The Arrival of Hannah Arendt
Dieser Film beschreibt das Ankommen von Hannah Arendt - einer jüdischen, deutsch-amerikanischen politischen Theoretikerin und Publizistin - in New York und ihre Reflektionen über Flucht und Unterstützung beim Neuanfang.
Nun haben wir dank einer Bekannten, die wir zufällig trafen, Unterkunft in einem „Asyl für Obdachlose“ gefunden. Ein Rabbiner, Stefan Wise, der einstens auch aus Europa gekommen war, hat ein Haus für die Unterbringung unbemittelter Einwanderer eröffnet. Das Congresshouse in der 68. Straße nahe dem Centralpark ist nun für 3-4 Wochen – denn so lange darf man bleiben, bis man Arbeit und Wohnstätte gefunden hat unser Heim.
Und nun haben wir den ersten Sonntagsspaziergang in New York gemacht, hier im nahen Centralpark! Wie faszinierend ist doch diese Stadt, wie groß, wie weit, wie schön. Würde sie uns Arbeit und Brot geben? Gleich morgen werde ich mich auf den Weg machen. Ich will mir eine neue Heimat verdienen! […]
Das Spießrutenlaufen hat begonnen, d.h. das Vorsprechen bei verschiedenen Organisationen, um Rat, Hilfe für den Aufbau einer neuen Existenz und vor allem, um Arbeit zu bekommen. Ich selbst, einst Schülerin eines humanistischen Gymnasiums habe nie englisch gelernt und wieweit die Kenntnisse meines Mannes ausreichen? Unsere Lage ist verzweifelt.
Als ich es endlich der Sozialarbeiterin bei unserer Unterredung verständlich gemacht habe, sagt sie zu mir: „Möbel, Hausrat wozu? Sie hängen nur an Ihrem guten Leben und an Ihrer eleganten Wohnung! Die brauchen Sie hier nicht mehr. Ärztin wollen Sie wieder werden? Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Wir haben hier Ärzte genug, wollen keine mehr und Ärztinnen schon gar nicht. Gehen Sie mit Ihrem Mann in einen Haushalt als Dienerehepaar, da haben Sie ein Dach überm Kopf und Essen und außerdem bekommen Sie Gehalt und können anfangen zu sparen!“ […]
Lange habe ich nicht geschrieben, dafür habe ich „Erfahrungen“ gesammelt. Heute habe ich mich um eine neue Stellung beworben. Als die „Dame“ mich sah, hatte sie nur die Worte für mich „lousy Nazispy“ und schlug mir die Türe vor der Nase zu. Was sollte ich auch antworten auf so viel Borniertheiten. […]
Heute bin ich wieder einmal zu Hause, das Baby, das ich gepflegt habe, neben der Betreuung von vier weiteren Kindern und der ganzen Hausarbeit, braucht mich nicht mehr.
Unser Zuhause! Eine schäbige Bude, ich habe sie gemietet, weil ich die Feuerleiter mit dem Gitter für einen Balkon hielt. Ein Bett für uns beide, so schmal, wie zu Hause jeder eines für sich hatte, zu Hause, das war so breit und bequem. Der Junge schläft auf einer kleinen Pritsche hinter einem Verschlag ohne Fenster. Die sogenannte Küche ist, wie die meisten hier, ein ganz kleiner Raum, daher Kitchinette genannt, das Badezimmer, es mag aussehen wie es will, es ist für uns allein und wenn wir die Türe zumachen, dann ist es unser Zuhause, kein möbliertes Zimmer, in dem wir ständig auf die Wohnungsinhaber Rücksicht nehmen müssen. Stühle haben wir nur zwei und die sind wackelig, aber es macht nichts. Ich bin ja kaum je „zu Hause“, so können Vater und Sohn zu den „üppigen Mahlzeiten“, die sie sich selber bereiten, wenigstens gemeinsam an dem kleinen Tisch sitzen.
