Gaus: Als Sie 1933 Deutschland verlassen haben, sind Sie nach Paris gegangen, wo Sie in einer Organisation arbeiteten, die jüdische Jugendliche in Palästina unterzubringen versuchte. Können Sie mir darüber etwas erzählen?
Arendt: Ja wissen Sie […] das würde mich zu weit führen. Ich will Ihnen sagen, was es war: Es war die Jugend-Alija, eine Organisation, die in Deutschland auf Veranlassung von Recha Freier gegründet worden war, und zwar schon ‘32, und dann ‘33 natürlich ganz groß wurde und dann von Henrietta Szold in Amerika geführt wurde, organisatorisch, Recha Freier in Deutschland, Henrietta Szold dann in Palästina. Diese Organisation brachte jüdische Jugendliche und auch Kinder – aber bei Kindern, damit hab ich nichts zu tun gehabt – zwischen dreizehn und siebzehn Jahren aus Deutschland nach Palästina und hat sie dort in den Kibuzzim untergebracht. Daher kenne ich diese Siedlungen eigentlich verhältnismäßig gut.
Gaus: Und aus einer sehr frühen Zeit.
Arendt: Aus einer sehr frühen Zeit; ich habe damals einen sehr großen Respekt davor gehabt, wie diese Sache vor sich ging. Die Kinder empfingen eine Berufsausbildung, Umschulausbildung. Nun, in Frankreich lag die Sache so, dass die Flüchtlingskinder, wenn sie vierzehn Jahre alt waren und die Schule beendeten, keine Arbeits- und keine Berufsausbildungserlaubnis bekamen. Und infolgedessen wurden Zertifikate nach Frankreich abgezweigt für Flüchtlingskinder. Und ich habe hier und da auch polnische Kinder untergeschmuggelt, weil das natürlich auf eine Bevorzugung der aus Deutschland Stammenden hinauslief. Und das habe ich mit sehr großem Vergnügen gemacht, es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit. Man hatte große Lager auf dem Lande, wo die Kinder vorbereitet wurden, wo sie auch Stunden hatten, wo sie Landarbeit lernten, wo sie vor allen Dingen zunehmen mussten. Man musste sie von Kopf bis Fuß anziehen. Man musste für sie kochen. Man musste vor allen Dingen für sie Papiere beschaffen, man musste mit den Eltern verhandeln – und musste vor allen Dingen auch Geld besorgen. Das blieb mir auch noch weitgehend überlassen. Ich habe mit französischen Frauen zusammengearbeitet. Also das war ungefähr die Tätigkeit. Nun aber, der Entschluss überhaupt, aus der Tätigkeit vorher [diese Arbeit zu übernehmen]: Wollen Sie es hören oder wollen Sie nicht?
Gaus: Bitte.
Arendt: Sehen Sie, ich kam aus einer rein akademischen Tätigkeit. Und in der Hinsicht hat das Jahr ‘33 bei mir einen sehr nachhaltigen Eindruck gemacht. Und zwar erstens positiv und zweitens negativ – oder ich möchte sagen: erstens negativ und zweitens positiv. Man denkt heute oft, dass der Schock der deutschen Juden ‘33 sich damit erklärt, dass Hitler die Macht ergriff. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, dass das ein kurioses Missverständnis ist. Das war natürlich sehr schlimm. Aber es war politisch. Es war nicht persönlich. Dass die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! Das war doch seit mindestens vier Jahren jedem Menschen, der nicht schwachsinnig war, völlig evident. Dass ein großer Teil des deutschen Volkes dahinterstand, ja, das wussten wir ja auch. Davon konnten wir doch nicht ‘33 schockartig überrascht sein.
Gaus: Sie meinen, der Schock lag 1933 darin, dass es vom allgemein Politischen ins Persönliche gewendet wurden?
