Joseph Roth über das Deutsche Hilfskomitee

Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939) wartete nicht lang und verließ Berlin kurze Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Schon im Februar 1933 befand er sich in Paris – einer Stadt, der er sich seit den 1920er Jahren verbunden fühlte. Er floh quasi nach Hause. Roth engagierte sich aktiv in Geflüchtetenhilfswerken wie dem Deutschen Hilfskomitee. Er ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit den Ärmsten der Geflüchtetengemeinschaft und Ärger über Nutznießer, die auf Hilfe finanziell eigentlich nicht angewiesen waren.

An Stefan Zweig

Paris, am 7. November 1935

Hotel Foyot

Lieber bester Freund,

ich danke Ihnen herzlich für Ihren lieben Brief und für den Besuch Herrn Hellas. Sie ahnen nicht, wie bedrückend für mich die kleinen und kleinsten Erleichterungen sind; besonders, da ich sie mir von keiner anderen Seite beschaffen könnte, als von einem so noblen und guten Freund, wie Sie es sind. Ich weiß z.B. als Mitglied des Deutschen Hilfskomitees, wer Alles von der deutschen Literatur Geld bekommt und wieviel. Über die Namen würden Sie staunen und auch über die Summen. Diese Menschen des Gedankens und der Phantasie haben nicht so viel Bildungskraft, um sich vorzustellen, daß hunderte einfache aber sehr wertvolle Menschen jeden Tag Schlange stehen, um 30 francs für die Arbeitskarte, einen Zettel für ein freies Essen, einen elenden Betrag zur Beruhigung des Hotelwirts – keineswegs zur Befriedigung – zu bekommen. Vielleicht hätte ich diese Vorstellungskraft auch nicht, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit selber hinginge, obwohl ich so wenig helfen kann. Ich gestehe, daß ich immer dann hingehe, wenn es mir ganz schlecht geht, und ich weide mich sündhaft daran, daß Einer beglückt davongeht, wenn ich ihm versteckt ein Heft Autobuskarten gebe. Man ist so hart dort mit den Ärmsten, daß ich mich zusammennehmen muß, um nicht zu weinen, – und man muß hart sein, weil man sonst nicht für Alle etwas hätte. Ein Herr Fritz Wolff leitet dieses Büro, er ist ein gütiger und harter Mensch, alle hassen ihn, und ich weiß, daß er nicht eine nacht ohne Mittel schlafen kann, weil ihn sein Gewissen quält. Bis heute bin ich fast der einzige von den geldlosen „Künstlern“, die keine Unterstützung genommen haben. Und wie sollte ich auch, selbst, wenn ich wollte? Wie könnte ich dann dasitzen und Bittsteller empfangen? Ein Schriftsteller, der im Süden lebt, bekam eine ansehnliche Summe, und er wußte nicht, daß ich vom Komitee bin. Und er sagte mir, seine Frau habe eine Erbschaft gemacht und sie fuhr auch prompt nach Deutschland und die Folge war ein Automobil auf Ratenzahlung. Das hat mir einen sehr schweren Schlag versetzt. Ich verstehe das einfach nicht.

Nun, genug geschimpft! Sie werden unserer Freundschaft zwar nicht mehr Kraft, aber eine etwas längere Dauer verleihen, wenn Sie versuchen, für 1–1 1/2 Jahre mein Leben so zu ordnen, daß ich nicht mehr Angst haben muß vor der nächsten Dekade. Noch so ein halbes Jahr, und ich bin bestimmt im Spital. Ich halte es nicht länger physisch aus. Ich kann mein neues Buch etwa Mitte Dezember fertig haben, und es wäre schön, wenn wir Beide einmal zusammen wären, ohne, daß Einer von uns an irgend etwas schriebe.

Also, kommen Sie doch ganz bestimmt, mein lieber Freund.

