Was heute als Europas „Außen“ erscheint, war über Jahrhunderte in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen Teil europäischer imperialer Formationen, die durch Ausbeutung, Versklavung und Diebstahl charakterisiert waren. So regierte Europa Anfang des 20. Jahrhunderts über 85% des globalen Territoriums. Es muss nicht wiederholt werden, dass Europas Aufstieg ohne koloniale Ausbeutung und Versklavung nicht möglich gewesen wäre und dass auch das offizielle Ende der direkten Kolonisation an den globalen Ungleichheiten in Bezug auf Reichtum, Macht und Prestige wenig geändert hat. Die sozialen und ökologischen Kosten für Europas „imperiale Lebensweise“ zahlen immer noch „die anderen“ – Menschen im geopolitischen Süden.
Der Slogan „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“ , den migrantische Bewegungen mobilisieren, zeugt davon.
Mit dem Ende der offiziellen Kolonisation zogen sich die europäischen Mächte in die epistemische Enge ihrer Nationalstaaten zurück, die ein Filter für die Erzählung von sich und der Welt wurden. Lassen wir uns nicht auf diese Verkürzung des Blickwinkels ein, dann kann Europa auch nicht mehr als Opfer einer Krise erscheinen, die „woanders“, „außerhalb“ von Europa – beispielsweise aus der Unfähigkeit der postkolonialen Welt sich selbst zu regieren – entstanden ist. Im Gegenteil, Europas Grenzsicherungspolitiken dienen der Abschottung und Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten einer imperialen Lebensweise gegenüber dem geopolitischen Süden. Europa von seinen Grenzen her zu betrachten, heißt, jene Grenzziehungen zwischen „Innen“ und „Außen“ kritisch zu hinterfragen.
Wer oder was wird im Namen Europas ein- oder ausgeschlossen? Europas Grenzen sind – wie alle Grenzen – die Materialisierung von sozio-politischen Beziehungen, welche die Trennung zwischen „Innen“ und „Außen“ kontinuierlich (re)produzieren. Grenzen müssen als fixe und stabile Realitäten durch repetitive Praktiken und Diskurse durchgesetzt werden, um den Anschein der Dauerhaftigkeit, Macht und Objektivität wecken zu können. Die Grenzen Europas sind mit einer Politik der Rassifizierung verwoben, die Europa als natürliche Einheit erscheinen lässt und globale Ungleichheiten legitimiert. Die rassifizierten Grenzen Europas, die zunehmend vor dem Bedrohungsszenario der Migration verhandelt werden, treten dabei als postkoloniale Formation des Weißseins in Erscheinung. Das bedeutet nicht, dass alle Europäer*innen auf die gleiche Weise oder gleich „weiß“ sind. So wie die rassistische Formation des „Weißseins“ homogenisieren die rassifizierten Grenzen Europas tiefgehende Unterschiede und Ungleichheiten innerhalb Europas. Die Integrität der Kategorie „Europäischsein“ wird gerade durch den Ausschluss des „nicht-Europäischen“ geschaffen.
Nicht nur die offen rassistischen und neo-faschistischen Bewegungen der letzten Jahre bringen die Untrennbarkeit einer europäischen Identität vom postkolonialen Projekt des Weißseins zum Vorschein, sondern auch jene explizit antirassistischen Diskurse, die von den „europäischen Werten“ der Aufklärung, Würde, Demokratie oder Freiheit sprechen. Für ein Europa, das sich als Erbe universeller Werte der Aufklärung und „Erfinder“ der liberalen Demokratie preist, existiert Rassismus nur in der Vergangenheit und aus diesem Grund auch nur in der rückständigen Politik des rechtsextremen Spektrums. Die Verdeckung von Rassismus in Europa ist die deutlichste Manifestation der postkolonialen Situation und dient hauptsächlich dazu, diese Postkolonialität zu verbergen. Die Narrative einer europäischen Kultur, Zivilisation oder Identität mit spezifisch „europäischen Werten“ verbergen rassifizierte Konstruktionen der Differenz unter dem Deckmantel kultureller Differenz – am deutlichsten in Abgrenzung gegenüber jenen Werten, die dem „Islam“ zugeschrieben werden.
Eben jenes „Rassen“-blinde Europa, das sich selbst die Werte der Toleranz, Freiheit und Gleichheit zuschreibt, blickt auf eine lange Geschichte der Produktion von Minderheiten zurück, die als fundamental anders und deshalb der Identität und den Werten Europas diametral entgegen gesetzt imaginiert werden. In Geschichte und Gegenwart werden Minderheiten in Europa als „kulturelle“ oder „religiöse“ Probleme gehandhabt und in die „jüdische Frage“, die „Roma-Frage“ oder die „muslimische Frage“ verwandelt. Es ist kein Zufall, dass die „europäische Frage“ von der kritischen Rassismus – und Migrationsforschung mehr oder weniger im Einklang mit Forscher*innen gestellt wurde, die sich direkter mit Fragen des Säkularismus und der Säkularität auseinandersetzen. So scheint das Privileg des Europäischseins nicht nur an das Privileg des Weißseins geknüpft, sondern ebenso an das Privileg, einer unmarkierten (christlichen) Religion anzugehören, die sich in das Säkulare eingeschrieben hat. Die „europäische Frage“ ist demnach immer auch die „christliche Frage“.
