Erwin Kisch über das Pariser „Ghetto“

Der österreichisch-jüdische (später tschechoslowakische) Schriftsteller, Journalist und Reporter Egon Erwin Kisch (1885–1948) liefert mit seiner 1934 veröffentlichten literarischen Reportage „Notizen aus dem Pariser Ghetto“ eine ebenso informativen wie unterhaltsamen Milieuschilderungen der schon etablierten jüdischen Gemeinde in Paris aus der Perspektive eines geflüchteten Neuankömmlings.

Notizen aus dem Pariser Ghetto

1. Notiz: Ein wahrer Bürgerkrieg um den Begriff „koscher“ spielt sich auf den Firmenschildern der Nahrungsmittelgeschäfte im Quartier Saint Paul ab. Bislang hat man geglaubt, dieses Wort besage, dass Speisen den rituellen Vorschriften entsprechen, bislang hat man geglaubt, dass das, was nicht koscher ist, einfach trefe sei und dass das Eigenschaftswort „koscher“ keiner Steigerung unterliege.

Nunmehr erfährt man, dass es sich mit der Bezeichnung „koscher“ verhält, wie anderswo mit der Bezeichnung „national“: die eine Partei, na ja, sie ist national, die andere, allerdings, ist nationaler, die dritte, das muss man zugeben, ist am nationalsten, aber meine Partei ist die aller-, allernationalste, und wenn du ihr nicht anhängst, so bist du ein National-Verräter. Ähnliche Lizitationen gibt es also beim rituellen Essen in Paris. Ein einziger Fleischerladen in der Rue des Ecouffes begnügt sich mit den drei Konsonanten: koscher. Dieses schlichte Bekenntnis wird von der angrenzenden Boucherie, Charcuterie et Triperie angezweifelt, sie blinzelt vielsagend auf das Nachbargeschäft und sagt von sich: „emes koscher“, ich bin wahrhaft koscher.

Was nützt ihr das, ihr Konkurrent auf der anderen Strassenseite rühmt sich, die „Schomre Hadas“, die Hüter des Glaubens zu beliefern, sodass selbst der Aller-, Aller-Orthodoxeste ruhig von hier sein Lämmernes und – zumal die Firmentafeln auch den Verkauf von „Ojfes-Volailles“ anzeigt – sein Gänseklein beziehen darf.

Man kann noch sicherer gehen: an der Ecke ist ein Fleischer, der sich einerseits als eine Maison de Confiance bezeichnet, andererseits aber nicht glaubt, dass seine Kunden Confiance zu ihm haben, weshalb er sich der „Haschgoche von bewussten Row Horaw Reb Joel Halewi Herzog, schalito“ unterstellt hat.

Natürlich wird die Beteuerung strenger, strengerer und strengster Ritualität ausschließlich in hebräischen Buchstaben plakatiert, die Übersetzung ins Französische sagt nichts davon, und auf dem gleichen Laden links von der Verkündigung „Adas Jisroel“, höchst orthodox, lautet der französische Text: „Boucherie moderne“.

Wie man sieht, ist das alles recht doppelzüngig. Am ehesten kann man wohl dem Restaurant Haifa in der Rue Vieille du Temple vertrauen. Denn erstens steht dort auf der (an der Fassade angeschlagenen) Speisekarte: „Koscher lemhadrin min lemhadrin“ – koscher für die Strengsten der Strengen, und zweitens macht man dort keine Übersetzungstricks wie bei der Fleischerei, die nach links moderne und nach rechts Adas Jisroel sein will. Hier im „Haifa“ sind die Übersetzungen wörtlich. An der Tür zum Beispiel steht „Fermez la port, s.v.p.“ und, da man den Gästen nicht zutraut, genug französisch zu können, ist darunter geschrieben: „Bitte zu fermachen der Tür beim Herausgehn.“

2. Notiz: Pain Azymé heisst Mazzes auf französisch. Kein Mazzesbäcker in Schepetowka oder Berditschew hat je geahnt, dass seine Nachfahren das gleiche Gewerbe in Paris betreiben und über ihrer Backküche die stolzen Worte prangen werden: „Fabrique du pain azymé.“ Und als der alte Moses vor dreieinhalbtausend Jahren seine strenge Verordnung erliess, zur Erinnerung an die Leiden der Wüstenwanderung sei alljährlich eine Woche lang ungesäuertes Brot zu essen, ahnte er auch nicht, was aus diesem Befehl werden würde. Im

Im Pariser Ghetto, „Le Plätzl“, bekommt man das ganze Jahr Mazzes zu kaufen, aus einer Sache der Entsagung, aus einer Fastenspeise ist ein Leckerbissen geworden.

