Auerbachs Ausreisebemühungen

Der aus Berlin stammende Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler Erich Auerbach (1892–1957), der dank des palästinensischen postkolonialen Denkers, Literaturwissenschaftlers und ebenfalls Exilanten Edward Said (1935–2003) heute als Begründer der Disziplin der vergleichenden Literaturwissenschaften gilt 11Edward Said, „Introduction to the Fiftieth Edition,” in Erich Auerbach, Mimesis: The Representation of Reality in Western Literature – New and Expanded Edition (Princeton: Princeton University Press, 2013)., ist einer der deutschen Wissenschaftler*innen samt Familien, die nach 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die junge türkische Republik flohen. Schon frühzeitig war klar, dass Flucht aus Deutschland unausweichlich ist. So begann Auerbach, seine Kontakte im Ausland zu mobilisieren.

    Fußnoten

  • 1Edward Said, „Introduction to the Fiftieth Edition,” in Erich Auerbach, Mimesis: The Representation of Reality in Western Literature – New and Expanded Edition (Princeton: Princeton University Press, 2013).

Palazzo Ravizza
Pian dei Mantellinini 18
Siena
Tel. 20-402
Telegramm Ravizza Siena

12.9.1935

Sehr verehrter Herr Saxl,

Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich unsere kurze Bekanntschaft missbrauche, indem ich Sie mit diesem äußerst ernsten Brief überfalle. Sie können sich leicht vorstellen, worum es sich handelt: Ich glaube, dass meine Familie und ich (ich habe eine Frau und ein Kind von 12 Jahren) es in Deutschland nicht mehr lange aushalten. Ich bin zwar noch in meiner offiziellen Position, Kollegen und Studierende und andere Freunde benehmen sich anständig, viele hervorragend – auch das Kind hat keine unerträglichen Schwierigkeiten – aber es kann nicht mehr lange so weitergehen. […] Der Ruhestand, den ich notfalls antreten kann, würde die Situation nicht verbessern. Ganz im Gegenteil. Ich muss also versuchen, so schwierig es auch ist, etwas Geeignetes im Ausland zu finden, und das nun meinen Freunden, Kollegen und denjenigen, mit denen ich geistig verbunden bin, schreiben, damit sie mich beraten können, wenn sie etwas wissen. So kommen Sie zu diesem Brief, und ich bitte Sie, die Leute zu informieren, die der Warburg-Bibliothek nahe stehen. Aber das muss sorgfältig geschehen, denn es wäre unnötig, dass deutsche Beamte vorzeitig von meiner Abreise erfahren. Über mich sind Sie recht gut informiert; dass ich mehrere Jahre, von [19]23 bis [19]29, Bibliothekar an der Staatsbibliothek war, ist Ihnen auch bekannt. Eventuelle Beurteilungen von Kollegen und Vorgesetzten im In- und Ausland können auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden. […] Übrigens hat das Academic Assistance Council in London mich im Dezember 1934 zur Bewerbung aufgefordert, und ich habe damals geantwortet, dass ich vorerst in Deutschland zu bleiben gedenke – halten Sie es für sinnvoll, sich an diese Institution zu wenden?

Ich bitte nochmals um Verzeihung für diesen Übergriff und grüße Sie herzlichst von Ihrem hochverehrten und sehr verehrten

E. Auerbach

Erich Auerbach war deutscher Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie für unzählige andere wurde seine Laufbahn in Deutschland aufgrund des am 7. April 1933 ratifizierten, rassistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,“ das sowohl auf die Entfernung jüdischer Beamter als auch auf die Entlassung politisch Andersdenkender zielte, vorzeitig beendet. Da bei ihm das sogenannte Frontkämpferprivileg griff und er zusätzlich 1934 sogar einen “Treueid deutscher Beamter” auf Adolf Hitler schwor, verlor er seinen Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Marburg “erst” Ende 1935. 11Alle Angaben nach der Akte Erich Auerbach im Staatsarchiv Marburg Sign. 310, Acc 1978/15, No. 2261. zitiert in: Martin Vialon: Erich Auerbach. Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus. In: Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 52 (Bd. 1), 53 (Bd. 2)). Rathaus-Verlag, Marburg 1996, S. 394–395. Mehr als absehbar kontaktierte er jedoch schon im Verlauf des Jahres 1935 Kollegen in Italien, England und anderen Orten, um eine Anschlussstelle, selbst weit unter dem Rang des Professors, zu finden. Dank der Vermittlung der 1933 gegründeten konfessionsübergreifenden und antirassistischen Selbsthilfeorganisation “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland,” 22Johannes Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 71. die ab 1933 schwerpunktmäßig in die Türkei vermittelte, folgte er schließlich dem Ruf an die İstanbul Üniversitesi. Letztere war 1933 im Rahmen des kemalistischen Westernisierungs- und Modernisierungsprogramms gegründet worden und hatte u.a. die Anwerbung von Expert*innen zur Aufgabe. Auf diesem Wege emigrierten mehrere hundert deutsche Intellektuelle und ihre Familien den Auerbachs gleich in die Türkei, vor allem in die städtische Zentren Istanbul und Ankara, und wurden dort in die Arbeit der Universitäten und Ministerien eingebunden. Da Auerbachs Hoffnung auf eine Rückkehr auf den Lehrstuhl einer deutschen Universität unerfüllt blieb, emigrierte er 1947 von der Türkei in die USA, wo er seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte. Er zählt noch heute zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches. Sein in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenes Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ gehört zu den grundlegenden Werken der deutschen Romanistik.

    Fußnoten

  • 1Alle Angaben nach der Akte Erich Auerbach im Staatsarchiv Marburg Sign. 310, Acc 1978/15, No. 2261. zitiert in: Martin Vialon: Erich Auerbach. Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus. In: Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Marburg-Bilder. Eine Ansichtssache. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten (= Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 52 (Bd. 1), 53 (Bd. 2)). Rathaus-Verlag, Marburg 1996, S. 394–395.
  • 2Johannes Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 71.

Englische Übersetzung von Erich Auerbachs Briefen, Martin Elsky, Martin Vialon and Robert Stein, “Scholarship in Times of Extremes: Letters of Erich Auerbach (1933–46), on the Fiftieth Anniversary of His Death,” PMLA 122:3 (Mai, 2007): 742–762, 746.