyoğlu und Sultanahmet. Diese Restaurants ziehen sowohl die arabische Bevölkerung an, bei denen durch das servierte Essen und das Angebot an Getränken eine Art der kulturellen Intimität aufkommt, als auch die Einheimischen Istanbuls, die eine ähnliche kulturelle Intimität angesichts der arabischen Küche empfinden, die seit jeher ein essenzieller Teil der kosmopolitischen osmanischen Küche war. Vergleichbar damit ist der Anstieg an syrischen Straßenmusik-Bands im Stadtzentrum vor der Covid-19 Pandemie. Radiosender wie Al-Kol, Muftah und Alwan wurden errichtet, nicht allein für die syrische Diaspora in der Türkei, sondern auch für die Hinterbliebenen in Syrien.
Der Klang der arabischen Musik, der durch die Straßen Istanbuls sowie die arabischen Radiosender hallt, errichtete neue Brücken zwischen syrischen Geflüchteten und Mitgliedern der lokalen Gemeinschaften.
Der Aufstieg eines mehrheitlich türkischen Nationalismus
Einige Einheimische scheinen sich allerdings mit dem Ansar Spirit nicht gänzlich wohlzufühlen. So scheint es ein verbreitetes Phänomen innerhalb der türkischen Gesellschaft zu sein, Syrer*innen als „Verräter*innen“ zu behandeln. Ein türkischer Jugendlicher, den wir im instanbulischen Viertel Sultanbeyli interviewten, drückte seine Abneigung gegenüber syrischen Geflüchteten, die sich in seiner Nachbarschaft niedergelassen hatten, folgendermaßen aus:
„Alle um mich herum hassen Syrer*innen. Die Menschen sind neugierig, zu erfahren, warum die Syrer*innen in die Türkei gekommen sind. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich mein Land nicht verlassen. Ich würde zu Hause bleiben und mich gegen die Feinde wehren, um mein Heimatland zu verteidigen. Syrer*innen sind feige, deshalb haben sie ihr Land verlassen. Sie sind Verräter*innen. Unser Land hat sie aufgenommen wie kein anderes Land. Wir behandeln sie gut, aber wir bekommen nichts dafür im Gegenzug.“ (20, männlich, 16. November 2015, Sultanbeyli).
Diese Form des Diskurses ist zur eher verbreiteten Form geworden, besonders nachdem der berühmte konservativ-muslimische Dichter İsmet Özel syrische Geflüchtete auf dieselbe Art als “Verräter*innen” bezeichnet hatte. Araber*innen als Verräter*innen zu definieren ist in der Türkei eine alte Gewohnheit, welche sich auf die Auflösung des Osmanischen Reiches im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert zurückführen lässt. Türkische Nationalist*innen nahmen Araber*innen damals als ”Verräter*innen” wahr, denn sie glaubten, dass die arabischen Nationalist*innen die Türk*innen in den Rücken gefallen waren, indem sie mit westlichen imperialistischen Mächten kollaborierten. Derartige Vorurteile sind nach wie vor sehr stark im kollektiven Gedächtnis türkischer Bürger*innen verankert.
Bleiben oder nicht bleiben!
Eine Schlüsseldimension der sozialen Poesie kultureller Intimität stellt die Essentialisierung von Unterschieden bzw. die Herstellung der Einteilung in Uns/die Anderen dar. Für viele Syrer*innen, die wir interviewten, verortet sich Europa in gegensätzlicher Position zur Türkei innerhalb ihres Diskurses. Geflüchtete haben eine starke Vorstellung von der Negativbehandlung von Muslim*innen in Europa. Hamza, ein 21-jähriger Mann, der ein kleines Geschäft für Grafik-Design führt, berichtete:
„Es gibt keine Intoleranz gegenüber dem Islam hier, nur gegenüber Syrer*innen. Aber in Europa und in den USA gibt es diese Intoleranz gegenüber dem Islam, Araber*innen und Syrer*innen, deshalb ist es schwieriger, dort zu leben… In der Türkei kann ich meine Religion frei praktizieren und nicht nur das: Wenn Türk*innen mich sehen, wie ich meine Religion praktiziere, mögen sie mich mehr.“
Obwohl er behauptet, kulturelle und religiöse Ähnlichkeiten seien seine Hauptmotivation gewesen, um in Istanbul zu bleiben, weist Hamza auch auf die Bedeutung der geschlossenen Migrationsroute nach Europa für einige Migrant*innen hin. Der 21-jährige Nabeel berichtete, dass er die den Drang zu arbeiten verspürte, statt sich auf staatlicher Unterstützung auszuruhen, was er als Vorteil des Lebens in der Türkei ausmachte.