3. Notiz: Napoleonische Proklamationen, keine Schlagworte und nicht die sonst übliche knappe Geschäftsreklame, wahrlich napoleonische Proklamationen sind es, die da auf grossen Laken über kleinen Kramläden prangen:

„Unsere neue mechanische Mazzefabrik laut dem System von die amerikanische Mazze, was werden gebacken sauber, von besten Mehl, streng koscher, die geschmacksvollste Mazzes von ganz Paris. Fordert überall die Parisser Mazzes, weil sie sennen garantiert. Jeder Mazze tragt die Nummer 1934. Wir haben bekommen a goldene Medaille in der Ausstellung von 1932. Die Mazzefabrik ist unter der Haschgoche von Raw Joel Halewi Herzog.“

Über den Eingang eines Hauses ist eine Fahne mit der Inschrift gespannt:

„Da in Hof hat sich geöffnet a neue Epicerie, was verkauft sehr, sehr billig. Die beste und frischste Sschojre. Überhaupt die beste Früchte und die grösste Eier, wie in Halles. Auch alle Weinen und pessachdige Produkten, beherscher Horaw Herzog. Es wird übergeschickt alles zuhaus. Ihr werdt viel Geld einsparen.“

Auch der Strassenhändler erlässt Manifeste, insbesondere wenn er seinen Standplatz gewechselt hat:

„David Sonenbloum, was ist hier gestanden in Tor, hat sich gemacht a Butik in Hof von alles und verkauft billiger wie überall. Kommt herein sich überzeugen, werdt Ihr erstaunt werden. Raisins, Bananes, Oranges, Appyl, Barnes, Pommes de terre, Tomates, Cibelos, Karottes, Asperges. »

Nachdem er alle Arten von Gemüse aufgezählt hat, betont er mit grossen Buchstaben, was er ausserdem führt: „Légumes!“

4. Notiz: Nicht schon damals, als Ludwig XVI. mit Weib und Kind von den Frauen der Halle aus Versailles nach Paris eskortiert wurde, und die Grandseigneurs und Marquisen nach Koblenz flüchteten, haben sich die Juden in den dadurch freigewordenen Pariser Prunkvierteln, im Quartier du Marais und im Quartier du Temple eingemietet, im Winter 1789 zogen nur die obdachlosen Pariser christlichen Glaubens, männliches und weibliches Elendenvolk, in das verlassene Viertel ein. So wurde dieses ein besonders verrufenes und besonders billiges, wodurch es später den armseligen Pogromflüchtlingen aus Polen und Russland als geeignete Heimstätte dienen konnte.

Alles ist noch da, die Paläste, das Elendenvolk und die Juden, und alle drei Faktoren sind in den letzten 150 Jahren nicht schöner geworden. Was die Paläste anlangt, kann man nur sagen: sic transit gloria mundi. Da hat zum Beispiel im haus Nr. 16 der Rue Charlemagne die Königin Bianca residiert, Mutter des Heiligen Ludwig; jetzt ist Madame Korenbloum, sage-femme, im Transitverkehr der gloria mundi hierhergeraten, und im dritten Stock wohnt David Chmoulkowicz, dessen Amt es ist, die mit Hilfe von Mme. Korenbloum zur Welt gekommenen Knaben zu beschneiden.

An der Stelle des Hauses Nr. 8, Rue Jardins de St. Paul, stand früher dasjenige eines Mannes, der in seiner Art von Frankreich nicht weniger verehrt wurde, als der Heilige Ludwig, nämlich des unheiligen Rabelais. Er ist hier, wo heute Jacques Axelchevaisse seinen Handel mit Därmen betreibt, gestorben und wurde auf dem Cimetière de St. Paul bestattet.

Auf diesem Kirchhof waren auch andere bekannte Leute begraben und ein Unbekannter, eben durch seine Unbekanntheit in der Geschichte bekannt: der Mann mit der eisernen Maske. Wer aber aus dieser Mitteilung die Hoffnung schöpfen wollte, man könne nun einfach durch Exhumierung den aus Eisen gegossenen Schleier jenes Bastillesträflings lüften, der würde sich irren, denn vom Friedhof St. Paul ist nur noch der Torbogen da, die Gräber sind weg, keine Spur mehr von dem Gebein des Rabelais, vom Mann mit der Eisenmaske und den anderen Toten ihrer Zeit. In der Passage St. Peter, die von der St. Paul-Strasse zur St. Antonius-Strasse führt, und wo sich jener Friedhofsbogen wölbt, hat heutzutage Maurice Finquellchtain sein Gewölbe, darin er Wein und Kohle verkauft.

