Mendel Balberyszski über die Geflüchtetenlage in Vilnius, 1939

Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an. In seinen Aufzeichnungen berichtet er über die Lage der jüdischen Geflüchteten in Vilnius und die positiven Veränderung der Stadt dank ihnen.

װילנע איז אין דעם מאָמענט געװען אַ ריזיקער ייִדישער פּליטים־צענטער. פֿון גאַנץ פּוילן זײַנען אַהער אָנגעקומען פּליטים: רײַכע ייִדישע פֿאַבריקאַנטן, סוחרים, דעפּוטאַטן, סענאַטאָרן, ליטעראַטן, זשורנאַליסטן, אַקטיאָרן, און סתם ייִדישע אינטעליגענץ און אַרבעטס־מענטשן. אַלץ און אַלע האָבן דאָ געזוכט אַ מקום־מנוחה. אין ערשטן מלחמה־פּעריאָד האָט װילנע כּמעט װי ניט געליטן.

די רויטע אַרמײ האָט דעם 19טן סעפּטעמבער פֿאַרנומען װילנע, און איז זײער האַרציק באַגעגנט געװאָרן דורך דער באַפֿעלקערונג, אַלס אויסלײזער פֿון מלחמה־קאָשמאַר. ס’איז גלײַך אײַנגעשטעלט געװאָרן אַ פּראָװיזאָרישע מאַכט.

[…] עס האָט זיך געפֿילט אַ ניט זיכערקײט, ניט קלאָרקײט. מען האָט גענומען שמועסן – צוערשט שטיל דערנאָך העכער, אַז װילנע װעט פֿאַראײניקט װערן מיט ליטע, און װערן צוריק איר הויפּט־שטאָט.

עס זײַנען אַרעסטירט געװאָרן זײער פֿיל פּאָליטישע טוער פֿון אַלע נאַציאָנאַליטעטן. […] די אַרעסטירטע זײַנען גלײַך פֿאַרשװוּנדן און דאָס האָט אַרויסגערופֿן אין שטאָט אַ געדריקטע שטימונג. מען האָט פֿאַרשטאַנען, אַז ראַטנמאַכט פֿאַרגעסט גאָרניט און שענקט גאָרניט. בײַ דער ערשטער געלעגנהײט רעכנט מען זיך אָפּ מיט קעגנער, אַפֿילו װען זײ זײַנען פֿרעמדע בירגער.

[…] קײן װילנע זײַנען אָנגעקומען אַלץ נײַע פּליטים פֿון אַלע עקן פּוילן. זײ האָבן דערצײלט שוידערלעכע פֿאַקטן װעגן דער באַציאונג פֿון די היטלעריסטן צו דער ייִדישער באַפֿעלקערונג – אַז אַ ציטער פֿלעגט אַריבערגײן איבערן לײב. מײַן אײנציקער ציל איז איצט געװען, אַרויסצורײַסן מײַן משפּחה פֿון די רוצחישע הענט. אָבער װיאַזוי? דערװײַל האָט מיר מײַן אַלטער פֿרײַנט און קאָלעגע, מיראָן צוקערזיס, פֿאָרגעשטעלט צו גײן אַרבעטן אַלס פֿאַרװאַלטער אין פּאַקס אַפּטײק, װאָס האָט זיך געפֿונען אין אַנטאָקאָליע (אַ פֿאָרשטאָט פֿון װילנע). די שׂכירות איז געװען ניט קײן הויכע, אָבער איך האָב פֿאַרשטאַנען די לאַגע און די שטעלע אָנגענומען.

װילנע איז געװען אַ קװאַל פֿון נײַעם ייִדישן רענעסאַנס – פֿון נײַעם ייִדישן נאַציאָנאַלן געדאַנק, פֿון ייִדישן דעמאָקראַטישן גײַסט און פֿון דער ייִדישער רעװאָלוציאָנערער באַװעגונג. אין װילנע איז געשאַפֿן און געבויט געװאָרן, די נײַע ייִדישע װעלטלעכע שול. װילנע איז באַקאַנט געװען: מיט אירע ריזיקע קולטור אוצרות, אָנגעזאַמלטע אין משך פֿון יאָרהונדערטער, מיט די ביבליאָטעקן, פֿילאַנטראָפּישע, װירטשאַפֿטלעכע, מעדיצינישע און אַלערלײ אַנדערע אינסטיטוציעס; מיט די שולן, בתי־מדרשים, קלויזן, װילנער שול־הויף, װילנער רבנים און גדולי הדור. אין װילנע האָט אין דעם מאָמענט געלעבט און געװירקט דער גאון הרבֿ ר‘ חײם עוזר גראָדזענסקי ז“ל.

אָט דאָס אַלטע אײנגעפֿונדעװעטע װילנע איז איצט באַרײכערט געװאָרן מיט נײַע גרויסע אינטעלעקטועלע כוחות, אָנגעקומענע פֿון אַלע קאַנטן פֿון פּוילן.