„Wenn man legal im Land lebt und Steuern zahlt, dann fühlt sich niemand verpflichtet, einem zu helfen. Man kann sich selbst verteidigen und Menschen reagieren, die einen kritisieren. Aber in Deutschland würden Menschen zum Beispiel sagen: ‘Wir zahlen Steuern, damit du umsonst leben kannst’ and man kann nicht antworten: ‘Nein, das stimmt nicht.’ Außerdem ist diese Gesellschaft hier hilfsbereit, wenn du muslimische Türk*innen triffst, werden sie dich unterstützen, weil du Muslim*in bist.“
Nabeel sagte sogar, dass er in Erwägung ziehen würde, nach Deutschland zu reisen, um zu arbeiten oder zu studieren, aber er würde nicht als Geflüchteter gehen wollen. Es ist anzumerken, dass Hamza und Nabeel beide junge Männer sind, die eine Beschäftigung in Istanbul gefunden haben und damit finanziell abgesichert sind. Zugleich spielt das Gefühl, dass sie in der Türkei Wertschätzung und Zugehörigkeit erfahren (abgesehen von dem Rassismus, den sie ebenfalls erlebten) eine große Rolle und wird als Gegensatz dazu positioniert, wie sie annehmen, in Europa behandelt werden zu würden.
Die positive Verlinkung zwischen syrischer und türkischer Kultur, religiösen Praktiken und Gendernormen basiert auf geteilten historischen Erfahrungen und Beobachtungen der türkischen Gesellschaft. Gleichzeitig muss sie als konstruierte Intimität betrachtet werden, ein Prozess der Stereotypisierung und Essenzialisierung sowohl der türkischen als auch europäischen Kulturen, während eine Zugehörigkeit zu der Ersteren geltend gemacht wird. Europa und die Türkei sind gleichermaßen facettenreich und kulturell divers. So kamen sogar verschiedene religiöse und kulturelle Debatten zwischen Syrer*innen und Türk*innen auf, beispielsweise rund um die koranbasierte Bildung und korrekte Zitierweisen oder die Praxis von Polygamie und Verheiratungen im jungen Alter, die in Syrien sehr viel stärker gesellschaftlich akzeptiert und verbreitet sind als in der Türkei. Durch die Vereinfachung der Türkei und Europa in “kulturell ähnlich und kulturell verschieden”, “muslimisch und nicht-muslimisch“ sowie “sicher und unsicher für Frauen” verorten sie sich selbst in kulturelle Räume.