Rue St. Paul Nr. 36 war das Gefängnis St. Eloi, das Haus daneben Verwaltungsgebäude, und Nr. 12 der Rue Charles V. das Hotel des Sieurs Antonine d’Aubray. Dessen Töchterchen hat auf dem edel geschnitzten, noch immer gut erhaltenen Treppengeländer gespielt, bevor sie den Marquis von Brinvilliers heiratet und zur berühmtesten Giftmörderin aller Zeiten wurde. Vielleicht hat das Kind schon damals von seiner todbringenden Zukunft geträumt, nicht aber liess es sich träumen, die Trockenwohnerin von Nonnen und Handelsjuden zu sein. Die Kongregation frommer Schwestern passt ebensowenig in das Haus der teuflischen Giftmischerin, wie zu der Nachbarschaft von Mazzesbäckern und einer Bonbonfabrik. In der Rue Geoffroy d’Asnier, gegenüber dem Palazzo des Kardinals Rohan, der dem Schwindler Cagliostro hineinfiel, diskutieren Anarchisten allabendlich über individuelle Revolution und staatslosen Kommunismus, und im Hotel Rohan selbst, dort wo er die Juweliere empfing, die die teuersten Perlen und Diamanten der Welt zu einem Halsband für die Königin zusammenstellen sollten, kleben jüdische Heimarbeiter Kautschukmäntel für das Warenhaus Samaritaine, vier Francs beträgt der Lohn pro Mantel, zehn Sstück könnte man in zehnstündiger Arbeit herstellen, wenn es so viel Arbeit gäbe.

5. Notiz: Der Geist des Ortes, ein stockkonservativer Geist, lagert noch immer über diesem einst aristokratischen Stadtteil. Sind auch Allongeperrücken und Atlashosen nicht einmal mehr Objekte des Altkleiderhandels, ihre Zeitgenossen, die Zierlocken und Kaftane, gehen nach wie vor durch die Gassen. Die Plätzl-Bürger sind in patriarchalischen Gedankengängen befangen, eine Mischehe gilt ihnen als so entehrend, wie den Urbewohnern eine Mesalliance, und die Synagoge in der Rue Pavé steht ebenso hoch im Kurs wie für die Herren der Liga die Kirche von St. Paul.

An den hohen Feiertagen gleicht der Pfarrsprengel von St. Paul den ostjüdischen Gemeinden von Polen und Rumänien, mit dem Unterschied, dass dort die Zahl der Synagogen und Betstuben stabil, der Zahl der Interessenten angepasst ist, während im Plätzl die Fluktuation alle Berechnungen über den Haufen wirft. Birobidschan leert, Hitler füllt. Alle Tanzsäle werden am Versöhnungstag zu Gotteshäusern, kaum gibt es in der Gegend ein Haus, in dem nicht vom Parterre bis zum fünften Stock die Wohnunen zu Betstuben umgewandelt sind, pendelnde Körper unter seindenen Vollbärten und Gebetmänteln füllen die Zimmer und die um die Höfe führende Galerie so beängstigend, dass man fürchtet, das Geländer werde abbrechen. Vor dem Hauseingang warten Kinder, (Knaben in Samtanzügen, Mädchen in hellen Festkleidern) bis „geleint“, unwichtige Partien des Gottesdienstes abgehaspelt, und Papa und Mama auf der Gasse erscheinen werden.

Auch die „Freigeister“ verbringen den heiligen Tag in der Synagoge. Diamantennepper aus der Rue Lafayette, Börsenmakler aus der Rue du Quatre-Septembre, „Macher“, die von der Behauptung leben, dass sie den Staatenlosen und Dokumentenlosen Ausweispapiere und Arbeitsbewilligung verschaffen können, – alle vereinigen sich heute zu dem Massenchor des Hustens und des Herunterleierns hebräischer Wörter.

Chassidim, Männer von berufsmässiger Frömmigkeit, sind Stimmführer des Chors, Die typischen Typen des Ghettos, wie Itzele Menagen und Ephraim Tzizik, die sonst in den Cafés ihre aktuellen jüdischen Lieder verschleissen, husten und beten mit.

