Paris in Erwartung des Schlages
Das Radio meldet
Am 16. Mai 1940, einem Donnerstag, schloß ich vormittags eine Arbeit ab, die mich lange Monate beschäftigt hatte. Das Radio tönte aus dem Nebenzimmer. Der Ansager meldete: die „Tasche“ an der Nordfront der französischen Armee hätte nicht geschlossen werden können. Die Meldung sagte nichts von einem Durchbruch, von einem Zerreißen der Front, aber wer Ohren hatte zu hören, hörte. Die Feder wurde mir aus der Hand geschlagen. Ich war nicht unvorbereitet. Tagelang vorher hatten sich schon seltsame Gestalten durch unsern Wohnort, St-Germain bei Paris, bewegt. Der herrliche Park stand in sommerlicher Blüte, die Wege waren voller Ausflügler und Spaziergänger, die Kinder spielten auf den Plätzen. Aber auf den breiten Chausseen, die den Park und die kleine Stadt durchzogen, rollten merkwürdige, unheimliche Wagen, nicht Tanks, nicht Kanonen, sondern — Autos, sonderbar bepackt und verschnürt, mit Betten und Matratzen auf den Dächern, mit Hausrat behangen. Und im Innern, zusammengedrängt, ganze Familien.
Das waren Flüchtlinge aus Belgien und Nordfrankreich. Sie trugen den Schrecken in unsere friedliche Landschaft. Zwischen den Matratzenautos fuhren langsame Bauernwagen, mit Pferden und mit Ochsen bespannt. Darauf lagen und saßen im Heu die Alten und die kleinen Kinder, und voran und hinterher marschierten die kräftigen Männer und Frauen mit großen Schritten. Offenbar waren ganze Dörfer in Bewegung. Viele Männer und Frauen, Bauern in Schaftstiefeln, schoben Karren vor sich mit ihren kleinen Kindern und dem Arbeitsgerät. Das alles hielt vor dem Bahnhofsplatz und wurde verpflegt.
Und einmal hielten auf dem Bahnhofsplatz am späten Abend auch 17 militärische Kraftwagen. Oben hockten junge Soldaten und rauchten. Sie sprachen nicht und sangen nicht. Sie blickten stumm und trübe auf uns herunter. Es hieß, sie kamen von der Front und gingen in Ruhestellung. Aus einem siegreichen Kampf kamen sie offensichtlich nicht.
Als nun am 16. Mai der Speaker mit verschleierter Stimme den schrecklichen Durchbruch im Norden meldete und im Heeresbericht der verhängnisvolle Name „Sedan“ auftauchte, fuhr ich nach Paris und setzte mich mit einem Freund in Verbindung, der bei einer Behörde arbeitete, mit der ich selbst in loser Verbindung stand. Wir berieten zusammen, was tun. Er hatte einen hohen Offizier zum Verwandten und war immer gut orientiert. Sein eigener Fall lag einfach. Im Ernstfall würde er mit den Behörden abtransportiert werden.
Mir riet der sehr ernste, kluge Mann, jedenfalls das Schlimmmste ins Auge zu fassen und die Abreise von Paris nicht zu lange hinauszuziehen. Denn Paris könne von einem Tag zum andern „Kriegsgebiet“ und evakuiert werden. Und wie im letzten Augenblick der Abtransport von Hunderttausenden aussehen werde, das könnte ich mir ausmalen, nach den Erlebnissen des letzten Jahres. Als mein Freund mich so drängte, mit meiner Familie sofort abzureisen und ich mich nicht geneigt zeigte, kamen wir zu folgendem Abkommen: Er würde mich sofort benachrichtigen, sobald ihm etwas Schlimmes zu Ohren käme. Alsdann sollten meine Frau und das Kind unter allen Umständen abreisen. Mir selbst schlug er vor, dazubleiben und mit der Behörde im letzten Augenblick abzufahren. Die Behörden waren damals angewiesen, ihren Platz nur im äußersten Fall und nur auf Befehl der Regierung zu räumen. Dabei verblieben wir.
Und so wartete ich unruhig und mit wachsender Spannung in St-Germain, bis am 25. abends der verabredete Anruf kam. […] Wir setzten uns am frühen Morgen in Bewegung, zu dritt, zur Flucht aus unserm Zufluchtsort. Einen schweren Koffer hatten wir vorausgeschickt, wir hofften, daß er ankam. Wir selbst gingen jeder mit einem Handkoffer bewaffnet, der Junge mit Rucksack und mit einer Decke für die Nacht.
So sah auf dieser Flucht unsere Habe aus: ein großer Koffer, zwei kleine und der Rucksack. Wie ein Tier, das sich häutet, hatten wir seit Kriegsbeginn alles von uns geworfen: zuerst die Möbel einer ganzen Wohnung mit der Bibliothek — sie lagerten irgendwo — dann die Wäsche, Kleidungsstücke, einen restlichen Bücherbestand; sie blieben in St-Germain. Wir schrumpften immer mehr auf das direkt von uns Tragbare ein. — Aber wir trugen noch zuviel.
