Pinkhas Shvarts über die versuchte Flucht aus Warschau
In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939, nur wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen, entschied sich eine Gruppe jüdischer Journalisten und Schriftsteller auf Geheiß der polnischen Regierung, Warschau in Richtung Osten zu verlassen, um dem deutschen Vormarsch zu entkommen. Unter ihnen war Pinkhas Shvarts (1902–1963), der über die chaotische Fluchtsituation in den Bahnhöfen Warschaus berichtet.
Nacht. Dunkelheit. Eine bedrückende, dramatische Stille. Wir näherten uns der großen Warschauer Kerbedzshe-Brücke 11Heute wahrscheinlich: Most Świętokrzyski. […]
Traurig, irgendwie wie eine märchenhafte Legion von Vertriebenen, zieht sich unser Zug schweigend über den Gehweg der Brücke. Von dort biegen wir rechts ein und nähern uns durch einige Seitengassen dem Ostbahnhof von Praga (einer Vorstadt von Warschau). […]
Der Weg war unheimlich ermüdend nicht nur für die Älteren. Sogar wir, die „Jugend“, haben uns ganz schön abgemüht in der muffigen Luft von der heißen, stickig-heißen, Sommernacht.
Endlich sind wir über ausgestorbene Straßen am Bahnhof angekommen. Es sah nicht aus, als ob von diesem Bahnhof heute Züge abfahren würden. Alle Türen des riesigen Bahnhofgebäudes waren verschlossen, alle Fenster waren finster. […]
Jemand fand heraus, dass man an den Bahnhof über weite Umwege herankommt. Müde und verschwitzt schleppten wir uns sehr lang über die schlecht geflasterten Straßen Pragas, bis wir in den finsteren, ausgestorbenen Bahnhof eintraten.
So hat ein Bahnhof wohl noch nie ausgesehen! […]
Während wir zu den Tunneln gingen, hat man mit der einen Hand die Koffer geschleppt und mit der anderen sich am Mantelzipfel des Vordermanns festgehalten – so dunkel war es von allen Seiten. […]
Plötzlich – eine blendende Helle und ein extrem veränderter „Dekor“, dass nicht nur einem von uns – mir jedenfalls – schwindlig wurde: Ist das alles, was hier gerade um mich herum geschieht, ein reales Geschehnis oder eine Fata Morgana, in die ich auf geheimnisvolle Art hineingeraten bin?
Ich habe mich plötzlich in einem engen Knäul von stehenden und liegenden menschlichen Wesen mit krummen, vernebelten, halb-wahnsinnigen Gesichtern gefunden. Um mich herum von allen Seiten gab es ein Geräusch von tausenden menschlichen Stimmen – erstickte Gespräche, Weinen von kleinen Kindern, Stöhnen von Kranken, wildes Gelächter von einer wahnsinnig gewordenen Frau. Gott im Himmel – so sieht wahrscheinlich die Hölle aus!
Nein, das war natürlich nicht die Hölle, sondern nur ein kleiner Ausschnitt der Kriegswirklichkeit. In den hellbeleuchteten Tunneln lagen tausende Geflüchtete aus Pommern (dem Westteil Polens), wo schon Hitler herrschte. Sie lagen dort verlassen von Gott, von Menschen und von ihrer eigenen Regierung. Die einzigen Wesen, die zwischen ihnen umherliefen, einem über den Kopf strichen und anderen ein heißes Glas Tee gaben, waren zwei dutzend mutige polnische junge Frauen vom „Roten Kreuz“. Aber trotz all ihrer wundersamen Beherrschung hatten sie solch begrenzte Möglichkeiten, dass die Hölle… die Hölle blieb.
