Regine Erichsen
Emigration in die Türkei
Akademikerinnen und Fachfrauen wurden, wie ihre männlichen Kollegen, ab 1933 aufgrund ihrer jüdischen Abstammung oder ihrer antinazistischen Haltung aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertrieben. Als Emigrantinnen in der Türkei waren sie Teil einer Gesellschaftsreform, die nach der Gründung der türkischen Republik von Kemal Paşa (Atatürk) initiiert worden war. Im Mittelpunkt dieses Projekts des türkischen Einparteienstaats stand die 1933 neueröffnete Universität Istanbul (Istanbul Üniversitesi, IÜ), bis zur Gründung der Technischen Universität (Istanbul Teknik Üniversitesi, ITÜ ) in Istanbul im Jahre 1944 die einzige Universität des Landes. Zielsetzung dieser Modelleinrichtung war die Ausbildung einer Generation von türkischen Nachwuchswissenschaftler:innen und Fachleuten zu Pionier:innen der Neuen Türkei. Die türkischen Reformer beriefen zur Verwirklichung dieses Plans deutsche und österreichische Professoren auf die Lehrstühle der IÜ (und die späteren Universitätsgründungen) und mit ihnen Assistent:innen und das Fachpersonal, darunter 20 bis 30 Frauen. Keine Frau erhielt ein Ordinariat. Aber die Mitarbeiter:innen der Lehrstühle und mit ihnen ihre männlichen Kollegen aus der ‚zweiten Reihe‘ waren ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Technologie- und Wissenschaftstransfers.
Die Türkei war damals noch auf dem Weg zu einer modernen Industriegesellschaft. Die Emigrant:innen überbrückten die Mängel eines anfangs unvollkommenen infrastrukturellen Unterbaus der IÜ und beseitigten nach Möglichkeit auch die Qualifikationsmängel von Studienanwärter:innen mit Schulabschlüssen aus einem im Aufbau befindlichen türkischen Schulwesen.
Etwa 300 Akademiker:innen und Fachleute und mit ihnen die nächsten Verwandten kamen damals in die Türkei, die meisten von ihnen nach Istanbul – insgesamt etwa 1000 Personen.
Die Universität Istanbul glänzte mit Fachgrößen deutscher Wissenschaft. Aber ohne die Arbeit ihrer Mitarbeitenden an den Lehrstühlen wäre das türkische Projekt eines Wissenschafts- und Technologietransfers aus Deutschland an die IÜ mit großer Wahrscheinlichkeit gescheitert. Kennzeichnend für die Position der Lehrstuhlinhaber aber eben auch des Lehrstuhlpersonals an der IÜ ist, dass sie in die Türkei berufen wurden, weil man sie dort brauchte.
Doch sind die Spuren von Frauen in dem türkischen Emigrantenprojekt nicht leicht aufzufinden. Denn im Exil verschwinden sie oft hinter der Exilgeschichte bekannter Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur. Wird über das Akademiker- und Künstlerexil aus NS-Deutschland berichtet, so tritt die Geschichte von Frauen häufig hinter der ihrer Ehemänner, Kollegen und Chefs zurück.
Frauen im türkischen Exil
Männer wie Frauen haben damals ihr Arbeitsleben in Deutschland aufgeben müssen. Im Exil übernahmen auch ehemals berufstätige Frauen häufig die Care-Arbeit für die Familie: Der Mann „schreibt die Nacht durch und um halb acht kommt die Frau. Sie essen Käsebrote“, so berichtet der Schriftsteller Alfred Kantorowicz aus dem amerikanischen Exil.
Diese Frauen haben eine wichtige Rolle für das Überleben der Familie im Exil gehabt und sie meisterten die Herausforderungen eines fremden Umfelds.
So auch in der Türkei.
Alice Sievert erinnert als Tochter von Felix Haurowitz und Regina Haurowitz an die Bedeutung der Ehefrauen für die Istanbuler Emigranten-Professoren: Ohne sie wäre es diesen Ehemännern schwergefallen, ihre Arbeit auszuführen. Es war ihre Mutter, die in Istanbul ein Apartment fand, die, ausgestattet mit einem türkisch-französischen Wörterbuch, Haushaltshilfe organisierte und die ihrer Familie mit Einkäufen auf dem Wochenmarkt deutsche Gerichte nach dem mitgebrachten Kochbuch bereitete, nach dem sie zur Vermeidung einer Typhusinfektion jedes Salatblatt mit Seife gewaschen hatte. Felix Haurowitz, ab 1939 am Lehrstuhl für Biologische und Medizinische Chemie der IÜ, emigrierte 1946 mit seiner Familie von der Türkei aus in die USA.
