Im Jahre 1933 waren Paris und Frankreich für uns so fremd und so unbekannt wie ein anderer Kontinent. Das Bild vom Erbfeind, das uns als Kindern im Ersten Weltkrieg und auch später noch in unseren Studentenjahren aufgedrängt worden war, hatten wir mit unseren Verständigungs- und Friedensidealen nicht angenommen, wir konnten es aber auch nicht durch bessere Informationen oder Erfahrungen ersetzen. Die Frage „Wer ist dieser aus der alten Welt des Nationalismus stammende Erbfeind, wie lebt er, was denkt er, was will er?“ würde uns die neue Welt, in der wir jetzt lebten, beantworten.
Die ersten Reaktionen auf die große fremde Stadt waren von ganz anderen Eindrücken geprägt als denen, die touristische Neugierde erfährt. Augen, Ohren, alle Sinne waren auf Bewegung und Geräusche in den Straßen, auf den Singsang der Sprache, auf Kleidung und Bewegung der Menschen, auf Waren in den Läden und all die neuen, oft befremdlichen Dinge des Alltags eingestellt. Im heutigen Jargon würde man sagen, man war auf die Suche nach der Basis eingestellt, auf den Rhythmus des Alltags und der Arbeitswelt, zu der man eine Beziehung finden mußte, um in ihr leben zu können.
Diese Erfahrung war in der damaligen, noch sehr statischen Gesellschaft, in der Massenauswanderungen unbekannt waren, sehr neu. Es gab wohl die russische Emigration nach dem Westen, die aber von den Deutschen in ihren eigenen Wirren nur begriffen wurde, wenn sie mit ihr unmittelbar in Berührung kamen. Paris war für die deutsche Emigration ein Erlebnisneuland, das noch keine Erfahrungsrichtlinien bot. Viele lernten es erst nach längerer Zeit und mit schmerzlichen Erfahrungen kennen und gestalten. Alle mußten lernen, daß man von einem Gastland nicht erwarten konnte, es solle sich der verstörten und zerstörten Welt der Emigranten anpassen, sondern daß der ein Asyl suchende Flüchtling die Anpassung von sich aus zu leisten hatte.
Auch uns überfiel, kurz nach unserer Ankunft am Gare de l’Est, das Gefühl der Verlorenheit vor dieser fremden und befremdenden Umwelt. Farben, Geräusche, Gerüche, Häuser, Straßenbild, die ganze Dynamik dieser Stadt waren neu, ungewohnt — die Fremde. Aber wir vertieften uns nicht in diese Stimmung, wir versuchten vom ersten Tag an diese Fremde näher kennenzulernen, damit sie uns nicht fremd blieb. Mit dem Ziel, eine Wohnung zu finden, begannen wir unsere Stadteroberung. Führer war der Stadtplan. Die durchzuackernden Arrondissements wurden aufgeteilt und die Erlebnis- und Erfahrungsausbeute am Abend in unser kleines Hotelzimmer eingebracht.
Eine unbekannte große Stadt von der Straße her kennenzulernen, ist anstrengend. Die im Grunde sehr guten und übersichtlichen Metro- und Busverbindungen mußten erst gelernt, der Wohn- und Bevölkerungscharakter der verschiedenen Arrondissements erst entdeckt werden. Die Romantik der anmutigen Melodie „Sous les toits de Paris“ erwies sich als oft schmutzige Armseligkeit, ungepflegte Bedürfnislosigkeit, Enge voller Gerüche und Lärm. Trotzdem wurde der Eindruck von natürlicher Lebensfreude niemals verwischt. In den kleinen Bistros, im Straßenhandel, in den mühsamen Gesprächen mit den Wohnungsvermietern lag etwas von menschlicher Anmut, von unbefangener Freundlichkeit, die Wärme und gar keine Aggressivität ausstrahlten.
