Brief von Martin Wagner an Walter Gropius, Jan. 1937

Martin Wagner reflektiert in seinem Brief an den Architekten Walter Gropius, wie das Neue Bauen in bessere Zeiten hinüber gerettet werden kann und beschreibt seine erfolgreiche Vermittlungsarbeit in Istanbul, um Bruno Taut aus Japan nach Istanbul zu holen. Er konstruiert eine eurozentrische Dichotomie zwischen den „Orientalen“ und den „Maschinen-Menschen des Westens“, die die vorherrschende hegemoniale Sicht und paternalistische Überheblichkeit der angeworbenen deutschsprachigen Professoren gegenüber der türkischen Gesellschaft widerspiegelt.

 

 

Istanbul-Moda, Moda-Köskü, am 2. Januar 1937.

Mein lieber Gropius, 11Walter Gropius (1883-1969), deutscher Architekt und Gründer des Bauhauses.

Gestern abend, am Schluss und als Krönung des ersten, und so freudig verlaufenen Tages im neuen Jahr, erhielt ich Ihren Brief vom 27 Dez. 36. Unsere Neujahrswünsche hatten sich gekreuzt. Wir dachten gegenseitig aneinander. Dass es Ihnen gut gehen werde, das wusste ich, dass es Ihnen aber so gut geht, wie Sie mir schrieben, das war für mich doch eine grossartige Überraschung! Sie glauben garnicht, wie ich mich darüber gefreut habe. Ich habe gleich eine halbe Flasche süssen Weines auf Ihr Wohl geleert. […]

Nun weiter so, lieber Gropius! Man kann uns nicht Glück genug wünschen! [Bruno] Taut hat ganz Recht, wenn er in Erinnerung an eine japanische Epoche der Kunstgeschichte immer wieder betont, dass auch ganz wenige Köpfe eine grosse historische Mission ausüben können, nämlich die Mission, angefangene Entwickelungen in bessere Zeiten hinüber zu retten. In der Sintflut baute sich Noah eine Arche. Wir aber haben die Aufgabe, die neue Baugesinnung in eine neue Zeit hinüber zu retten. Und ich zweifle nicht daran, dass es uns gelingen wird. Unser Schicksal ist Beweis genug dafür.

Wie ich Ihnen wohl schon schrieb, ging es unserem Bruno Taut in Japan körperlich sehr, sehr schlecht. Er konnte das feuchte und neblige Klima nicht vertragen. Gearbeitet hatte er kaum noch. Die Tagebuchblätter, die er mir schickte, waren schon mit Gedanken an ein Abkrazzen gefüllt. Da aber machte ihm Poelzig Platz. Es gelang mir, die Regierung davon zu überzeugen, dass Taut und nicht Breuhaus der Nachfolger von Poelzig sein müsse. Ich liess mir von Taut Vollmacht geben und unterschrieb hier den Vertrag für ihn. Das war für mich ein grosses Wagnis, weil ich garnicht wusste, ob Taut die Reise überstehen werde. Aber er überstand sie. Ob es die Freude auf wirkliche Arbeit oder der Klimawechsel war, das weiss ich nicht. Jedenfalls kam er hier, wenn auch schon mit angegrautem Haar ganz munter an und ist nun wieder ganz aufgelebt. Bei seinen 1500 R.M. Gehalt im Monat kann er schon ganz sorgenlos leben. Wenn nun morgen noch sein alter Freund Belling 22Rudolf Belling (1886-1972), deutscher Bildhauer, der ebenfalls ins türkische Exil ging und dort an der Kunstakademie Istanbul und ab 1952 an der TU Istanbul lehrte. hierher kommt, dann wird es ihm wohl noch besser gefallen. Wir haben hier überhaupt einen sehr netten Kreis von Deutschen und Türken beisammen. Leben lässt es sich schon. Nur Arbeitserfolge werden wir nicht viel sehen. Der Türke ist immerhin 6 mal ärmer, als der Deutsche. Das wäre aber nur ein Jugendfehler. Sein Altersfehler ist aber seine fast kindliche, und spielerische Auffassung vom Leben und von der Arbeit, die ihn alles anfassen und nichts vollenden lässt.-   Ich glaube darum nicht daran, dass der Orientale jemals mit den „Maschinen-Menschen“ des Westens in Konkurrenz treten kann. Wer das Leben aber vollkommener lebt, das möchte ich ganz offen lassen.