Ehefrauen hätten in der Türkei auf dem Arbeitsmarkt auch nicht ohne Weiteres eine Arbeit finden können.
In der Türkei war das Aufenthaltsrecht von Verwandten an den Vertragsinhaber gebunden, die Arbeit für die ‚Mitexilanten:innen‘ aufgrund der restriktiven Ausländergesetze im Rahmen der damaligen türkischen Staatswirtschaft schwer zu finden. Zum Beispiel durften Mediziner:innen keine Privatpraxis eröffnen. Manche Frauen arbeiteten daher ehrenamtlich oder beschäftigten sich privat mit landesbezogenen Themen. So die Ethnologin Leonore Kosswig die die türkische Brettchenweberei erlernte und darüber geschrieben hat. Sie blieb in der Türkei, als ihr Mann, der Zoologe Curt Kosswig, (ab 1937 an der IÜ), 1955 nach Hamburg ging.
Die Türkei war aber kein Einwanderungsland, die meisten Emigrant:innen verließen in den fünfziger Jahren das Land wieder. Anders als etwa im Zufluchtsland USA wurden Akademikerinnen und Fachfrauen auf Arbeitsstellen in der Türkei berufen, so auch an die IÜ. Die IÜ war dem türkischen Bildungsministerium unterstellt und erhielt ihre Autonomie im Jahre 1946. Eine Berufung von Ausländer:innen erfolgte auf Beschluss des Ministerrats der Republik.
Emigrant*innen an der Universität Istanbul: Die Arbeitsbedingungen
Waren sie mit einem Vertrag eingereist, mussten sich die dort Angestellten nicht erst eine Existenzsicherung aufbauen, wie viele ihrer Schicksalsgenoss:innen in anderen Aufnahmeländern.
Wie ihre männlichen Kollegen waren die Frauen des Lehrstuhlpersonals an der IÜ dem Ansehen nach ‚die kleinen Würstchen‘ gegenüber den gerühmten Ordinarien, dabei war der persönliche Verkehr zwischen Ordinarien und Assistent:innen in Istanbul eher üblich als in Deutschland. So beschreibt es z. B. Traugott Fuchs, 1934 bis 1943 am Lehrstuhl für Europäische Sprachen.
Personal und Assistent:innenschaft an der IÜ waren aber sehr viel schlechter bezahlt als die Lehrstuhlinhaber und sie erhielten nur kurzfristige Verträge. Dies zeigt die Einschätzung der Bedeutung des Lehrstuhlpersonals von Seiten der türkischen Reformer. Man glaubte offenbar, auf diese ‚Zuträger‘ schließlich leicht verzichten zu können, nachdem die Einrichtungsarbeit abgeschlossen war.
Eine Einschränkung für die wissenschaftlichen Assistent:innen beschreibt die Chemikerin Lotte Löwe (1933 bis 1954 an der IÜ), Assistentin von Fritz Arndt auf dem Lehrstuhl für Anorganische und Analytische Chemie:
„Meine jungen Kollegen und ich, wir waren zumeist aus Assistentenstellen an deutschen Universitäten entlassen worden, die wir häufig schon längere Zeit bekleidet hatten – ich z. B. während 6 ½ Jahren – wobei ich nach den ersten zwei Jahren als planmässige Assistentin zur Beamtin auf Widerruf ernannt worden war. In Istanbul wurden wir als `ilmi yardımcı´ (wissenschaftliche Mitarbeiter) eingestuft. Aber wir jungen deutschen Wissenschaftler – ca. 40 bis 50 an der Zahl – hatten mit wenigen Ausnahmen als Gastarbeiter praktisch keine Fortkommenschance.“
Ein Aufstieg durch Habilitation war den türkischen Assistent:innen vorbehalten, die die Lehrstühle der Emigranten übernehmen sollten. Sie hatten meist mit einem Stipendium im Ausland studiert und fungierten in dem Reformprojekt als Übersetzer:innen der Emigrant:innen. Auch sie waren unverzichtbar für das Reformprojekt mit Ausländer:innen.
