Bruno Tauts Rede zur Eröffnung seiner Ausstellung in der Kunstakademie in Istanbul

Am 4. Juni 1938 eröffnete der Architekt und Städtebauer des Neuen Bauens, Bruno Taut, die Ausstellung über sein Werk in der Kunstakademie in Istanbul. Taut war 1935 als Leiter der Architekturabteilung der Istanbuler Akademie der Künste und als Leiter des Architekturbüros beim türkischen Kulturministerium aus seinem ersten Exil in Japan in die Türkei gekommen, wo er bis zu seinem frühen Tod 1938 lebte. In der Eröffnungsrede spricht er über die ideellen Grundlagen seines architektonischen Wirkens, über seinen Werdegang, aber auch über seine Hoffnungen für die Entwicklung des Neuen Bauens in der Türkei.

Bruno Tauts deutscher Reisepass (1931-1937), u.a. mit dem Visum für die Türkei. Akademie der Künste Berlin, Nr. 347.

[…] Aber unsere Kunst, die Architektur, hängt nun einmal mit den rationalen Elementen der Technik, Konstruktion und Funktion aufs engste zusammen. Infolgedessen müssen wir Architekten auch viel nachdenken, wir müssen ständig den Weg suchen, bei dem die Wahrheit nicht leidet und zu gleicher Zeit das Gefühl nicht hungert.

Die aufrüttelnde Zeit des Weltkrieges, in der alle Grundlagen der europäischen Kultur fraglich wurden, spornte noch mehr zum Nachdenken an, und in dieser Zeit begann ich über Architektur und Städtebau zu schreiben, theoretisch zu skizzieren usw., sodaß außer zahllosen Aufsätzen bis jetzt vierzehn Bücher von mir erschienen sind, dem bald ein fünfzehntes mit dem Titel „Architekturtheorie“ in türkischer Übersetzung folgen wird. […]

Was wir suchen müssen, ist die Synthese zwischen der alten Tradition und der modernen Zivilisation. Dies sollte jede Einseitigkeit ausschließen. Ich persönlich ging in dieser Meinung so weit, und tue es heute noch, dass mir nichts daran lag, an bestimmten äußerlichen Formen festzuhalten und etwa einen persönlichen Stil herauszuarbeiten, auf den man mich sofort abstempeln könnte. Die Vielseitigkeit der alten Meister lehrt mich auch heute noch so wie früher, daß eine solche Absicht nicht zur Qualität führt. –

[…]

Der Gastfreundschaft in Japan folgte die tiefer fundierte in der Türkei. […]

Hier im Lande Sinans 11Sinan, mit vollem Namen wahrscheinlich Yusuf Sinan bin Abdullah (ca. 1490‑1588) gilt als bedeutendster osmanischer Architekt der vorindustriellen Zeit. scheint mir die ganze Aufgabe in jener vorher geschilderten Synthese zu liegen.

Ich suche die türkische, mir äußerst sympathische Jugend für diese Aufgabe zu begeistern und habe nach den ersten Erfahrungen die Hoffnung, dass es mir zusammen mit meinen türkischen Kollegen gelingen wird.

Über die Jugend hat der Genius des Landes, Atatürk, 22Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates. ein schönes Wort gesprochen: ‚Ein großer Baum muss tiefe Wurzeln haben‘.

Lassen wir uns dieses Wort zur Richtschnur dienen! Unbefangen, aber erst soll die Jugend alles prüfen – in ähnlicher Weise, wie ich sie an der Technischen Hochschule in Charlottenburg dazu anleitete. Die Jugend soll ihre eigenen Wurzeln finden, damit als große Bäume aus ihr einmal die neuen türkischen Meister hervorgehen können.

    Fußnoten

  • 1Sinan, mit vollem Namen wahrscheinlich Yusuf Sinan bin Abdullah (ca. 1490‑1588) gilt als bedeutendster osmanischer Architekt der vorindustriellen Zeit.
  • 2Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.