Jemand schrie aus einer Ecke mit einer heisernen Stimme:
„Ein Zug soll her, sage ich! Man hat uns versprochen, in eine sichere Gegend geschafft zu werden! Wo ist unser Woiwod? 22Ein Woiwod ist der oberste Beamte einer polnischen Woidwodschaft (Provinz). Wo?“
Eine Gruppe Matrosen saß in einer Ecke und spielte Karten auf zusammengelegten Handkoffern, als ob sie gar nicht bemerkten, was um sie herum geschah. Auf den Stufen daneben lagen zwei kleine Mädchen mit den Köpfen auf den Steinen und schliefen. Über ihnen, eine Stufe höher, saß eine wahnsinnige Bäuerin und flochte sich lange, halbgraue Zöpfe und brach immer wieder in ein wildes, wahnsinniges Lachen aus. Nicht weit von ihr lag eine Frau in städtisch-eleganter Kleidung – sogar ein Damenhut lag auf einem Koffer herum – und aus ihrem Mund kam monoton und unaufhörlich eine matte tausend Mal wiederholte Phrase:
„Jesu,“ murmelte die Frau mit ihren Lippen, „Jesu geliebter, ich werde bald sterben.“
Aber nicht nur Jesus, sondern sogar auch die jungen Frauen vom Roten Kreuz haben sich nicht um sie gekümmert. Genauso hat niemanden das verschiedene Stöhnen interessiert, das aus anderen Ecken des großen Tunnels kam.
Diese ganzen Unglücklichen warteten auf Züge, die sie – laut der Zusicherung von vor einigen Tagen – „an einen sicheren Ort“ bringen sollten. Leider haben sie, diese Unglücklichen, nicht gewusst, dass sich Warschau schon morgen früh in der Situation einer dem Chaos überlassenen Stadt vorfinden würde. …
2Ein Woiwod ist der oberste Beamte einer polnischen Woidwodschaft (Provinz).
Pinkhas Shvarts 11Zur Person siehe Herts, Y. Sh. (ed.), 1956–1968: Doyres Bundistn, Vol. 3. New York, S. 116–122; Schulz, Miriam, 2016: Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees. Berlin: Metropol. http://metropol-verlag.de/produkt/miriam-schulz-der-beginn-des-untergangs/, S. 93 war Mitglied des Bund, Schriftsteller und Korrespondent der jiddischen Folks-tsaytung (Volkszeitung) in Warschau und Bruder des berühmten Chronisten des Holocaust in Litauen, Herman Kruk 22Für biographische Details siehe Kruk, Herman, 2002. The Last Days of the Jerusalem of Lithuania: Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944. New Haven: Yale University Press.. Er war einer der wenigen polnisch-jüdischen Schriftstellern, die einen Sitzplatz im sogenannten Journalistenzug ergattern konnten, der in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939 Warschau vorerst in Richtung Lublin verließ, um dem deutschen Einmarsch zu entgehen.
Die Gruppe polnisch-jüdischer Intellektueller war nicht die einzige, die sich zur Flucht entschlossen hatten. Tausende Pol*innen aus Pommern waren unter anderem schon in Warschau mit dem Ziel angekommen, weiterzufliehen. Unter chaotischen Umständen und oft am Rand des Wahnsinns warteten sie an Bahnhöfen darauf, mit Zügen „an einen sicheren Ort“ gebracht zu werden. Das weitere Schicksal der pommerischen Geflüchteten ist im Gegensatz zu dem der intellektuellen Elite unbekannt. Letztere erreichten am 10. Oktober 1939 nach einer langen, gefährlichen und erratischen Fahrt mit dem Journalistenzug Vilnius.
In Vilnius angekommen, zögerten die exilierten jüdischen Geflüchteten nicht lange. Im November 1939 gründete eine Gruppe geflüchteter Schriftsteller- und Journalistenkollegen das Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939. Es war die wohl früheste jüdische historische Kommission in Osteuropa, die im Schatten der deutschen Verbrechen im Geheimen begann, die Zerstörung des polnischen Judentums seit September 1939 zu dokumentieren. Pinkhas Shvarts überlebte die Shoah, indem er über Vilnius in Richtung New York entkam, und wurde 1957 Führungsmitglied des World Coodinating Committee des Bund.
Fußnoten
1Zur Person siehe Herts, Y. Sh. (ed.), 1956–1968: Doyres Bundistn, Vol. 3. New York, S. 116–122; Schulz, Miriam, 2016: Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees. Berlin: Metropol. http://metropol-verlag.de/produkt/miriam-schulz-der-beginn-des-untergangs/, S. 93
2Für biographische Details siehe Kruk, Herman, 2002. The Last Days of the Jerusalem of Lithuania: Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944. New Haven: Yale University Press.
Exzerpt aus:
Pinkhas Shvarts, 1943: Dos iz geven der onheyb, New York: Farlag „Arbeter-ring“, S. 53–56.