Aber ich verdiene nur 10 bis 15 Dollar pro Woche, davon geht Fahrgeld, kleine Reparaturen an Schuhen etc. ab und dann erst können wir an Essen und Trinken denken – im Durchschnitt dürfen wir 1 Dollar pro Tag verbrauchen. Nun sage ich gar manches Mal, „ich habe schon bei den Leuten gegessen“ und überschlage eben eine Mahlzeit. Man kann ja auch seinen Magen noch erziehen. […]
Von einem Job zum anderen. Wie wird man doch gehetzt in diesem Lande. Es bleibt nicht einmal Zeit, all das Schöne, das diese faszinierende Stadt bietet, zu sehen. Schon die Technik, die hohen Häuser, die Brücken, Tunnels, die Untergrundbahn -ich staune immer wieder, aber: wo bleibt Zeit zu sehen? In ein Museum zu gehen oder gar in ein Kino oder Konzert wo bleibt Zeit und das Geld dafür? Ich gehe wieder in meinen Dienst. Nachtwache diesmal und ich weine, weine bitterlich. Mein Mann darf die Tränen nicht sehen…
Bronxexpreß – so hieß einmal ein Theaterstück, das man in Berlin gesehen haben mußte. Jetzt erst weiß ich, was Bronx-Expreß bedeutet, denn ich fahre täglich zur Arbeit. In rasender Schnelle legt er die Strecke von Manhattan nach der Bronx zurück. Ich fahre am Abend in Gesellschaft einer Schweizerin, eigentlich ist sie Schauspielerin, zur Zeit sind wir beide Nachtschwestern im Hospital. Es ist ein schwerer Dienst, und ich habe es nicht leicht, weil ich manches tue, was den anderen nicht in den Kram paßt.
Hertha Nathorff, geborene Einstein (1895-1993) war eine deutsche Kinderärztin, Psychotherapeutin und Sozialarbeiterin, sie publizierte mehrere Werke, darunter auch einen Gedichtband. Sie wurde in Laupheim (Baden-Württemberg) in einer jüdischen Familie geboren. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle. Nathorff besuchte das Gymnasium in Ulm und studierte, unterbrochen durch eine zeitweilige Tätigkeit als Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs, seit 1914 Medizin in München, Heidelberg, Freiburg (Breisgau) und Berlin. Nach der Promotion in Heidelberg (1920) und Assistentenjahren in Freiburg war sie 1923-28 leitende Ärztin im Frauen- und Kinderheim des Roten Kreuzes in Berlin-Lichtenberg, dann in freier Praxis und gleichzeitig am Krankenhaus Charlottenburg als Leiterin der Familien- und Eheberatungsstelle tätig. Im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik verlor sie 1934 die Kassenzulassung und im Herbst 1938 die ärztliche Approbation, während ihr Ehemann, ehemals leitender Klinikarzt in Berlin-Moabit, die Erlaubnis als „Krankenbehandler“ für ausschließlich jüdische Patienten erhielt. In dieser Periode war sie als seine Sprechstundenhilfe tätig.
Vom Tode in NS-Deutschland bedroht organisierte sie mit Hilfe amerikanischer Verwandter seit November 1938 die Emigration und schickte den 14-jährigen Sohn mit einem Kindertransport nach England voraus. Im April 1939 gelang dem Ehepaar die Ausreise nach London, Anfang 1940 die Weiterreise nach New York.
In New York arbeitete sie als Krankenpflegerin, Dienstmädchen, Barpianistin und Küchenhilfe – ein sehr verbreitetes Schicksal unter Frauen mit akademischen Abschlüssen im Exil. Geld und Zeit reichten nicht um die Anerkennung der eigenen Abschlüsse voranzubringen. Frauen übernahmen oft die Rolle, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. In der 1942 eröffneten Praxis ihres Mannes blieb sie Arzthelferin – ihr fehlte die Zeit und das Geld für die Anerkennung ihres Abschlusses.
Hertha Nathorff nahm sehr aktiv am sozialen Leben der deutschsprachigen Exil-Community teil: Sie organisierte Kurse für Emigrant:innen in Kranken- und Säuglingspflege und kulturelle Veranstaltungen, war Gründerin des Open House für ältere Menschen, Vorsitzende der Frauengruppe sowie Ehrenmitglied des Präsidiums des New World Club. In den Auszügen aus dem „Tagebuch der Hertha Nathorff Berlin-New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945“, die wir in unserem Archiv zeigen, befasst sich die Autorin mit ihren Anfangsproblemen, Enttäuschungen und Kränkungen in der Neuen Welt. Sie berichtet vom Emigrantenalltag, vom Existenzkampf, von Armut und seelischen Zerstörungen. Selbst ist sie trotz der Sehnsucht nach den Stätten der Kindheit und Jugend nie mehr nach Deutschland gereist. Sie hat sich in Amerika nie richtig eingelebt. Das Heimweh blieb beständig.
Ausschnitt aus dem Tagebuch Hertha Nathorff, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz (1987): Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 54. R. Oldenbourg Verlag München, S. 105, S. 168-171.