In einer Zeit, die durch das Erstarken neuer Manifestationen des antimuslimischen Rassismus geprägt ist, welcher auf komplexe Weise mit den Geschichten des Antisemitismus und Antiziganismus verwoben ist, scheint es von besonderer Bedeutung die „europäische Frage“ zu stellen. Jene Fragen, die sich Europa im Laufe seiner Geschichte gestellt hat und die Probleme, die es – durch Extermination, Assimilation, Gewalt, Vertreibung – „gelöst“ hat, sind immer Ausdruck der „europäischen Frage“ oder „christlichen Frage“ gewesen, die untrennbar mit der Geschichte des Rassismus verwoben ist. Wie Zygmunt Bauman betont, produzieren alle Gesellschaften Fremde, aber jede Gesellschaft produziert ihrer „eigenen“ Fremden. Die Einheit Europas mag in genau jenen Fragen und Problemen liegen, die Europa im Laufe der Geschichte beschäftigt haben. Sie können als Wiederholungen derselben „europäischen Frage“ verstanden werden.
Was bedeutet das für die Arbeit des We Refugees Archiv?
Den Blick auf Europa von seinen Grenzen her zu richten, bedeutet, Europa nicht einfach als gegeben zu sehen, sondern als reale Abstraktion, welche kontinuierlich durch Innen/Außen Grenzziehungen (re)produziert wird. Die rassifizierten Grenzen Europas zu dekonstruieren bedeutet, aufmerksam auf jene Diskurse zu schauen, welche die „europäische Identität“ konstituieren. Zentral ist hierbei der Diskurs spezifisch „europäischer Werte“ wie Würde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Menschenrechte, welche die Differenzen zwischen „uns“ und „ihnen“ produzieren. Selbst wohlwollende Diskurse – wie die der Menschenrechte, Willkommenskultur oder „solidarity cities“ – können zu einer Verstärkung der rassifizierten Grenzen Europas beitragen, indem sie die Trennung zwischen dem zivilisierten fortschrittlichen Europa und dem rückständigen Rest (re)produzieren.
Europas Grenzen zu dekonstruieren, bedeutet auch, Hannah Arendts nationalstaatlichen Analyserahmen in Bezug auf das „Ende der Menschenrechte“ zu erweitern. Lassen wir uns nicht auf die epistemische Enge der Nationalstaaten ein, in die sich die europäischen Mächte mit dem formalen Ende der Kolonisation zurückzogen, dann wird sichtbar, dass Kolonien immer schon als rechtliche Ausnahmezonen galten, die einen direkten Zugriff auf das Leben der Kolonisierten ohne rechtliche Vermittlung ermöglichten. Es scheint also nicht auszureichen, auf eine bessere Durchsetzung der Menschenrechte beispielsweise auf lokaler Ebene zu hoffen. Es muss gefragt werden, welche hegemonialen Normen darüber urteilen, wer als Mensch gilt, wer sich als legitimes Rechtssubjekt qualifiziert und wer darüber entscheidet, welche Ansprüche als legitim gelten. Geht es um eine fehlende Realisierung normativer Ansprüche oder grundlegender um Fragen normativer Gewalt?
Auch Arendts berühmtes „Recht auf Rechte“ bedarf immer einer souveränen Macht, die es durchsetzen kann und steht somit niemals außerhalb hegemonialer Normen. Im Gegenteil, das „Recht auf Rechte“ als ein Recht auf Gemeinschaft betrifft eine zutiefst politische, wenn nicht gar die politische Frage par excellence: die Frage nach der Zugehörigkeit, nach Innen und Außen, nach Freund und Feind. So muss jede politische, insbesondere demokratische Gemeinschaft, bestimmen, wer zu ihr gehört und wer nicht. Dieser Frage kann sich auch das „Jahrhundert der Städte“ nicht entziehen. Neben einer Kritik der Durchsetzung normativer Ansprüche braucht es also eine Analyse des gegenwärtigen europäischen Rassismus, der in einem komplexen Zusammenhang mit den Differenzkategorien Klasse, Religion und Geschlecht steht. Vom kritischen Blickwinkel der Fluchtmigration in, aus und nach Europa – der inneren und äußeren Grenzen Europas – her, wird deutlich sichtbar, dass die sogenannten „europäischen Werte“ der Solidarität, Würde, Gleichheit, Freiheit, Demokratie und der Menschenrechte in der Tat immer Werte „nur für Europäer*innen“ waren.
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ scheint besonders beunruhigend für ein Europa, das sich fern und isoliert von den Krisen glaubte, die es durch seine postkolonialen Unternehmungen in der Welt (mit)verursacht hat. In einer Zeit, in der Europa nicht mehr Tempo und Richtung vorgibt, scheint es nicht nur eine moralische, sondern eine Frage der Notwendigkeit, „Europa“ als Problem anzuerkennen, das einer Lösung bedarf. Der postkoloniale Theoretiker Frantz Fanon hat die Aufgabe der „Europäer*innen“ vor einem halben Jahrhundert großzügig wie folgt beschrieben:
“The Third World does not mean to organize a great crusade of hunger against the whole of Europe. What it expects from those who for centuries have kept it in slavery is that they will help it to rehabilitate mankind, and make man victorious everywhere once and for all . . . This huge task, which consists of reintroducing mankind into the world, the whole of mankind, will be carried out with the indispensable help of the European peoples, who themselves must realize that in the past they have often joined the ranks of our common masters where colonial questions were concerned. To achieve this, the European peoples must first decide to wake up and shake themselves, use their brains, and stop playing the stupid game of the Sleeping Beauty.”
Seine Forderung scheint aktueller denn je.
Das Essay wurde von Amrei Deller im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv geschrieben.
Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeiteten Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.
Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.
In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.