Berühmte Emigranten und ihre Erfolge in Selbstdarstellungen
Die deutschen Ordinarien erwähnen ihre Mitarbeitenden nur am Rande. In Autobiographien und Berichten über die Türkeiemigration werden ‚große Namen‘, wie Erich Auerbach (Vertreter der literaturwissenschaftlichen Stilistik), Friedrich Dessauer (Mitbegründer der Biophysik), Hans Reichenbach (Vordenker des Logischen Positivismus) oder Richard von Mises (Pionier auf den Gebieten Angewandte Physik und Mechanik) hervorgehoben. Dies ungeachtet dessen, welche Ausstrahlung diese bedeutenden Persönlichkeiten der internationalen Wissenschaftsgeschichte auf die türkische Universitätsgeschichte gehabt haben.
Insgesamt bleibt in den Darstellungen unerklärlich, wie die Emigrantenprofessoren von der schwierigen Ausgangssituation der 1933 neu eröffneten IÜ zu einem befriedigenden Lehrbetrieb und zur Durchführung von Forschungsvorhaben gekommen sind.
Eine der ersten an die IÜ berufenen Frauen war Lieselotte Diekmann, 1933 bis 1938 Lektorin am Lehrstuhl für Europäische Sprachen der IÜ. Sie schreibt über ihren ersten Eindruck an der Universität:
„Jeder Institutsleiter aus der damaligen Zeit kann zahllose tragikomische Geschichten aus der Baupraxis erzählen. So hatte man etwa vergessen, in einem der Neubauten die elektrischen Drähte zu legen, und als der Professor sein fertiges Institut betrat, gab es zwar Stecker und Schalter, aber keinen Strom. Oder ein botanischer Garten sandte Pflanzen an das botanische Institut, aber die Einfuhr der Gewächse wurde nicht freigegeben und die Pflanzen starben im Zollamt. Für die Humanisten gab es zwar die schönen alten Manuskripte, aber freilich keine Bibliothek. Nur wer eine private Sammlung besaß und sie hatte mitbringen können, konnte über Bücher verfügen.“
Die Überwindung dieser Schwierigkeiten beschreibt Rudolf Nissen, auf dem Lehrstuhl für Chirurgie der IÜ von 1933 bis 1939, ausschließlich als eigene Leistung. Er erwähnt „die recht primitiven äußeren Arbeitsbedingungen, die eigentlich während meiner ganzen Istanbuler Zeit das Stigma eines Provisoriums hatten. [ … ].“ Und er fährt fort: „Ich betrachte es heute im Rückblick über 50 Jahre beruflicher Tätigkeit als bemerkenswert, daß ich in den sechs Jahren unter unzulänglichen äußeren Bedingungen eine befriedigend arbeitenden Universitätsklinik schaffen konnte.“
Wie war es zu dieser positiven Entwicklung gekommen? Konnte Nissen sie allein bewirkt haben?
Philipp Schwartz, 1933 bis 1953 auf dem Lehrstuhl für Anatomische Pathologie der IÜ, zeichnet ein ähnliches Bild vom Beginn seiner Arbeit an der IÜ: „In der medizinischen Fakultät […] entwickelte sich bald eine unerträgliche Lage. Die theoretischen Institute [ … ] erhielten die Schränke, Tische, und Stühle und dazu die ganz spärlichen, veralteten, meistens völlig unbrauchbaren Apparate und Instrumente der alten Medizinschule. [ … ] Wir ließen uns nicht einschüchtern. Wir improvisierten.“ Er beschreibt weiter, dass sich die Kliniker in ähnlicher Lage befanden. Doch auch hier geschah das eigentlich Unmögliche: „Es hatte sich im ganzen Land herumgesprochen, daß unsere Operateure, Nissen, Liep(p)mann und Igersheimer, Wunder vollbrächten. [ … ]. Die klinischen Vorlesungen waren von lebendiger Anschauung und Aktualität. Man operierte den ganzen Tag.“ Es war aber nicht nur dieser Erfolg als solcher, von dem er berichtet. Angesichts der anfangs umstrittenen Position der zahlreichen Ausländer:innen an der IÜ in der türkischen Öffentlichkeit schreibt Schwartz: „Diese drei Kliniker haben das Schicksal der Universitätsreform entschieden.“
Der Widerstand gegen die Emigrant:innenberufungen konnte sich also nicht durchsetzen, die Emigrant:innen konnten bleiben. War das einem Wunder zu verdanken?