Wir sind vormittags in Paris angekommen, in dem alten heiteren Paris. Die wunderbare Stadt nahm uns mit dem gleichen Lächeln wie immer auf. Sie schien noch nicht zu bemerken, was vorging —und ihr bevorstand. Die Menschen saßen auf den Terrassen der Cafés und beobachteten verwundert einige schwer bepackte Matrazenautos, die sich unter die anderen mischten. Es werden aber nicht zwei Wochen vergehen, da wird die prächtige und glänzende Stadt von einem Todeshauch berührt werden. Aus zahllosen Garagen werden sich ähnlich beladene Fahrzeuge lösen. Und nach drei Wochen wird sich eine schwere Menschenwelle aus der Stadt erheben und sich über dieselben Chausseen werfen, die jetzt die Belgier ziehen. Wir hielten uns an diesem Tage in einer Wohnung im Zentrum der Stadt auf, wo mein Freund Möbel abgestellt hatte. Dann spät abends begleitete ich meine Frau und den Jungen zur Bahn. Unheimlich der Anblick des Riesenbahnhofs bei Nacht. Er lag in Kriegsverdunklung scheinbar verlassen. Bei seinem Betreten aber wurden wir hineingerissen in ein wildes Menschengetriebe. Das waren hier fast alles Familien. Es sah aus, als drängten sie zu Ferienzügen. Aber hier gab es keine Spur von Fröhlichkeit. Man hatte im Innern der Stadt den Eindruck haben können: es ist ja alles nicht so schlimm, die Zeitungen übertreiben, der Krieg ist noch weit entfernt. Hier — sah es anders aus. Jeder Zug nach dem Süden lief mit einem Vor- und Nachzug. Die Menschen stürzten in die Wagen, saßen und standen mit ihren Kindern auf den Korridoren. Familien, die sich sonst mit der billigsten Klasse begnügten, hatten ihr Geld für die erste und zweite hingeworfen, um noch mitzukommen. Die Schaffner rannten den Bahnsteig entlang. Sie riefen „en voiture“. Ich nahm herzlich Abschied von meiner Frau. Das Kind weinte an meinem Gesicht. Es hielt mich fest und sagte: „In einer Woche kommen wir wieder.“ Es wollte gar nicht weg, es dachte an seine Spielgefährten in St-Germain und an seinen lieben Hund, die Zita. Wir beiden Erwachsenen dachten: Die Reise ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Man tut es des Kindes wegen, vielleicht sind wir zu ängstlich. Aber ein dunkles Vorgefühl, eine Ahnung überfiel mich, als ich dann allein aus dem Bahnhof wieder auf die finstere Straße trat: „Es ist Krieg, man kann bei einem Krieg nie wissen, was geschieht, man sollte sich eigentlich in solchen Zeiten nicht trennen.“ Aber sie fuhren schon, nach dem Süden.
Alfred Döblin (1878-1957) war ein Psychiater und Schriftsteller, der für seinen Roman Berlin Alexanderplatz berühmt ist. In Berlin hatte er eine eigene psychiatrische Praxis und schrieb Werke, die sich mit dem proletarischen Leben in der Großstadt auseinandersetzten. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft und literarischen Tätigkeit floh er noch einen Monat für der nationalsozialistischen Machtübernahme aus Berlin über die Schweiz nach Paris. In Paris lebte er mit seiner Frau Erna Reiss und seinem Sohn Peter, blieb weiter schriftstellerisch tätig und nahm 1936 die französische Staatsbürgerschaft an. Ob der drohenden nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs, die im Juni 1940 erfolgte, floh Döblin bereits im Mai 1940 weiter Richtung Süden: Über die Pyrenäen gelangte er nach Spanien und von dort nach Lissabon, wo er gemeinsam mit seiner Familie ein Schiff in die Vereinigten Staaten nehmen konnte. In Hollywood fand Döblin eine Stelle als Drehbuchautor und konvertierte zum Katholizismus, nachdem er bereits drei Jahrzehnte zuvor aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten war.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1946, kehrt Döblin als durch das französische Militär eingesetzter Literaturinspekteur nach Deutschland zurück. Er hatte die Hoffnung, zur politischen und gesellschaftlichen Neugestaltung Nachkriegsdeutschlands beitragen zu können, wurde jedoch von der in Deutschland präsenten Verleugnung der nationalsozialistischen Verbrechen enttäuscht. So kehrte er 1953 wieder nach Paris zurück. Da er an Parkinson erkrankt war, ließ er sich jedoch weiter in Kliniken in Deutschland behandeln, wo er während eines Aufenthalts 1957 starb.
Den Tag seiner Flucht aus Paris beschreibt Döblin in seinem Exilbericht „Schicksalsreise“, der erstmals 1949 veröffentlicht wurde. Am 16. Mai 1940 erfährt er von dem Vorstoß der Wehrmacht in französisches Gebiet und beschließt infolge eines Gesprächs mit einem befreundeten Behördenmitarbeiter, der Verbindungen zum Militär hatte, seine Familie angesichts der drohenden Kriegsgefahr aus Paris zu bringen. Aus dem Pariser Vorort St-Germain, wo er mit seiner Familie lebte, gingen sie am Abend des 25. Mai 1940 los. Erna Reiss und Peter bestiegen einen Zug gen Süden, Alfred Döblin selbst bleibt noch einige Tage in Paris. Die Familie traf sich erst in Südfrankreich wieder, von wo aus sie weiter nach Spanien reisten.
Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, erstmalig veröffentlicht 1949, München 1993, S. 17-20.
Mit Genehmigung des S. Fischer Verlags.