Es husten und beten mit: Wähler des Sozialdemokraten Léon Blum, es husten und beten mit: Anhänger des kriegerischen Zionisten Jabotinski, es husten und beten mit: Nachbarn Schwarzbarts, der den Pogrom-General Petljura erschoss, es husten und beten mit: Freunde des anarchistischen Atamans Machnow, es husten und beten mit: Gesinnungsgenossen des Menschewiken Abramamowitsch, es husten und beten mit: Kleiderhändler vom Carreau du Temple, und es husten und beten mit: Besitzer der „Ateliers“, in denen man Bastschuhe flicht, Trikotagen strickt, Hosen schneidert, Ledermäntel steppt, Gummimäntel klebt, Damenmäntel plättet, Wäsche näht, Mützen macht oder Handtaschen mit „Pontschkes“ (Griffen) versieht. Es beten und husten nicht mit und sind überhaput nicht da: die Arbeiter der Kleinbetriebe.

Auf der Frauengalerie erörtert man das Schicksal von bas-jechide Chane, Hanna, der einzigen Tocher, die im Fortsetzungsroman der Zeitung „Heint“ an jedem zweiten Tag von Mädchenhändlern entführt wird, um sich in den dazwischenliegenden Tagen vom treuen Liebhaber retten zu lassen. Eine ortsfremde Nachbarin verstünde die Gespräche schwerlich. „Meine Fiess gehen schon in die école,“ heisst keineswegs, dass ihre Füsse schon in die Schule gehen, sondern ihre Söhne, fils.

Die Sitzplätze für den Tempel sind an den hohen Feiertagen nicht billig, für den Armen bedeutet diese Ausgabe, dass er auch am Tag nach dem Fasttag fasten muss, und selbst der Wohlhabende gibt nicht gern so viel Geld für unproduktive Zwecke aus. Aber was soll man machen, einmal im Jahr muss man schon das Opfer bringen, den lebenden Kindern zuliebe, damit sie fromm werden, und den toten Eltern zuliebe, die immer sehr fromm waren, – ohne dass es ihnen den Pogrom und ihren Nachkommen die Flucht ins Pariser Plätzl erspart hätte.

6. Notiz: Restaurants halten am Fasttag geschlossen, und erleben am Abend einen vervielfachten Ansturm hungriger Mäuler. Die billigen affichieren „Pri figs“ und „Brojd a Dischkretion“, die teuren haben weisse Tischtücher, und viele ihrer Gäste tragen das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch. „Tous les jours spécialités des krépleches“ verzeichnen die Speisekarten, ferner „Poissons farcis“, „Nüdelach avec Paveau », « Lokczen kes », « gefilté kiczke avec Ferfel“, (man beachte den Accent aigu auf dem e. damit der gelernte Franzose es nicht etwa verschlucke) oder „Roti de veau avec kaché“. „Scholet“ wird Scholet geschrieben, ein Konservatismus fehl am Ort, denn gerade dieses Wort soll aus dem Französischen abgeleitet sein: man legte die „süsse Götterspeise“ am Freitagabend ins warme Bett (chaud lid), um sie am Samstag warm zu geniessen, ohne den Ofen zu heizen, was die Religion verbietet.

Fourneau-alimentaire, die öffentliche Garküche, wird von Rothschild unterhalten. Rothschild ist ein berühmter Name in der Judenheit, kann’s einen berühmteren geben? Es gibt einen, der berühmter ist oder wenigstens berühmter war. Den Namen des Capitains Dreyfus. Dieser selbige Capt. Dreyfus amtiert gerade gegenüber als Inspektor der école de travail,

einer Fortbildungsschule für jüdische Lehrlinge. „Er kümmt presque jamais,“ sagt der Schuldiener achselzuckend, „was wollt‘ Ihr, aujourdhui ist er ein vieillard.“

7. Notiz: Im Einfahrtstor der alten Adelssitze legen Trödler ihr ganzes Warenlager an verbeultem Geschirr, zerbrochenen Leuchtern und zerschlissenen Kleidern aus. Die steinernen Karyatiden, Zeugen vergangenen Glanzes, müssen sich eine Schiefertafel gefallen lassen, auf der mit Kreide jeden Tag der Kurs von Stoffresten, Altpapier, Eisenstücken und Holzabfällen notiert wird. Auf französisch hat diese Ware den an Brokat erinnernden Namen „brocante“, auf jiddisch aber heisst sie nur „Schmattes“. Im barocken Hof liegen alte Wäschestücke und andere Lumpen zuhauf. Das Seitenpförtchen, einst von Lakaien benützt, und manchma von der Marquise als Durchschlupf zu heimlichen Liebesabenteuern, ist heute für die Wohnungsinhaber zum Haupteingang geworden.