Arendt: Nein, nicht einmal. Oder: das auch. Erstens wurde das allgemein Politische ein persönliches Schicksal, sofern man herausging. Zweitens aber wissen Sie ja, was Gleichschaltung ist. Und das hieß, dass die Freunde sich gleichschalteten! Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, [vorging]: Vor allem wegen dem plötzlichen Verlassen, es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Nun, ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen das [die Gleichschaltung] sozusagen die Regel war; und unter den anderen nicht. Und die Geschichte hab ich nie vergessen. Und mit einer Sache ging raus aus Deutschland, wie ich damals dachte – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Nich, ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, dass deutsche Juden oder deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf zusammen. Ich spreche heute in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber als damals …
Gaus: Ich wollte Sie gerade fragen: Glauben Sie das noch?
Arendt: Ja, wissen Sie, nicht mehr in dieser Schärfe. Aber dass es im Wesen dieser ganzen Sachen liegt, dass man sich sozusagen zu jeder Sache etwas einfallen lassen kann […] Sehen Sie, dass jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat ihm nie ein Mensch übelgenommen. Das Schlimme war doch, dass die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Das heißt: Zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge, nich! Ganz phantastische und interessante und komplizierte! Und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Das heißt, sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle, würde ich heute sagen. Nich, das ist das, was passiert ist. Das habe ich damals nicht so übersehen.
Gaus: Und deswegen lag ein besonderer Wert, wenn ich Sie recht verstehe, für Sie darin, aus diesen Kreisen, von denen Sie damals ganz absolut Abschied nehmen wollten, […] aus der akademischen Arbeit in eine praktische Sozialarbeit zu kommen?
Arendt: Ja, jetzt die positive Seite ist folgendes: Ich habe damals immer wieder gesagt einen Satz, darauf besinne ich mich: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.“ Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so. Sondern ganz konkret: Wie kann ich, was kann ich machen? Zweitens: Jetzt will ich mich auf jeden Fall in der Tat organisieren. Zum ersten Mal. Und organisieren natürlich bei den Zionisten. Das waren ja die einzigen, die bereit waren. Ich meine, bei den Assimilanten, das hätte ja gar keinen Sinn gehabt. Ich habe damit übrigens wirklich nie etwas zu tun gehabt. Mit der Judenfrage selber hatte ich mich vorher beschäftigt. Die „Rahel Varnhagen“ war fertig, als ich Deutschland verließ. Und dort spielt das Judenproblem ja eine Rolle.
Gaus: Das war eine Forschungsarbeit im Auftrag der Hilfsgemeinschaft.
Arendt: Die Notgemeinschaft, ja, ich hab das Stipendium von der Notgemeinschaft gehabt, das übliche Stipendium. Das habe ich damals auch [verfasst] im Sinne von: „Ich will verstehen.“ Es waren nicht meine persönlichen Judenprobleme, die ich da erörterte. Aber jetzt war es [die Zugehörigkeit zum Judentum] mein eigenes Problem geworden. Und mein eigenes Problem war politisch. Rein politisch! Ich wollte in die praktische Arbeit und – ich wollte nur in die jüdische Arbeit. Und in diesem Sinne habe ich mich dann in Frankreich orientiert.
Gaus: Bis zum Jahre 1940.
Arendt: Ja.
Am 16. September 1964 fand ein Interview zwischen der politischen Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) und dem Journalisten Günter Gaus (1929–2004) statt, dass Berühmtheit erlangen würde. Seit 2013 haben mehr als eine Millionen Menschen das Interview auf Youtube gesehen. In diesem Exzerpt spricht Arendt über ihre Arbeit für die zionistische Organisation Jugend-Aliyah, für die sie in Paris zu arbeiten begann. Die Organisation bemühte sich, jüdische Jugendliche auf die Emigration und das Leben in Palästina vorzubereiten und das nötige Geld und Papiere bereitzustellen. Für Arendt, die bis dahin nur wissenschaftlich gearbeitet hatte, war der Schritt zum politischen Aktivismus und praktischer „Sozialarbeit“ nach ihrer Flucht ein großer, jedoch ein instinktiver. Es galt nicht nur aktiv Leben zu retten, sondern sich auch als jüdische Person zu wehren und so konkreten Widerstand zu leisten. Die Phänomene zu verstehen, die ihr Leben prägten, der Faschismus/Totalitarismus, Staatenlosigkeit und Geflüchtetendasein, und der Zusammenhang zum Jüdischsein, würde sie ihr Leben lang beschäftigen.
Hannah Arendt war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im Jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.
Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.