The Arrival of Hannah Arendt
Dieser Film beschreibt das Ankommen von Hannah Arendt - einer jüdischen, deutsch-amerikanischen politischen Theoretikerin und Publizistin - in New York und ihre Reflektionen über Flucht und Unterstützung beim Neuanfang.
Rosch Haschana 5700. 11Rosch ha-Schana ist das jüdische Neujahrsfest am 1. Tag des Monats Tishri, der im gregorianischen Kalender in der Regel auf den September oder die erste Oktoberhälfte fällt. Rosch HaShana im Jahr 5700 des jüdischen Kalenders entsprach im gregorianischen Kalender dem 14.09.1939, demnach kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Krieg in Europa. Erst sah es so aus, als sollte dies der Beginn vom Ende des Faschismus werden, nun, da Japan und Rußland Hitler helfen wollen, verdüstert sich das Bild. Die Juden sind das erste Opfer. Überall. In Polen hat es – zum ersten Mal seit Jahrtausenden wohl – kein gemeinschaftliches Gebet gegeben, wird auch kein „Kol-nidre“ 22dt.: alle Gelübde. Name des Abendgebets am Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, der zehn Tage nach dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana begangen wird. sein. Von den Verwandten in Polen kein Wort. Wir sind hier auf einer Insel, verschont – einstweilen noch. Wie lange? Die Zeit schwimmt dahin und wir müssen uns treiben lassen. Wie wäre eine solche Zeit zu ertragen ohne den Halt eines eigenen Lebens inmitten dieses Getümmels? Meine Welt hat sich „verengt“ auf zwei Menschen: Chemjo 33Gemeint ist ihr Ehemann, der Musiker Chemjo Vinaver (1895–1973). und Evjatar. 44Ihr Sohn Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name in Exil in Steven Vinaver (1936-1968) geändert wurde. Sie hat sich dennoch erweitert. Ich arbeite nichts für mich, bin ganz dem zugewandt, was Chemjos Arbeit angeht und Evjatars kleines Glück. Und ich fühle, es ist gut so. Dieser Zeitabschnitt, obgleich mein ‚unproduktiver‘ ist tief und sehr ausgefüllt. Das äußere Leben ist – obgleich sehr ungesichert in finanzieller Hinsicht – doch relativ gut. Wir führen kein Emigranten-Dasein. Wohnung etc. ist mehr, als wir je hier für uns erwarteten. Chemjos Arbeit der Mittelpunkt, von dem alles abhängen wird. […]
Der Junge ist wunderbar. Er entwickelt sich zusehends, es ist schwer, objektiv zu sein, wenn man so nah verbunden ist mit einem Wesen, aber mir scheint, er ist besonders begabt. Er faßt blitzschnell auf und vergißt es nicht. Sein Gedächtnis ist bemerkenswert. Er weiß lange Verse aus ,,Mother Goose“ 55Mother Goose ist eine vor allem in den USA und Großbritannien beliebte Figur aus Märchen und Reimen für Kinder. auswendig nach wenigen Malen und Hören. Rhythmus und Reim sind ihm ganz natürlich. Er plappert in seinem Kauderwelsch Gedichte. Strophen, die reinen Rhythmus haben und Reim. Er singt leidenschaftlich gern und hat für das Nachsingen von Intervallen ausgesprochenes Gehör, wie Chemjo sagte. Bisher stellten wir keine musikalische Begabung fest, aber nun beginnt sie sich zu zeigen. Da war immer etwas, das war abnorme Empfindsamkeit gegenüber jedem musikartigen Geräusch. ‚Musik‘ nannte er mit zwei Jahren schon alles was quiekte und klang. Mit zwei Jahren rief er dem Radio zu, als das Lied zu Ende war: ‚Bitte, Radio, noch singen!‘ Die Sprachen. Eine Frage. Er spricht deutsch und Brocken englisch. Aber nicht im Gemisch. Er weiß die englischen Namen aller ihn umgebenden Gegenstände und vieles andere. Sein Deutsch ist von einer Anmut, die alle entzückt. Engländer und Deutsche gleichermaßen staunen über die Reinheit und Schönheit, mit der dieser 2 3/4-jährige deutsch spricht. Schade, daß dies nicht seine Umgangssprache sein wird. Aber lieb ist mir, daß er einstweilen noch in dieser Sprache lebt und Englisch nebenher lernt. Hätten wir ein englisch-sprechendes Mädel oder wäre ich konsequent, so spräche er vielleicht Englisch besser. […]