Erschöpfung des Diskurses der kulturellen Intimität
Seit dem Beginn der Migration syrischer Geflüchteter in die Türkei spielte der Diskurs der kulturellen Intimität eine sehr wichtige Rolle bei der Aufnahme von syrischen Geflüchteten in lokale Gemeinschaften der Türkei. Wie oben erläutert wurde der politische Diskurs über den Ansar Spirit erfolgreich vonseiten der AKP-Führung geformt und entwickelt, wodurch syrische Geflüchtete meist relativ zufrieden mit ihrem Aufenthalt in der Türkei gestimmt wurden. Nach zehn Jahren der Massenmigration von Syrer*innen, wird der politische Diskurs der kulturellen Intimität heute jedoch nicht mehr wirklich von der Mehrheit türkischer Bürger*innen sozial reproduziert. Neueste Studien offenbaren, dass ethno-kulturelle, religiöse und historische Verbindungen zwischen den meisten Syrer*innen und einheimischen türkischen Bürger*innen von syrischen Interviewpartner*innen als Hauptquelle des Wohlbefindens während ihres Aufenthalts in der Türkei ausgemacht werden. Genau diese Aspekte werden von Michael Herzfeld als kulturelle Intimität bezeichnet, was für syrische Geflüchtete als eine Art der Bestätigung für ihren Aufenthalt in der Türkei dient obwohl sie sozial-ökonomische Schwierigkeiten, Mangel an Rechten, Ausschluss und Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt sowie im Alltag erleben. Es scheint, als habe diese kulturelle Intimität die meisten Syrer*innen davon abgehalten, einen Willen zur Weiterreise nach Europa zu entwickeln, zumindest bis zuletzt. Die qualitative und quantitative Studie, die wir in Istanbul in den Jahren 2015 und 2016 durchgeführt haben, demonstriert, dass nur 1,6 % der interviewten Syrer*innen bereit sind, nach Europa zu reisen, während 79 % ihren Wunsch zum Ausdruck brachten, nach Syrien zurückzukehren und rund 20 % angaben, auch nach Ende des Krieges in Syrien in der Türkei bleiben zu wollen. Parallel dazu zeigte eine andere quantitative Studie von 2017 eine ähnliche Tendenz unter syrischen Geflüchteten, die in Ganziantep, Urfa, Hatay und Istanbul befragt wurden. In dieser Studie waren um die 5 % bereit, nach Europa zu gehen. Ihr Zögern, nach Europa zu gehen, kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden: kulturelle Intimität mit der Türkei, ethnische und religiöse Affinität mit den Einheimischen in der Türkei, die sunnitische Religionszugehörigkeit vieler Syrer*innen, die gemeinschaftlich, religiös und ethnisch eng mit der Türkei verbunden ist (besonders im Südosten der Türkei sowie in Istanbul), wachsende Anti-Geflüchteten-Gesinnungen, Islamophobie und rechtsextremer Populismus in Europa, die Abwesenheit von sicheren Fluchtrouten nach Europa, das offensichtliche Risiko der Überfahrt über das Meer, ökonomische Belastungen durch die Reise und die Nachrichten über tödliche Reisen, die sich über soziale Netzwerke und Mainstream-Medien verbreiten.
Fazit
Aktuelle Daten weisen darauf hin, dass die Toleranz gegenüber der Tatsache, dass Syrer*innen in Istanbul oder anderswo in der Türkei bleiben wollen, nicht mehr besonders hoch ist. In einer Studie fand eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die 2019 mit uns am Projekt Horizon 2020 arbeitete, heraus, dass 52 % der syrischen Forschungsteilnehmenden in Istanbul bereit wären, nach Europa zu weiterzureisen, wenn sie nur die Chance dazu hätten. Diese Studie wurde mit 750 Syrer*innen durchgeführt, die sich in Istanbul, İzmir, Şanlıurfa und Batman aufhielten. Als repräsentative Studie demonstriert sie, dass Syrer*innen inzwischen weniger dazu tendieren, alle Arten der sozio-ökonomischen Probleme, Erwerbslosigkeit, Ausbeutung, intersektionale Formen der Diskriminierung, soziale und politische Polarisierung sowie Verzweigungen von wachsenden türkischen Nationalismus im Alltag auszuhalten. Entsprechend kann daraus geschlossen werden, dass der Diskurs der kulturellen Intimität, welcher bereits von der Mehrheit der türkischen Gesellschaft verleugnet wurde, heute ebenfalls von einer steigenden Zahl von Syrer*innen in Istanbul und anderswo in der Türkei verleugnet wird.
Ayhan Kaya ist Professor für Politikwissenschaften an der İstanbul Bilgi Universität.