Bruno Taut (1880–1938) war ein bekannter deutscher Architekt und Stadtplaner, der die Schule des Neuen Bauens vertrat. Nachdem er in Deutschland bereits erfolgreich geworden und u. a. durch mehrere Großsiedlungen in Berlin (die Hufeisensiedlung in Britz, Onkel Toms Hütte, die Carl-Legien-Stadt) bekannt geworden war und 1931 eine Professur an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg erhalten hatte, musste er bereits 1933 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Erica Wittich vor den Nationalsozialist:innen nach Japan fliehen, wo er bis 1934 als Berater am Staatlichen Lehr-Gewerbeinstitut Kogei Shidosho in Sendai tätig war – eine Zeit, die er als sehr fruchtbar und prägend erlebte.

Durch Vermittlung seines Kollegen Martin Wagner, ehemaliger Stadtbaurat von Berlin und seit 1935 als städtebaulicher Berater der Stadt Istanbul in der Türkei, kam Taut 1936 in die Türkei, wo er als Leiter der Architekturfakultät an der Akademie der Künste in Istanbul und als Leiter des Baubüros des Kulturministeriums, zuständig für Schul- und Universitätsbau, die Modernisierung der türkischen Architektur federführend vorantreiben sollte. Die Anwerbung von deutschen Architekten war Teil des türkischen Modernisierungsprogramms. 11Siehe dazu: Burcu Doğramacı (2016): Kollegen und Konkurrenten: Deutschsprachige Architekten und Künstler an der Akademie der schönen Künste in Istanbul. In: Kubaseck, Christopher; Seufert, Günter (Hrsg.): Deutsche Wissenschaftler im türkischen Exil : die Wissenschaftsmigration in die Türkei 1933 – 1945. Istanbuler Texte und Studien, Bd. 12. Würzburg: Ergon. S. 135-156.

Bruno Tauts Zeit in Istanbul bis zu seinem frühen Tod an einer Asthmaerkrankung im Dezember 1938 war von viel Arbeit geprägt: Taut versuchte gegen einige Widerstände, als Professor und Verwaltungsleiter des Instituts die Architekturausbildung mit einem stärkeren Praxisbezug zu reformieren und setzte Hoffnungen in das Potenzial des türkischen Nachwuchses und des modernistischen Geistes in der jungen Republik, um einen neuen Baustil zu finden und durchzusetzen. In seinen eigenen architektonischen Projekten, darunter viele Schul- und Universitätsgebäude, genoss er die ihm eingeräumt künstlerische Freiheit. Zudem erschien seine bereits in Japan begonnene Schrift zur „Architekturtheorie“ in türkischer Sprache. Nach dem Tod Atatürks 22Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates. wurde Taut mit der Gestaltung dessen Katafalks beauftragt. Als bis dahin einziger Ausländer und Nicht-Muslim wurde Taut auf dem Ehrenfriedhof des türkischen Staates, in Edirnekapı, Istanbul, bestattet.

1938 fand in der Kunstakademie in Istanbul eine Retrospektive zu Tauts architektonischem Werk statt. In der Eröffnungsrede reflektierte er seinen Werdegang als Architekt und Stadtplaner und skizziert die geistigen Grundlagen und -sätze seiner Arbeit – wohl auch als Appell im Streit mit seinen konservativeren Widersachern am Architekturinstitut.

    Fußnoten

  • 1Siehe dazu: Burcu Doğramacı (2016): Kollegen und Konkurrenten: Deutschsprachige Architekten und Künstler an der Akademie der schönen Künste in Istanbul. In: Kubaseck, Christopher; Seufert, Günter (Hrsg.): Deutsche Wissenschaftler im türkischen Exil : die Wissenschaftsmigration in die Türkei 1933 – 1945. Istanbuler Texte und Studien, Bd. 12. Würzburg: Ergon. S. 135-156.
  • 2Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) begründete die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem zerfallenen Osmanischen Reich hervorgehende Republik Türkei und war von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident. Bis heute wird er als Symbolfigur türkischer nationaler Selbstbehauptung mit einem starken und meist unkritischen Personenkult verehrt. Bekannt ist er vor allem für seinen kompromisslosen Modernisierungskurs, mit dem er die junge türkische Republik führte: Als Weg zur Modernisierung proklamierte er eine radikale Laizisierung und Europäisierung des Staates.

Akademie der Künste (Academy of Arts) Berlin, Bruno-Taut-Sammlung 40 (Bruno-Taut-Collection 40).