Mascha Kaléko (1907–1975) war Dichterin. Sie wurde in West-Galizien (heute Polen) geboren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs flieht ihre Familie aus Angst vor antijüdischen Pogromen nach Deutschland. Mascha Kaléko war sieben Jahre alt. Früh folgt sie ihrer Berufung zur Dichterin und bewegt sich im Berliner Künstlermilieu. Viele ihrer Gedichte befassen sich mit dem Berliner Alltag. Im Jahr 1935 jedoch erlegen die Nationalsozialisten Kaléko ein Berufsverbot auf. Zunächst will sie sich nicht von Berlin trennen, doch im Jahr 1938 ist die Situation unerträglich: mit ihrem zweiten Ehemann, dem Musiker Chemjo Vinaver, und ihrem kleinen Sohn flieht sie nach New York. Der Familie fällt es schwer, in New York Fuß zu fassen. Kaléko findet kleine Aufträge und schreibt u.a. für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau. 1945 erscheint ihr Gedichtband „Verse für Zeitgenossen“ in den USA in deutscher Sprache. Im Jahr 1959 siedeln sie und ihr Mann von dort nach Israel über.
In den Werken, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich Kaléko mit ihren Erfahrungen in der Emigration, ihrem Heimweh nach Berlin und ihrer Identität als Jüdin, Geflüchtete, Dichterin und Emigrantin. Der Bruch, den der Sprachverlust infolge der Emigration in die USA besonders für sie als Dichterin bedeutete, ist in vielen Gedichten spürbar.
Als die Wehmacht im September 1939 – kurz vor dem jüdischen Feiertag Rosch ha-Schana, 11Rosch ha-Schana ist das jüdische Neujahrsfest am 1. Tag des Monats Tishri, der im gregorianischen Kalender in der Regel auf den September oder die erste Oktoberhälfte fällt. Rosch HaShana im Jahr 5700 des jüdischen Kalenders entsprach im gregorianischen Kalender dem 14.09.1939, demnach kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. an dem dieser Tagebucheintrag entsteht – Polen überfällt und damit der Zweite Weltkrieg beginnt, befindet sich Mascha Kaléko bereits im New Yorker Exil. Sie reflektiert über den Kontrast zwischen den sie bewegenden Ereignissen: den insbesondere für Jüdinnen*Juden bedrohlichen Kriegsausbruch und die Unsicherheit über ihre Freund*innen und Verwandtschaft in Polen; und die Zufriedenheit mit der eigenen, sicheren Situation und den Fortschritten ihres Sohnes Evjatar, 22Evjatar Alexander Michael Vinaver, dessen Name in Exil in Steven Vinaver (1936-1968) verwandelt wurde. der später in den USA als Regisseur und Dramatiker arbeitete. Die materielle Situation der Familie sollte in den folgenden Jahren noch einmal schwieriger werden: Im Gegenteil zu der hier geäußerten Erleichterung „kein Emigrantenleben“ zu führen, klagt sie im Juni 1941 „noch nie […] so sehr ‚refugees‘ wie jetzt“ zu sein.
Kaléko, Mascha, 1939: Tagebucheintrag vom 14.09.1939.
Ausschnittweise veröffentlicht in:
Zoch-Westphal, Gisela, 1987: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Berlin: Arani. S. 104-107.