Eine fast beruhigende Erfahrung in der erdrückenden Größe der Millionenstadt, die wir mit unseren armseligen Sprachkenntnissen und unzulänglichen Hilfestellungen zu erobern versuchten, bildete die Abgeschlossenheit jedes Arrondissements, das gleichsam wie eine Stadt für sich sein Eigenleben führte. Das Zentrum der Stadt, die historische Repräsentation Frankreichs, war eingerahmt von kleineren Städten, deren Bewohner oft die andern Stadtteile gar nicht kannten. „Je ne suis pas du quartier“, erhielt man oft zur Antwort, wenn man nach Straßen oder Bahnverbindungen fragte. Die Wohnungssuche reduzierte sich auf wenige Arrondissements, die am anziehendsten erschienen.
Nach längerem Suchen, vielem Treppensteigen, Zimmern mit wackligen Möbeln, durchgelegenen Betten, tropfenden Wasserhähnen, Blick auf graue Wände, fanden wir schließlich eine Bleibe, die äußerlich und auch menschlich Ansatzpunkte zum Leben und Arbeiten bot. Sie lag in einer schmalen Seitengasse an der Porte de Versailles, nahe der Seine, in dem Einfamilienhaus eines verstorbenen Architekten, dessen Witwe, eine gebildete, warmherzige Frau, eine kleine Pension daraus gemacht hatte mit Mittagstisch für Leute aus der nahen Umgebung. Sie bot uns ein großes, solide eingerichtetes Zimmer an mit eingebauten Wandschränken und einem gekachelten Badezimmer, einem großen Arbeitstisch vor dem breiten französischen Fenster, das auf die Straße ging. Dazu hatte sie ein waches Interesse an unserem Emigrantenschicksal und war zu jeder Hilfe bereit, damit wir unsere neue Umwelt begreifen lernten. Ihr Schwiegersohn, Lehrer und aktiver Sozialist, fühlte sich berufen, uns in Frankreichs politisches Leben einzuweihen, unser Französisch zu verbessern und uns mit Geduld praktische Ratschläge zu erteilen, die Neuankömmlinge so dringend brauchen. Wir hatten menschliche Hilfsbereitschaft und damit ein Stück Zuhause gefunden, einen guten neuen Schritt auf unserem Weg in eine neue, noch ungekannte Welt getan.
Die tägliche Arbeit begann mit Zeitunglesen, eine wirklich schwere Arbeit bei den spärlichen französischen Sprachkenntnissen, die wir besaßen. Eine zweite Informationsquelle war die Börse, die Herbert jeden Vormittag aufsuchte, um Gründe und Hintergründe des Wirtschaftsablaufs kennenzulernen. Meine Aufgabe war es, Archive anzulegen, vornehmlich zunächst aus Zeitungsausschnitten, um die technischen Grundlagen für journalistische Arbeit zu schaffen. Wir waren in den ersten Wochen völlig beherrscht von diesen Vorbereitungen für eine neue Lebensgrundlage und glücklich, davon beherrscht zu sein. Ein aktives Lebensgefühl erwachte wieder, eine Wiederentdeckung der eigenen Identität begann. Gewiß wurden wir von den Nachrichten über den wachsenden Naziterror und die Opfer der Verfolgungen immer weiter gequält, aber sie ließen uns nicht mehr in Verzweiflung untergehen, weil wir ein neues starkes Lebensgefühl dagegensetzen konnten.
Die ersten Monate absorbierten alle unsere Kräfte für den Aufbau einer neuen Existenz, die viele neue Kenntnisse verlangte, eine andere Sprache, die technische Beherrschung einer neuen Umwelt. Sie verbannte auch die Pracht und die Herrlichkeiten von Paris an den Rand der Erlebniswelt. Wir hatte keine Muße, die Champs Elysées, die Tuilerien, die Place de la Concorde zu genießen, immer waren wir beherrscht von der Aufgabe, die erledigt werden mußte. Ganz schüchtern im Hintergrund stand der Wunsch, vielleicht doch noch einmal die Zeit zu haben, dies alles erleben und in uns aufnehmen zu dürfen.
