Hannah Arendt über das Ankommen in New York

Hannah Arendt berichtet ihrem ehemaligen Ehemann Günther Anders von den Umständen ihrer Flucht aus Lissabon und über ihre Ankunft in New York.

New York, 25. Mai 1941

Mein lieber Junge –

[…] Monsieur hat in Lissabon einen Heidenkrach beim Joint und der Hicem gemacht, zu unserm Erstaunen mit vollem Erfolg: alle Emergency-Fälle, auch solche, welche erst vor ganz kurzem gekommen sind, wurden für Ende Mai gebucht. Wir bekamen durch Zufall früher Karten und fuhren im letzten Moment und ziemlich Hals über Kopf. Mutt sollte dieser Tage ihr portugiesisches Visum bekommen. Es war lange Zeit jede Visenausgabe gesperrt, daher die Verzögerung. Was Du da machen solltest, weiß ich nicht. Es ist gar nichts zu machen. Sobald sie in Lissabon ist, muss man wieder der Hicem auf die Pelle, dass sie schnell wegkommt. Sobald, ja sobald… und sofern nicht schon alles zu spät kommt. Aber da das unkalkulierbar ist, muss man tun als ob. Ich habe ihr gekabelt und erwarte eine Kabelantwort morgen oder übermorgen.

Ich bin vollkommen verwirrt und Du darfst von mir nicht vernünftige Briefe erwarten. Wir sind also hier ausgezeichnet eingelaufen, haben den größten Teil unserer Bagage hierher gebracht und nur einen Koffer und Kiste liegen lassen. Wir werden hier kaum bleiben können, da die Miete zu teuer ist. Aber zum Suchen hatte ich noch keine Zeit. Die Public Library habe ich bereits von innen gesehen und fühle mich seither viel besser. Gesehen eine Unmenge Leute: Blumenfeld, der sehr alt geworden ist und immer noch nicht gesund. Miriam Cohen, sehr angenehm und klug. Rosenblüth heute nachmittag mit Tee. Max Strauss, der sich ganz reizend benahm, was mich bass erstaunte. Die „tiefen Augen“ seiner Frau gefallen mir ganz gut, aber auch nicht zu gut. Morgen abend Jela, die ich anrief, was wohl ein Fehler war, da sie sehr erstaunt war. Tant pis. 11Französisch für „Seis drum“ oder „Macht nichts“. Salomon sehe ich in den nächsten Tagen, telephonisch vorerst gesprochen. Morgen bin ich auf dem Emergency-Committee, danach bei Goldmann und Hadassah. Ich hatte gern ein bisschen Ruhe, aber die politische Lage ist nicht danach. Kann man halt auch nicht ändern.

    Fußnoten

  • 1Französisch für „Seis drum“ oder „Macht nichts“.

Von 1929 bis 1937 war Hannah Arendt (1906–1975) mit dem deutsch-österreichischen Philosophen, Dichter und Schriftsteller Günther Anders (bürgerlich Günther Siegmund Stern, 1902–1992) verheiratet. Auch Anders floh 1933 nach Paris, wohin ihm Arendt kurze Zeit später folgte. Die Ehe zerbrach schließlich 1937 an den wirtschaftlichen und emotionalen Schwierigkeiten als Geflüchtete im Quartier Latin. Doch auch nach der Scheidung verband sie eine lange Freundschaft. Zum Zeitpunkt des Briefes war Arendt schon mit Heinrich Blücher verheiratet, den sie schon vor der Scheidung von Anders kennengelernt hatte.

Arendt und Blücher erreichten im Frühjahr 1941 New York, nachdem sie mithilfe von Joint und HICEM früher als erwartet Lissabon per Schiff verlassen konnten. In New York blieb keine Zeit für Ruhe und Durchatmen. So wie in Paris führt Arendt ihren politischen Aktivismus und Hilfstätigkeit für Geflüchtete in New York fort. Ein großes Netzwerk war dafür essenziell.

Hannah Arendt war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.

Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im Jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.

Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.

Arendt, Hannah, 1942; Anders, Günther: Schreib doch mal hard facts über dich. Briefe 1939 bis 1975, Texte und Dokumente, München 2016. S. 23.