Mendel Balberyszski über Ankommen, Verbindungen zurück, Neuanfänge und den Wunsch nach Weiterflucht

Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an. Als Geflüchteter/Heimkehrer hatte Balberyszski eine besondere Stellung innerhalb der Geflüchtetengemeinschaft, die auf verschiedene Art in Unterstützungarbeit zum Tragen kam.

דאָס לעבן אין װילנע האָט זיך סטאַביליזירט. די אָנגעקומענע פּליטים האָבן טײלװײַז גענומען אַרבעטן, טײלװײַז געהאַנדלט און פֿאַרדינט אויף חיונה. אַ גרויסער טײל איז אָבער אָנגעװיזן געװען אויף סובסידיעס פֿון פֿאַרשײדענע אָרגאַניזאַציעס, און אַלע האָבן געזוכט װעגן װי אַזוי װײַטער צו פֿאָרן.

„דאָ איז אַ װוּלקאַן“ – פֿלעגן אַלע אין אײן קול טענהן – „מען מוז לויפֿן װײַטער“. אין דער צײַט זײַנען קײן װילנע אָנגעקומען די פֿירער פֿון פּוילישע ייִדנטום – סײם־דעפּוטאַט לײבל מינצבערג, סענאַטאָר טראָקענהײם, הרבֿ ד“ר יצחק לעװין, ראַטמאַן פֿון לאָדזשער שטאָטראַט (רײשער רבֿס זון), ראַטמאַן פֿון לאָדזשער שטאָטראַט אַדװאָקאַט רײכמאַן, זײער פֿיל רבנים און ישיבֿה־לײַט פֿון פֿאַרשײדענע ישיבֿות. אַ סך בונדיסטן מיטן פֿירער פֿון לאָדזשער בונד שמואל מילמאַן בראָש, זײער פֿיל ציוניסטישע פֿירער און סתּם ייִדן, װאָס האָבן באַװיזן צו אַנטלויפֿן פֿון דעם היטלעריסטישן גיהנום. דאָס איבערשװאַרצן די גרענעצן איז שוין דאַן געװען פֿאַרבונדן מיט גרויס סכּנת־נפֿשות. אַזוי איז געקומען מיט אָפּגעפֿרוירענע פֿיס דער אַדװ. רײכמאַן. מיר האָבן אים אַרײַנגעגעבן אין שפּיטאָל פֿון „משמרת־חולים“, װוּ ער איז געלעגן אַ לאַנגע צײַט. אויף מײַן אַדרעס פֿלעגן כּסדר אָנקומען זײער פֿיל בריװ, ספּעציעל פֿאַר לאָדזשער און װאַרשעװער פּליטים. איך האָב זיך פֿאַרבונדן מיט די לאָדזשער לאַנדסלײַט אין אַמעריקע, זײ האָבן מיר צװײ מאָל געשיקט קלײנע געלט־סומען, װעלכע איך האָב צוזאַמען מיט ד“ר װיגאָדסקי און ל. מינצבערג פֿאַרטײלט צװישן די פּליטים.

די לאָדזשער לאַנדסלײַט אין ניו־יאָרק האָבן כּמעט ניט געשטיצט די פּליטים אויף די ערטער. זײ האָבן געהאַלטן, אַז מען דאַרף פֿון די אָקופּירטע געגענטן אַרויספֿאָרן [זײער הילף איז געװען אַ נישטיקע: צװײ מאָל צו הונדערט דאָלאַר!]. דאָס איז געװען זײער אַ גוטער װוּנטש. אָבער צום באַדויערן, אַ ניטדורכפֿירבאַרער. אין יענעם פּעריאָד האָט מען שוין פֿון לאָדזש כּמעט װי ניט געקענט אַרויס. אַפֿילו דאָס פֿאָרן פֿון לאָדזש קײן װאַרשע איז שוין דאַן געװען פֿאַרבונדן מיט אַזעלכע ריזיקע הוצאות, אַז נאָר געצײלטע האָבן דאָס געקענט בעװײַזן. װער רעדט נאָך דאָס פֿאָרן פֿון װאַרשע קײן װילנע, איז שוין דאַן בכּלל געװען אוממעגלעך. נאָר געצײלטע יחידים איז דאָס געלונגען. […] זײער פֿיל פּליטים זײַנען געװען אָפּגעריסן פֿון זײערע מישפּחות, װײַל געלאָפֿן זײַנען אין דער ערשטער רײ נאָר מענער און דערװאָקסענע יוגנט. פֿרויען און קינדער זײַנען געבליבן אויף די ערטער. און אָט די אײנצעלנע מענער זײַנען געזעסן אין װילנע ביזן לעצטן מאָמענט, כּדי צו שטיצן די געבליבענע פֿאַמיליעס מיט פּעקלעך. אַ סך מענער פֿון זײ זײַנען דערנאָך אַרײַנגעפֿאַלן צו די דײַטשן.