Die einzige Entspannung, die wir uns damals erlaubten, war das Vorstadtkino um die Ecke, mit harten Stühlen, Raucherlaubnis, Kleinkindern auf dem Schoß der Eltern, Produkten aus der Hollywood-Traumfabrik, aber auch mit lieben französischen Filmen, deren zarte menschliche Töne uns wohltaten. Es war aber an sich schon ein Fest, nach getaner Arbeit unter einem Volk sitzen zu dürfen, von dem wir keine feindliche oder aggressive Ausstrahlung zu fürchten brauchten.
Die Berichterstattung für das „Prager Tagblatt“ war, dank Herberts journalistischer Wendigkeit und Routine, wenige Wochen nach unserer Ankunft gut angelaufen. Kurz darauf kam ein neuer Auftrag. Der „Deutsche Volkswirt“, in dessen Redaktion Herbert einen guten Namen hatte, hatte von seinem Aufenthalt in Paris erfahren und ihn gebeten, monatliche Berichte über Frankreich zu übernehmen — natürlich unter Pseudonym. Damit war unsere Existenz — unser Zimmer und die Verpflegung — gesichert, und wir konnten unser mitgebrachtes Kapital, das aus 2000 Reichsmark bestand, als Notgroschen zurücklegen. Natürlich wußten wir auch, daß dieser Auftrag jederzeit wieder zurückgezogen werden konnte, aber er war eine willkommene Überbrückung und ein Zeitgewinn bis zur Herstellung neuer Kontakte.
Herbert fand solche Kontakte zunächst in Holland. Besuche bei seiner Familie (Mutter, Schwester, Schwager und Kind) in Amsterdam benützte er, um mit der führenden niederländischen Wirtschaftszeitschrift, den „Economisch-Statistischen Berichten“, in Verbindung zu treten und ihr eine regelmäßige Berichterstattung über Frankreich anzubieten. Nachdem seine ersten Artikel dort erschienen waren, wurde er auch vom „Economic Weekblad voor Nederlandsch-lndie“ (Batavia) zur Berichterstattung über Frankreich aufgefordert. Ende 1934 hatten wir bereits die Berichterstattung für vier Blätter übernommen.
Dieser Erfolg konnte nur durch die disziplinierte Konzentration Herberts, seine rasche und intelligente Fähigkeit, Fakten zu verarbeiten und wiederzugeben, erreicht werden. Er diktierte damals seine Artikel druckreif in die Maschine. Mein Beitrag bestand aus unermüdlicher Handlangerarbeit, einem unermüdlichen Eifer zu lernen, zu verstehen, zu kombinieren und mir auch meine Meinungen zu bilden. Als studierte Volkswirtin brachte ich auch einige Voraussetzungen mit und konnte mich langsam vom Handlanger zum kleineren Partner emporarbeiten.
Der Kampf um eine Existenz, der zunächst alle Kräfte absorbiert hatte, war nach etwas über einem Jahr aus der harten ersten Phase voll Risiken und Unsicherheiten übergegangen in einen Zustand, der uns zwar ständige Beweglichkeit, aber nicht mehr zähneknirschende Mühen abverlangte. Die Empfänglichkeit und das Interesse an einer größeren Umwelt hatten nun Raum zu wachsen. Paris öffnete sich.
Bauwerke, Museen und Bibliotheken vermittelten uns Wissen und Verständnis der französischen Geschichte. In langen Sonntagswanderungen erschloß sich uns die liebliche Landschaft um Paris, die Wälder von Meudon, Marly, St. Cloud, in denen an milden Herbsttagen die Bäume noch einmal ausschlugen. Wir tanzten am 14. Juli von der Bastille bis ans andere Ende von Paris zur Porte de Versailles unter dem Volk, mit dem Volk, dankbar, endlich die Phasen des Befremdetseins und der Fremde überwunden zu haben und in eine Welt eingetaucht zu sein, die Freude, Anregung und Lebensmöglichkeit bot.
