„Warschau. Sollte ich mich nicht schämen, es auszusprechen: Es ist schwer für mich, es zu erwähnen, aber wie viele Male habe ich um meine Heimatstadt geweint, seit ich sie verlassen habe auf meinem Weg ins Exil? Heute haben meine Augen wieder Tränen vergossen, als ich eine genaue und umfangreiche Botschaft aus Warschau hörte.
Gute 20 Jahre gesellschaftlicher Tätigkeit in Warschau. Ich kenne dort jeden Stein. Alles in mir war fieberhaft, als sie mir davon erzählten.
Was geschieht dort? […]
In Warschau sterben täglich 500 Menschen. Die Armut und der Hunger sind so groß, dass es oft nichts gibt, womit man die Toten begraben könnte. Der Ausweg: Man wirft die Toten auf die Straße. Einfach und ohne Zeremonie. […]
In Warschau wird eine jiddische Zeitung des Bund illegal publiziert, auch eine Zeitung der Tsukunft11Die Jugendorganisation des Bund in Polen. und eine Tsukunft-Zeitung auf Polnisch. Auch drei polnische Zeitungen erscheinen illegal. […]
Ich halte diese Nachrichten nur fest, weil in der Zukunft, wenn ich sie erleben werde, werde ich prüfen könne, wie diese Nachrichten uns erreichten. Es ist charakteristisch für die Situation und für den traurigen Zustand, in dem wir uns befinden.
Isoliert von der Welt und abgeschnitten vom Milieu, das uns lieb war.“
Am 23. Juni 1941 besetzt die deutsche Wehrmacht Vilnius. Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, befindet sich seit seiner Flucht aus Polen 1939 in der Stadt. Am 28. August 1941, als die Stadt bereits vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt ist, schreibt er in seinem Tagebuch von dem Schmerz, den er in Gedanken an seine Wahlheimatstadt Warschau und die dortige Zerstörung fühlt, die große Teile seines damaligen Lebens ausgelöscht hat. Der Tagebucheintrag unterstreicht die präsente Abwesenheit, die migrantisches Leben vermehrt heimsucht.
Kruk lebte fast vier Jahre in Vilnius und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilna dokumentierte Kruk als Chronist. Im Jahr 1943 wurde Kruk in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.
Jiddisch (PDF): Kruk, Herman, 1961: Togbuch fun Vilner geto, New York: YIVO Institute for Jewish Research, pp. 37f.
For Englisch translation, see: Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, p. 77.