İsa Artars Blick auf Berlin, deutsche Politik und Geschichte
İsa Artar geriet in der Türkei wegen seiner politischen und journalistischen Aktivitäten unter staatlichen Druck und ins Visier der Polizei. Bevor er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. In diesem Interviewausschnitt erzählt er, wie sich sein Blick auf Berlin und sein Leben in der Stadt seitdem geändert hat, wo er sich besonders wohl fühlt und welche Aspekte deutscher Geschichte und Politik ihn besonders interessieren.
In Berlin habe ich gelernt, was man hier so macht: In den Club gehen, Nachtleben und so weiter. Das habe ich in Istanbul nicht so viel gemacht. Bevor ich hergekommen bin, hatte ich immer mehr historische Dinge im Kopf, also DDR, West-Berlin, Ost-Berlin, Mauer … Ich wollte solche Sachen immer lernen. Ich habe mich immer darüber informiert.
Viele Touristen kommen hierher für die Club-Kultur und so weiter. Aber das hatte ich am Anfang gar nicht im Kopf. Aber das hat sich seit einem, anderthalb Jahren geändert. Jetzt gehe ich auch mal feiern.
Als ich nach Berlin kam, habe ich auch wenig türkische Sachen gemacht und türkisches Essen gegessen und so weiter. Ich wollte immer die anderen Sachen ausprobieren […] Aber mittlerweile fühle ich mich wohl, wenn ich zum Beispiel in Kreuzberg bin und da mit Freunden rumhänge, im Park oder in einem Laden, der jeden Tag frischen Tee macht, wie in der Türkei. […] Ich fühle mich da wohl, aber ich bin zu faul, da täglich hinzufahren. […] Aber die meisten meiner Freunde wohnen da und nicht hier [in Moabit]. […]
Und dann war ich mal mit meiner Ex-Freundin und ihrer Familie in der “Linie 1” vom Gripstheater. Da konnte ich noch kein Deutsch, habe aber die englischen Obertitel gelesen. Das fand ich sehr gut. Ich habe mich immer für diese Berliner Kultur interessiert. […] Also auch, zum Beispiel die Toten Hosen. Bei denen war ich zwei Mal beim Konzert.
Aber das ist auch komisch, weil außer mir interessiert das niemanden. Meine Freunde zum Beispiel interessieren sich nicht dafür. Erst in den letzten Jahren ein bisschen. […]
Ich wollte auch mal in ein deutsches Theater, war zwei, drei Mal im Gorki-Theater. Ich wollte immer sowas sehen. Damals habe ich das mit meiner Ex-Freundin gemacht und danach habe ich Leute organisiert. […]
An der Stadt-Geschichte hat mich besonders die DDR interessiert. Darüber wusste ich vorher nichts, aber habe das dann hier gelernt, über die Stasi und so weiter. Die Familie meiner damaligen Freundin kam auch aus Ostdeutschland. […] Diese Geschichte der DDR, der getrennte Staat, die 40 Jahre andere Kultur, was sie da unternommen haben, das hat mich interessiert. Auch der Baustil, weil ich Kunstgeschichte studiert habe. Und auch alles, was sie im Sozialismus schlecht gemacht haben, also was Stasi, Mauer, Propaganda und Bürokratie auch bringen können […]
Es war für mich immer wichtig, mich gut mit der deutschen Geschichte und Politik auszukennen, also auch die ganzen Parteien und so weiter. Das freut mich auch, weil es in der Türkei für mich sehr wichtig war, und ich wollte das auch hier fortsetzen.
Am Anfang habe ich immer die deutsche Politik mit der türkischen Politik verglichen. Und da ist die deutsche natürlich besser. Aber es ist nicht alles perfekt. Manchmal machen mir die neoliberalen Konflikte Angst, die zum Beispiel CDU und FDP schüren, zum Beispiel was Mieten angeht. Beide Parteien wollen den Mietendeckel stoppen. 11„Mietendeckel“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das umstrittene Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln), das am 23. Februar 2020 in Kraft getreten ist. Das finde ich schlecht. Investoren sind mir nicht wichtig, wichtig sind die Leute, die hier leben. Oder wenn sie gegen den Plan des Bürgermeisters sprechen, ein günstiges Jahresticket für die BVG einzuführen, 22Die BVG ist die Berliner Verkehrsgesellschaft für öffentliche Verkehrsmittel in der Stadt. dann sieht man doch, für wen diese Parteien sind. […] Rot-Rot-Grün 33Bezeichnung für eine Koalitionen aus den eher linken und grünen Parteien SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2016 stellt diese Koalition die Landesregierung in Berlin. finde ich gut. Aber bei diesen Umweltsachen muss die soziale Gerechtigkeit mitgerechnet werden. Nicht jeder kann sich Bioprodukte leisten. […] Man muss die bezahlbar machen.
Fußnoten
1„Mietendeckel“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das umstrittene Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln), das am 23. Februar 2020 in Kraft getreten ist.
2Die BVG ist die Berliner Verkehrsgesellschaft für öffentliche Verkehrsmittel in der Stadt.
3Bezeichnung für eine Koalitionen aus den eher linken und grünen Parteien SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2016 stellt diese Koalition die Landesregierung in Berlin.
Nachdem er bereits in der Schule und Universität politisch aktiv gewesen war, engagierte sich İsa Artar 2013 in der Gezi-Protestbewegung. 112013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben. Danach wurde er neben seinem Studium der Kunstgeschichte Chefredakteur des unabhängigen und kritischen Nachrichtenportals „Siyasi Haber“. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Entlassungen im Militär und im öffentlichen Dienst. Die staatliche Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, insbesondere Journalist*innen hat seitdem stark zugenommen. Auch İsa Artar geriet ins Visier der Behörden. Bevor jedoch Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. Mittlerweile hat er Asyl erhalten, studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und schreibt u.a. für den Tagesspiegel.
In diesem Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte, spricht İsa darüber, wie sich sein Blick auf Berlin und sein Leben in der Stadt seit seiner Ankunft geändert hat und wo er sich besonders wohl fühlt. Er erzählt, wie wichtig es ihm immer war, die deutsche Geschichte, Politik und Kultur kennenzulernen, wie er über die DDR lernte, in die „Linie 1“ vom Gripstheater und zu Konzerten von den Toten Hosen ging, und was er über deutsche Tagespolitik, den Berliner Mietendeckel 22„Mietendeckel“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das umstrittene Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln), das am 23. Februar 2020 in Kraft getreten ist. und Bionahrungsmittel denkt.
Fußnoten
12013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben.
2„Mietendeckel“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das umstrittene Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln), das am 23. Februar 2020 in Kraft getreten ist.
Dies ist ein Ausschnitt aus einem Interview, das We Refugees Archiv im Juli 2020 mit İsa Artar führte.