Das Paris der dreißiger Jahre war eine ergraute Stadt, vom Louvre über die Champs Elysées bis hinein in die Vorstädte. Das Grau der Wände gab den alten Prachtbauten eine altehrwürdige Patina, einen antiken Charme, und den Vorstädten die Atmosphäre einer seit langem statischen Welt. Die Unruhe, die auch schon dieses Land erfaßt hatte durch Wirtschaftskrisen, politische Führungsprobleme, vor allem auch durch die Ereignisse jenseits der Grenzen, war für Fremde noch kaum erkennbar. Einige Monate nach unserer Ankunft kam vormittags über Radio die Meldung, daß eine Demonstration gegen die derzeitige Regierung über die Champs Elysées ziehe und Gewaltakte zu befürchten seien. Als ich kurz nach 12 Uhr mittags dort ankam, herrschte auf den Champs Elysées wie immer friedlicher Caféhaus- und Straßenbetrieb. Ein Flic, den ich befragte, antwortete mir fast vorwurfsvoll: „Mais Madame, c’est midi. On mange.“ Glückliches Land, in dem die Revolution wegen Mittagspause von 12 bis 2 Uhr unterbrochen wird.
Dieser Eindruck war allerdings nicht mehr ganz richtig. Noch beherrschte zwar ein duldsam humanes Verhalten die Bevölkerung und den Alltag, noch machte die großzügige Toleranz des Volkes gegenüber menschlichen Schwächen das Leben leicht, noch nahm die Heiterkeit des „Leben und Lebenlassen“ dem täglichen Umgang mit Menschen jede Aggression. Aber diese Toleranz endete genau dort, wo der eigene Lebenskreis durch kritische Ereignisse oder Krisen angegriffen wurde. In den folgenden Jahren wurde er immer heftiger angegriffen. Viele Emigranten hatten unter dieser Entwicklung manches zu erleiden.
Elsbeth Weichmann (1900-1988) war eine sozialdemokratische Politikerin. Sie wuchs als Tochter protestantischer Eltern in Mähren auf (heute Tschechische Republik). Aufgrund der jüdischen Herkunft ihres Mannes Herbert Weichmann floh das Ehepaar im Jahr 1933 von Berlin über Prag nach Paris. Dort unterstützte Elsbeth zunächst ihren Mann bei seiner Arbeit als Korrespondent für die deutschsprachige Zeitung Prager Tageblatt, später schrieben beide für die französischsprachigen Zeitungen Le Troc und Europe Nouvelle.
Wie viele andere Emigrant*innen aus Deutschland wurde auch Elsbeth Weichmann im Jahr 1940 zunächst im Pariser Vélodrome d’Hiver und danach im Lager Gurs interniert, aus dem sie fliehen konnte. Angesichts der deutschen Besetzung Frankreichs floh sie mit ihrem Mann nach Südfrankreich, von wo aus sie zu Fuß den Weg über die Pyrenäen nach Spanien zurücklegten, und weiter nach Portugal flohen. Von dort gelangten sie in die USA. Bereits drei Jahre nach Ende des Krieges kehrte Herbert und später auch Elsbeth nach Deutschland zurück. In Hamburg wurde Herbert Weichmann der bisher einzige jüdische Erste Bürgermeister, während Elsbeth Weichmann sich verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Engagements widmete: Sie setzte sich für Verbraucherschutz und Frauenrechte ein und betätigte sich kulturpolitisch bis zu ihrem Tod im Jahr 1988.
In diesem Auszug aus ihren 1983 veröffentlichten Erinnerungen Zuflucht. Jahre des Exils schreibt Elsbeth Weichmann rückblickend über die ersten Monate in Paris. Am Anfang standen sie und ihr Mann Herbert vor der Aufgabe, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden, um sich eine grundlegende Existenz zu sichern. Weichmann beschreibt die Schwierigkeiten, die mit dem neuen Alltagsumfeld und der neuen Sprache einhergingen. Die französische Bevölkerung charakterisiert Weichmann als zunächst menschlich anmutig, freundlich und warm, gibt jedoch einen düsteren Ausblick auf die späteren Jahre, in denen die Toleranz gegenüber den Geflüchteten auch in Frankreich angesichts der deutschen Besatzung des Landes und der damit einhergehenden Notlage nachließ.