Wie ich Ihnen schon schrieb, habe ich an Tauts Schule selbst eine Professur für Städtebau übernommen, die es bisher noch nicht gab. Diese Arbeit leiste ich aber nur im Nebenamt. Im Hauptamt bleibe ich der technische Berater der Stadt Istanbul. Mein Vertrag mit der Stadt läuft aber im Herbst dieses Jahres ab, und was dann aus mir wird, dass weiss ich noch nicht. Ich mache mir aber auch sehr wenig Sorge darum. Insofern bin ich schon ein richtiger Türke geworden, erfüllt von dem unverwüstlichen Optimismus, dass dieses Jahr ohnehin ganz grosse Entscheidungen bringen wird, die uns selbst nicht killen werden. Unsere Mission besteht weiter.

[…]

Sie herzlichst grüssend, bin ich Ihr

Martin Wagner

NB: Wenn Sie einmal an Bruno Taut schreiben wollen, dann nehmen Sie folgende Adresse: Istanbul-Ortaköy, Divanyolu, Bay Emin Vafi Köskü.

 

    Fußnoten

  • 1Walter Gropius (1883-1969), deutscher Architekt und Gründer des Bauhauses.
  • 2Rudolf Belling (1886-1972), deutscher Bildhauer, der ebenfalls ins türkische Exil ging und dort an der Kunstakademie Istanbul und ab 1952 an der TU Istanbul lehrte.

Ein enger Vertrauter Atatürks 11Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.  setzte sich vehement für die Anwerbung von ausländischer Architekten ein. Es kamen erfahrene Architekten und Künstler in die Türkei, darunter 1935 der ehemaligen Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner (1885-1957). Er erhielt eine Berufung zum städtebaulichen Berater der Stadt Istanbul. Dort erarbeitete er eine Reihe städtebaulicher Gutachten und einen General-Entwicklungsplan für die Stadt. Durch seine Vermittlung wurde ein Jahr später der berühmte Architekt Bruno Taut aus Japan in die Türkei an die Akademie der Schönen Künste in Istanbul verpflichtet.

Martin Wagner unterhielt während seiner Zeit des Exils in Istanbul mit vielen Anhänger:innen und Vertreter:innen des Neuen Bauens, wie Ernst Reuter (Ankara), Walter Gropius (erst  London, später USA) Ernst May (Tanganjika in Ostafrika emigriert), Martin Mächler, Hans Scharoun (Berlin) und eben auch Bruno Taut (Istanbul) (Brief-)Kontakte.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit der Weimarer Republik (1910er bis 1930er Jahre) entwickelte sich das Neue Bauen als bedeutende Strömung der deutschen Architektur und des Städtebaus, die konservativen und traditionalistischen Strömungen gegenüberstand. Das Neue Bauen zeichnete sich durch einen rationalistischen Ansatz und sozialpolitische Zielsetzungen aus: Durch einen einfachen, aber dennoch ästhetischen Baustil sollten für möglichst viele Menschen Wohnraum geschaffen werden.

„Die Architekten des Neuen Bauens eint über alle Grenzen der Länder hinaus ein warm empfundenes Herz für alle Menschen in Not, sie sind ohne soziales Empfinden undenkbar, ja man kann geradezu sagen, daß diese Schar die sozialen Momente bewußt in den Vordergrund des Neuen Bauens stellt.“ (Ernst May in: Das Neue Frankfurt 1928)

Im Nationalsozialismus wurde das Neue Bauen unterdrückt und stattdessen traditionalistische „heimatschützende“ Baustile durchgesetzt.

In seinem Brief an den Architekten Walter Gropius vom Januar 1937 reflektiert Martin Wagner, wie das Neue Bauen in bessere Zeiten hinüber gerettet werden kann und beschreibt seine erfolgreiche Vermittlungsarbeit in Istanbul, um Bruno Taut aus Japan nach Istanbul zu holen. Er konstruiert eine eurozentrische Dichotomie zwischen den „Orientalen“ und den „Maschinen-Menschen des Westens“, die die vorherrschende hegemoniale Sicht und paternalistische Überheblichkeit der angeworbenen deutschsprachigen Professoren gegenüber der türkischen Gesellschaft widerspiegelt.

    Fußnoten

  • 1Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.

Briefwechsel Martin Wagner-Walter Gropius

Harvard Univ., Houghton Library, Walter Gropius Archive: MW an Gropius, HL 40/526x