אַנדערע װידער האָבן דורכגעמאַכט שװערע טראַגעדיעס צוליבן אַרעסטירן זײער פֿאַמיליען־מיטגלידער אין װעג דורך די רוסן, בײַם אַריבערגײן די גרענעץ. […]

פֿון װילנע האָט מען געקענט שיקן פּעקלעך פּראָדוקטן אין די אָקופּירטע געביטן. אַלע פּליטים האָבן זיך אויף דעם אַ װאָרף געטאָן, װי אויף דער אײנציקער מעגלעכקײט אויפֿצוהאַלטן זײערע פֿאַמיליעס בײַם לעבן. יעדער האָט פֿון זיך דאָס לעצטע פֿאַרקויפֿט, אַבּי װאָס אָפֿטער צו שיקן אַ פּעקל. פֿון יענער זײַט, פֿון לאָדזש און װאַרשע, פֿלעגן צו מיר אָנקומען האַרצרײַסנדיקע בריװ װעגן הונגער און נויט. און לויט מײַנע באַשײדענע מעגלעכקײטן האָב איך זײער פֿיל געשיקט צו פֿרײַנט און חבֿרים. דאָס לעצטע פּעקל האָב איך באַװיזן אַרויסצושיקן צו מײַן חבֿר און פֿרײַנט אַדװאָקאַט יוסף װײצמאַן אין װאַרשע. כּדי צו שיקן אַ פּעקל, האָט מען געמוזט האָבן אַ פּאַס פֿון אַ ליטװישן בירגער. אַזוי האָבן מיר, אַלס װילנער, פֿאַרלײַכטערט דעם ביטערן גורל פֿון די פּליטים.

Das Leben in Vilnius stabilisierte sich. Die angekommenen Geflüchteten haben teilweise angefangen, zu arbeiten, teilweise [auf dem Schwarzmarkt] gehandelt und so ihren Lebensunterhalt verdient. Ein großer Teil war jedoch auf Zuschüsse von verschiedenen Organisationen angewiesen, und alle suchten nach Wegen, wie man weiterfahren könnte.

„Hier ist ein Vulkan,“ haben alle mit einer Stimme behaupted, „man muss weiterrennen.“ In dieser Zeit kamen in Vilnius die Elite der polnischen Judenheit an – der Sejm-Vertreter 11Sejm ist die Bezeichnung für eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung. Leybl Mintsberg, Senator Trokenheym, Rabbiner Dr. Yitskhok Levin, ein Vertreter des Łódźer Stadtrats (der Sohn des Rabbiners von Reysh), der Vertreter des Łódźer Stadtrats Anwalt Reykhman, sehr viele Rabbiner und Jeschiwahleute von verschiedenen Jeschiwot. 22Eine Jeschiwah ist eine jüdische Bildungseinrichtung für religiöse Studien. Viele Bundisten mit den Anführern des Łódźer Bunds mit Shmuel Milman als deren Kopf, sehr viele zionistische Anführer und einfache Juden, die es geschafft hatten, der hitlerischen Hölle zu entfliehen. Das illegale Überqueren der Grenzen war schon damals mit einer großen Gefahr fürs Leben verbunden. So kam der Anwalt Reykhman mit erfrorenen Füßen an. Wir haben ihn ins Krankenhaus von „Mishmeres-Kholim33Ein jüdisches Krankenhaus in Vilnius für Patienten, denen es nicht möglich war, den Aufenthalt zu bezahlen. gebracht, wo er für lange Zeit lag. An meine Adresse waren die ganze Zeit viele Briefe adressiert, insbesondere an Łódźer und Warschauer Geflüchtete. Ich habe die Łódźer Landsleute in Amerika kontaktiert und sie schickten mir zwei Mal eine kleine Geldsumme, die ich zusammen mit Dr. Wygodski und L. Mintsberg unter den Geflüchteten verteilt habe.

