Eindrücke von Ernst Hirsch über die angeworbenen Professoren in Istanbul

Ernst E. Hirsch reflektiert über das Verhalten und den Ruf der privilegierten deutschsprachigen Professoren-Kollegen und die Probleme, die damit einhergehen.

Ernst Eduard Hirsch in der Bibliothek in Istanbul. Privatarchiv, mit der freundlichen Genehmigung von Enver Tandoğan Hirsch

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Es ist deshalb, psychologisch betrachtet, kein Wunder, wenn die Kritik an dem Verhalten der ausländischen Professoren jahrelang nicht verstummte und ihnen kollektiv vorgeworfen wurde, ihre Vertragsverpflichtungen nicht einzuhalten, insbesondere keine jungen türkischen Wissenschaftler auszubilden und heranwachsen zu lassen, keine Lehrbücher und sonstigen wissenschaftlichen Schriften zu veröffentlichen, kein Türkisch zu lernen und noch immer Vorlesungen unter Heranziehung von Dolmetschern abzuhalten. Daß bei den Angriffen, vor allem gegen die Mediziner, Mißgunst und Futterneid die Hauptrolle spielten, darf nicht wunder nehmen; die ausländischen Professoren erhielten ein Gehalt, das sehr erheblich über den Gehältern (nicht aber über den Einkünften) der türkischen Mitglieder des Lehrkörpers lag, durften aber, was diesen gestattet war, keine andere als ihre akademische Tätigkeit ausüben.[…]

So trugen einige der Professoren, sei es gewollt, sei es unbeabsichtigt, zur öffentlichen Kritik an der ganzen Gruppe bei, obwohl diese in Wahrheit weder geschlossen noch homogen war. Wir wären keine echten deutschen Professoren gewesen, wenn nicht jeder einzelne sein Süppchen hätte kochen wollen, eifersüchtig über die Wahrung seines Wirkungskreises und seiner persönlichen Interessen gewacht und im Verhältnis zu seinen deutschen Kollegen das Empfinden gehabt hätte: ein Kollege ist ein Mann, den man gar nicht leiden kann.

Jeder war ein Unikum, unverwechselbar in seiner Individualität und Originalität. Die bereits erwähnte Emigrantenmentalität des Meckerns über die Sitten und Gebräuche des fremden Landes und des Festhalten-Wollens an dem, was „bei uns“ üblich ist, erschöpfte sich nicht nur darin, daß einige Kollegen sich weigerten, die ihnen unbekannten Erzeugnisse und Früchte des Landes zu genießen, und an ihrem gewohnten Speisezettel festhielten (- „ich bin an ein kaltes Abendbrot mit Aufschnitt gewöhnt und bleibe dabei“-) und damit ihren Haushalt erheblich verteuerten. Ein Kollege, praktizierender Protestant, wollte sich weigern, am Sonntag Vorlesungen zu halten, weil im Jahre 1933/34 noch nicht der Sonntag, sondern der Freitag der offizielle Wochenendruhetag war. Ich konnte ihn von dieser Torheit nur dadurch abhalten, daß ich ihm die Frage stellte, ob in Deutschland etwa die Adventisten unter den Professoren und Studenten am Samstag frei gehabt hätten. Wenn er am Sonntag im Hinblick auf sein religiöses Gewissen nicht lesen könne oder wolle, so müsse er versuchen, mit einem türkischen Kollegen Tag und Stunde zu tauschen. Daß jeder der deutschen Professoren seine besondere Eigenart, um nicht zu sagen seinen Spleen hatte, sprach sich herum. Anläßlich einer Abendgesellschaft im gemischten Kreise äußerte ein türkischer Tischherr gegenüber seiner Tischdame, der Ehefrau eines deutsche Professors: „Tous les professeurs allemands sont un peu drôle“. Die Dame wollte dies entschieden zurückweisen. Da begann der Tischherr mit der Aufzählung: „Le professeur A. il n´est pas drôle?“ „Mais oui, un peu“ mußte die Dame einräumen. „Le professeur B,il n´est pas drôle?“ – „Vous avez raison…” Und so ging es weiter, bis alle durchgehechelt waren; natürlich mit Ausnahme des Ehemannes der Dame, obwohl dieser auch sehr „drôle“ war. Von jedem wurden typische Anekdoten erzählt, die auch heute noch von den ehemaligen Assistenten und Studenten kolportiert werden.

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Trotz alledem bildeten „die äusländischen Professoren“ eine „fremde“, zunächst nicht integrierte und, wie sich im Laufe der Jahre zeigte, nicht integrierbare kleine Minderheit,  die für die türkische Öffentlichkeit um so anstößiger wirkte, als sie sich nicht nur ethnisch und religiös von der Masse des Volkes und hinsichtlich ihrer Anstellungsverträge von ihren türkischen Kollegen abhob, sondern auch ihre Sprache, ihre Gebräuche und Sitten beibehielt und sich weder assimilieren wollte noch, selbst wenn sie es gewollt hätte, konnte. Wir waren „die ausländischen Professoren“ und blieben es für die Masse des Volkes selbst dann noch, als einigen von uns – darunter auch mir – nach einer zehnjährigen Tätigkeit die türkische Staatsangehörigkeit verliehen wurde.

Ernst Eduard Hirsch wurde im März 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amt entlassen. Im Oktober 1933 folgte er einem Ruf der Universität Istanbul auf den Lehrstuhl für Handelsrecht. Ernst E. Hirsch war wohl der jüngste unter allen an die Universität Istanbul Berufenen und der einzige, dem es gelang, den Sprung vom Privatdozenten (noch ohne Professorentitel) zum Ordinarius zu schaffen.

Er gehört zu den wenigen, die in relativ kurzer Zeit die türkische Sprache so erlernten, daß sie sich ihrer zunächst in den Prüfungen, dann auch in den Vorlesungen bedienen und bald darauf selbst ihre Bücher in der Landessprache verfassen konnten. Nach dem Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit im Jahr 1943 wechselte er an die Universität Ankara und lehrte dort neben Handelsrecht auch Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie. Neben seiner Lehrtätigkeit widmete er sich in Istanbul dem Aufbau der Juristischen Fakultätsbibliothek, wovon er in seiner Autobiographie berichtete. Dort existierte zwar bereits eine Bibliothek, doch bestand diese aus Fachliteratur zum osmanischen Recht in arabischer Schrift, nicht jedoch zum Recht der 1923 gegründeten Republik Türkei und zum internationalen Recht.

In diesem Ausschnitt aus seinen Memoiren berichtet Hirsch darüber, wie sich die privilegierten deutschen Professoren mit einer gewissen Überheblichkeit dagegen sträubten, sich in Sprache, Arbeitsabläufen und Gepflogenheiten an die türkische Umgebung anzupassen. Viele von ihnen seien, so Hirsch, durch Eigenarten und Egoismus aufgefallen, was neben der besseren Bezahlung und Stellung im Vergleich zu den türkischen Kolleg:innen zu Kritik an der ganzen Gruppe geführt habe.

1952 kehrte Hirsch nach Deutschland zurück, um dort die neugegründete Freie Universität Berlin als Ordinarius für Handelsrecht und Rechtssoziologie, Rektor und Prorektor mit aufzubauen.

 

Auszüge aus der Autobiographie: Ernst E. Hirsch, 1982: Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks. Eine unzeitgemäße Autobiographie, J. Schweitzer Verlag: München.