Vilnius war in diesem Moment ein riesiges jüdisches Geflüchtetenzentrum. Aus ganz Polen kam Geflüchtete hierher: reiche jüdische Fabrikbesitzer, Händler, Abgeordnete, Senatoren, Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler und einfach die jüdische Intelligenz und Arbeiter. Alle und jeder haben nach einem Zufluchtsort gesucht. In der ersten Kriegszeit hat Vilnius so gut wie gar nicht gelitten. […]

Die Rote Armee hat am 19. September Vilnius eingenommen und wurde von der Bevölkerung sehr herzlich als Erlöser aus dem Kriegsalbtraum empfangen. Es wurde direkt eine provisorische Regierung eingerichtet. […]

Man fühlte eine gewisse Unsicherheit, Unklarheit. Man begann – zuerst leise, dann lauter – darüber zu sprechen, dass Vilnius mit Litauen vereinigt und wieder Hauptstadt wird. […]

Es wurden viele politische Aktivisten aller Nationalitäten verhaftet. […] Die Verhafteten sind direkt verschwunden und das rief in der Stadt eine bedrückende Stimmung hervor. Man verstand, dass die Sowjetmacht garnichts vergisst oder verschenkt. Bei der ersten Gelegenheit wird sie mit ihren Gegnern abrechnen, sogar wenn sie nicht ihre Bürger sind. […]

Nach Vilnius kamen die ganze Zeit neue Geflüchtete aus allen Ecken Polens. Sie erzählten von schrecklichen Begebenheiten was die Behandlung der jüdischen Bevölkerung durch die Hitleristen betrifft, so dass der Körper erzitterte. Mein einziges Ziel war es jetzt, meine Familie aus den mörderischen Händen herauszureißen. Aber wie? Derweil schlug mir mein alter Freund und Kollege, Miron Tsukerzis, vor, als Verwalter in der Paks Apotheke arbeiten zu gehen, die sich in Antokolye befand (einem Vorort von Vilnius). Das Gehalt war nicht sonderlich hoch, aber ich verstand die Lage und hab die Stelle angenommen. […]

Vilnius wurde zur Quelle einer neuen jüdischen Renaissance – eines neuen jüdischen Nationalgedankens, eines jüdischen demokratischen Geistes und von der jüdischen revolutionären Bewegung. In Vilnius wurde produziert und gebaut, die neue jüdische säkulare Schule. Vilnius war bekannt für seine riesigen kulturellen Schätze, die über Jahrhunderte angesammelt worden waren, für seine Bibliotheken, für seine philanthropischen, wirtschaftlichen, medizinischen und allerlei anderen Institute; für seine Synagogen, Bote-Midroshim (Gebets- und Studierhäuser), Kloyzn (kleine Synagogen einer bestimmten Gebetsgemeinschaft), für den Vilner Shul-hoyf (Hof der Synagoge), für die Vilner Rabbiner und die Gdoyle-HaDor (die großen Denker der Generation). In Vilnius lebte und wirkte in diesem Moment der Gaon HaRov Reb Khaym Oyzer Grodzensky z“l. 11z“l ist eine Abkürzung des hebräischen Ausdrucks Zichrono livracha – זיכרונו לברכה, das bedeutet: „möge sein*ihr Andenken zum Segen sein“. Der Ausdruck wird im Judentum dem Namen eines verstorbenen Menschen hinzugefügt.

Genau dieses altbekannte Vilnius wurde jetzt mit neuen intellektuellen Kräften bereichert, die aus allen Ecken Polens hier strandeten.

    Fußnoten

  • 1z“l ist eine Abkürzung des hebräischen Ausdrucks Zichrono livracha – זיכרונו לברכה, das bedeutet: „möge sein*ihr Andenken zum Segen sein“. Der Ausdruck wird im Judentum dem Namen eines verstorbenen Menschen hinzugefügt.

In den ersten Kriegsmonaten 1939 wurde Vilnius dank der neuen Geflüchtetengemeinschaft zum Ort einer neuen jüdischen Renaissance, die auf der schon bestehenden Infrastruktur aufbauen konnte, so die Aussage des Geflüchteten/Heimkehrers Mendel Balberyszski (1894–1966).

Balberyszski stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź, Polen. In der Zwischenkriegszeit war er Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey (Volkspartei), um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem (Brotgeber). 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit. In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam.

Balberyszski überlebte die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn: Iberlebungen in der Hitler-tkufe („Stärker als Eisen: Überleben in der Hitlerzeit“) veröffentlicht.

Exzerpt:

Mendel Balberyszski, Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1 (Tel Aviv: HaMenorah, 1967), S. 70–73.

Von der Steven Spielberg Digital Yiddish Library des Yiddish Book Center.