Die Łódźer Landsleute in New York haben die Geflüchteten vor Ort fast gar nicht unterstützt. Sie meinten, dass man aus den besetzten Gebieten rausfahren müsse (ihre Hilfe war faktisch nicht existent: zwei Mal hundert Dollar!). Das war ein schöner Wunsch. Nur leider ein nicht durchführbarer. In dieser Zeit konnte man aus Łódź schon so gut wie nicht raus. Sogar die Fahrt von Łódź nach Warschau war dann schon mit so großen Ausgaben verbunden, dass nur Einzelne das noch aufbringen konnten. Ganz zu schweigen von der Fahrt von Warschau nach Vilnius, die da quasi schon unmöglich war. Nur ganz wenigen ist das gelungen. […] Sehr viele Geflüchtete waren von ihren Familien getrennt, weil in erster Linie Männer und erwachsene Jugendliche geflohen sind. Frauen und Kinder blieben zurück. Und genau diese Männer harrten in Vilnius bis zum letzten Moment aus, um die hinterbliebenen Familien durch Pakete zu unterstützen. Viele Männer unter ihnen sind so in die Hände der Deutschen gefallen.

Andere wiederum hatten schwere Tragödien durchgemacht, weil ihre Familienmitglieder unterwegs beim Überqueren der Grenze von den Russen verhaftet worden waren. […]

Von Vilnius aus konnte man Pakete mit Lebensmitteln in die okkupierten Gebiete schicken. Alle Geflüchteten warfen sich darauf wie auf die einzige Möglichkeit, ihre Familien am Leben zu halten. Jeder verkaufte alles, was er hatte, alles, umso oft wie möglich Pakete schicken zu können. Von der anderen Seite, aus Łódź und Warschau, kamen zu mir ständig herzzerreißende Brief an, die von Hunger und Not erzählten. Und mit meinen bescheidenen Möglichkeiten habe ich sehr viel zu meinen Freunden und Kameraden geschickt. Das letzte Paket habe ich geschafft, an meinen Freund und Kameraden, dem Anwalt Yoysef Veytsman, in Warschau zu schicken. Um ein Paket verschicken zu können, musste man einen litauischen Pass haben. So haben wir, als Vilner, das bittere Schicksal der Geflüchteten etwas erleichtert.

    Fußnoten

  • 1Sejm ist die Bezeichnung für eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung.
  • 2Eine Jeschiwah ist eine jüdische Bildungseinrichtung für religiöse Studien.
  • 3Ein jüdisches Krankenhaus in Vilnius für Patienten, denen es nicht möglich war, den Aufenthalt zu bezahlen.

In der Zwischenkriegszeit war Mendel Balberyszski Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey (Volkspartei), um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem (Brotgeber). 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit.

In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam. Er war einer unter vielen, insbesondere Männern, die den Weg hierher fanden. Allerdings hatte er den Vorteil, selbst aus Vilnius zu stammen und so auf gewisse Strukturen und Privilegien zurückgreifen zu können, die er zur Unterstützung anderer Geflüchteter verschiedenartig einsetzte. Im Gegensatz zu vielen blieb Balberyszski in Vilnius. Die meisten suchten nach Möglichkeiten, weiterzufliehen. Andere fühlten sich an Vilnius gebunden, da von hier der Kontakt und die Unterstützung von Hinterbliebenden in den okkupierten polnischen Gebieten noch möglich war.

Nach der deutschen Besatzung Litauens, überlebte Balberyszski die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn: Iberlebungen in der Hitler-tkufe („Stärker als Eisen: Überleben in der Hitlerzeit“) veröffentlicht.

Exzerpt:

Balberyszski, Mendel, 1967: Shtarker fun ayzn: Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1. Tel Aviv: HaMenorah, S. 88–90.

Von der Steven Spielberg Digital Yiddish Library des Yiddish Book Center.

Übersetzung ins Deutsche © Minor Kontor.