Der Chiffonier, der Lumpenhändler im engeren Sinn, lebt nur von Hadern und Altpapier, leer ist das Schaufenster seines winzigen, modrigen Ladens. Viele haben nach Beginn des Hitlerterrors die erblindete Glastür ihres Geschäftchens über und über mit bedruckten Zetteln beklebt: „Les représentants des maisons allemands ne sont pas reçu.“

Groteske Vorstellung: die Vertreter deutscher Handelshäuser, steife Herren im Pelz, ein Paket zerschlissener Hadern unter dem rechten Arm, einen Stoss alter Zeitungen unter dem linken Arm, wollen bei dem Schmatteshändler in der schmutzig-schmalen Rue du Prévot vorsprechen, da erblicken sie diese Affichen und ziehen enttäuscht von dannen.

Ach, es ist nicht zum Lachen. Der arme Lumpenkleinbürger hat die Boykottpropaganda ernst genommen, mit der die nationalen und religiösen Juden vorgaben, gegen die Verfolgung ihrer Glaubensgenossen in Hitlerdeutschland protestieren zu wollen. In ohnmächtigem Fanatismus hat er sein winziges Gewölb mit den Boykottzetteln tapeziert, und sicherlich würde er kein noch so günstiges Geschäft mit dem Feind abschliessen. Seine reichen „Mitstreiter“ aber denken nicht eine Sekunde lang an ihre Parolen, wenn ein Profit lockt, und der Grosshändler, an den der kleine Chiffonier seine Waren weiterverkauft, handelt ohne Gewissensbisse mit Nazideutschland, ob er, der Grosshändler, nun Jude ist oder Franzose oder beides. So hat der grossmäulige angekündigte Warenboykott die Flut der Greuel und Scheuel nicht eingedämmt, und die Gebete in der Rue Pavé und das koschere, koscherere und koscherste Fleisch und das Mazzes-Essen und das religiöse Fasten helfen weder den Juden im allgemeinnen vor Vorfolgung, noch retten sie den armen Chiffonier aus seiner Armut.

Aber im Plätzl leben nicht nur Kleinbürger, im Plätzl leben wie in Belleville und am Montmartre zehntausende anderer Juden, solche, die wissen, dass im faschistischen Reich nicht ihre Glaubensgenossen, sondern ihre Klassengenossen gemordet und gemartert werden, die wissen, dass es kein Bündnis gibt zwischen Arm und Reich, dass Solidarität auf Grund von Religion und Rasse utopisch ist. Diese Anderen wissen, dass sie die Genossen hingerichteter, eingekerkerter oder illegal weiterarbeitender deutscher Arbeiter sind, diese Anderen kleben keine Boykottzettel, diese Anderen kämpfen geschlossen gegen Dumpfheit und Reaktion und für eine Welt ohne Ghetto und ohne Klassen.

Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus und wurde als „rasender Reporter“ bekannt. Bis 1913 arbeitete der 1885 in Prag geborene Sohn eines jüdischen Tuchhändlers als Lokalreporter für die Tageszeitung „Bohemia“ in Prag. Im Mai 1919 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs.

Einen Tag nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933, wurde Kisch verhaftet und wegen „dringenden Verdachts der Teilnahme am Hochverrat“ in das spätere Kriegsverbrechergefängnis Spandau gebracht. Kisch war zunächst österreichisch-ungarischer und nach dem 1. Weltkrieg tschechoslowakischer Staatsbürger. Nach der Intervention der Botschaft der Tschechoslowakei wurde er im März freigelassen, an die deutsch-tschechoslowakische Grenze abtransportiert und aus Deutschland ausgewiesen.

1934 floh Kisch nach Paris und engagierte sich sofort für den antifaschistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Seine Bücher erschienen nun bei deutschen Emigratenverlagen in Paris und Amsterdam. So wurde sein „Geschichten aus Sieben Ghettos“ vom Amsterdamer Allert de Lange Verlag veröffentlicht.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 wurde Kisch als „politisch unsicherer Ausländer“ durch die französischen Behörden zwangsweise in ein Dorf bei Versailles deportiert und dort unter Polizeiaufsicht gestellt. Dank der Hilfe von Gilberto Bosques, des mexikanischen Generalkonsuls in Paris, erhielt er ein Visum und floh Ende 1939 auf den amerikanischen Kontinent, wo er sich vorerst in Mexiko-Stadt niederließ. 1946 re-emigrierte er nach Prag, wo er sich im politischen Leben engagierte. Als langjähriger Kommunist befürwortete er das „neue System.“

Kisch, Egon Erwin, 1934. Geschichten aus sieben Ghettos. Amsterdam, Allert de Lange. 181–194. Einband und Zeichnungen von P.L. Urban.