Ihre liebe Frau hat in Zürich mit dem Humanitasverlag gesprochen. Zufällig fuhr auch mein sehr guter Freund Leites dorthin, und er brachte mir folgende Vorschläge mit:

a) 18 % Beteiligung

b) 2000 Schweizer Francs (in Raten)

für einen Novellenband. Ich muß dem Humanitasmenschen, er soll übrigens wirklich human (und wohlhabend) sein, noch diese Woche antworten. Verträge habe ich nur über den „Stammgast“ mit de Lange, über 3 Novellen (mit bedingter Zusage) mit Herrn Reece. Dem kann ich nämlich entweder 6000 fr. geben oder 3 Novellen – nach meinem Belieben. Ich habe aber etwa 8 und, wenn ich fertig bin mit dem „Stammgast“ noch 2, bereits skizzierte. Also, es fehlt nicht an der Materie. – Ich muß nur, für die Antwort an Humanitas, wissen, ob Sie mir eventuell Vorabdrucke in England in Aussicht stellen wollen – und wie aber, ohne Huebsch, mit dem ich doch moralisch gebunden bin?

Er hat bis heute nichts geschrieben. Über mein Buch stand bis jetzt nur ein großer Artikel in der Basler Nationalztg., eine sehr lobende Vornotiz mit Auszug aus der Prager Presse. Alles, was ich durch Leites gehört habe. Der Verlag schreibt mir nicht darüber. Er hat noch nicht einmal den Verkauf angefangen. Nachdem er mir mit 100 Briefen zugesetzt hatte, sofort fertig zu werden, stellt sich heraus, daß die anderen nicht fertig sind, und er will die gesamte Produktion auf den Markt bringen. So gehen auch gute Rezensionen unter.

Bitte, antworten Sie mir bald, ich habe es dringend nötig, bestätigt zu haben, daß Sie mich nicht vergessen. Wie schrecklich verloren wäre ich ohne Sie.

Ich danke Ihnen, mein Freund, ich umarme Sie.

Ihr alter J.R.

Joseph Roth gilt als einer der bekanntesten Journalisten der 1920er Jahre, als präziser Chronist, erfolgreicher Romanautor und engagierter Gegner des Nationalsozialismus. Sein literarisches und journalistisches Werk besteht aus Zeitungsartikeln, Glossen, Reiseberichten, Feuilletons, Romanen und Erzählungen.

Roth wuchs im ostgalizischen Brody auf, studierte in Lemberg und Wien, war Soldat im Ersten Weltkrieg und erlebte den Zusammenbruch Österreich-Ungarn – seiner Heimat. Nostalgie nach diesem multiethnischen Reich begleitete ihn den Rest seines Lebens und viele seiner Romane widmen sich dem Verlust von Heimat und der Erfahrung von Entwurzelung. Ab 1919 arbeitete er als Journalist für verschiedene Wiener, Berliner und Prager Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Frankfurter Zeitung.

Ab 1933 durfte Roth als Jude dort nicht mehr publizieren. Er verließ Deutschland endgültig und führte sein Engagement gegen die nationalsozialistische Diktatur im Pariser Exil fort. Er engagierte sich für die Geflüchtetenhilfe, zum Beispiel für Entre‘ Aide Autrichienne oder dem Deutschen Hilfskomitee.

Er pflegte intensive Verbindungen zu geflüchteten Schicksalgenoss*innen, unter ihnen Stefan Zweig (1881–1942), an den auch der zitierte Brief adressiert war, Ernst Toller (1893–1939), Egon Erwin Kisch (1885–1948), Soma Morgenstern (1890–1976) und Irmgard Keun (1905–1982). Die meiste Zeit lebte er in Paris in Hotels. Das Café Le Tournon wurde für Roth zum Hauptaufenthaltsort, an dem er seine „Entourage“ um sich versammelte. Schwer alkoholkrank waren seine letzten Jahre deutlich geprägt von den politischen Verhältnissen und den Erfahrungen des Geflüchtetendaseins. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er nicht mehr; er starb am 27. Mai 1939 im Pariser Armenhospital Hôpital Necker. 11https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/roth-joseph.html

    Fußnoten

  • 1https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/roth-joseph.html

Joseph Roth an Stefan Zweig, 7. November 1935, Paris.

Roth, Joseph, 1970: Briefe 1911–1939, hrsg. von Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 433–435.