Die Fachexpert*innen an der IÜ
Wohl kaum. Die Aufgabe war der Aufbau eines modernen Universitätswesens, ausgehend von der IÜ als Modell. Eine Anpassung an Standards einer Lehre praxisbezogener Spezialfächer war aber in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts ohne einen entsprechenden Technologietransfer nicht möglich. Mit dieser Technologie wurde auch die IÜ ausgestattet. Der Einsatz dieser Technologie erforderte Expert:innen mit entsprechender Spezialausbildung. Ein Beispiel aus der Radiologie: Die Röntgenschwester Margarethe Reiniger (1938–1943 an der IÜ) und die Röntgenassistentin Esther von Bülow, (1938 bis nach 1949 an der IÜ), betreuten als Röntgenschwester und Medizinisch-Technische Assistentin das Radiologische Institut der IÜ. Esther von Bülows Ausbildung enthielt folgende Fächer: Chemie und Physik, Anatomie, Physiologie und Biologie, mikroskopisch-anatomische Technik, Parasitologie und Serologie, Klinische Chemie und Mikroskopie, Photographische Technik, Makro- Mikro- und Farbenphotographie, Röntgenologie, Zeichnen, Stenographie und Schreibmaschine.
In der Türkei war damals das (Berufs)bildungssystem noch nicht annähernd auf einen Einsatz der Absolvent:innen in modernen Laboranlagen ausgebildet. Zur Bedienung der Labore und Werkstätten, zur Gestaltung von Therapieplänen und Lehrbüchern hatten die Reformer die Berufung von Expert:innen eingeplant.
Die Frauen unter ihnen waren medizinisch-technische (Fach)assistentinnen wie Esther von Bülow, OP-Schwestern und andere Fachkrankenschwestern, eine Fachzeichnerin; für den Bibliotheksaufbau war eine Bibliothekarin zuständig. Die wissenschaftlichen Assistent:innen betreuten die Forschungsreihen und dabei die Arbeiten der türkischen Assistenten:innen und sie hielten auch Tutorien ab. So auch die Lektor:innen. Sie organisierten die Seminararbeit und lehrten auch an der Sprachenschule der IÜ zur Vorbereitung der Studierenden auf die philologischen Fächer.
Oberflächlich betrachtet unterschied sich das Tätigkeitsfeld der betreffenden Frauen nicht von den Aufgaben, die sie in Deutschland ausgeführt hatten. In Deutschland war es gewohnter Alltag der Ordinarien, von Mitarbeitenden mit Spezialausbildung umgeben zu sein.
Emigrantinnen als Pionierinnen der Universitätsreform
Jedoch wird kaum berichtet, dass die betreffenden Frauen in der Türkei Pionierarbeit geleistet haben. Sie fanden in der Türkei völlig andere Arbeitsbedingungen vor, als sie es aus Deutschland und Österreich gewohnt waren.
Als Beispiel sei hier die Situation an der III., später II. Inneren Klinik des Lehrstuhls für Innere Medizin der IÜ geschildert. Auf diesen Lehrstuhl wurde 1934 der für seine Forschung zum Diabetes mellitus bekannte Erich Frank aus Breslau berufen. Zum Aufbau des Labors vermittelte Frank seinen früheren Assistenten Kurt Steinitz, (1934 bis 1943 an der IÜ) und dessen Schwägerin Erika Bruck an die IÜ. Erika Bruck, war nach ihrer Promotion Medizinalpraktikantin bei Frank am Breslauer Wenzel-Hancke Krankenhaus gewesen. Erich Frank forschte in der Türkei zu seinen Spezialgebieten und führte die Behandlung des Diabetes mellitus nach den von ihm entwickelten Methoden in der Türkei ein. „Die Behandlung erfolgte an der Guraba-Universitätsklinik durch die Festlegung einer jeweils besonders auf den Kranken eingestellten Diät, die auf täglichen Harnproben, Blutzuckermessungen und Messungen anderer Blutwerte durchgeführt“, so Franks Schüler und Kollege Ferhan Berker.
Bruck und Steinitz lieferten die Laborwerte für diese Behandlung. Erika Bruck schreibt:
„Mein bedeutendster Lehrer war Erich Frank. […] Etwa 1929 entwickelte er das erste per os wirksame Medikament des Diabetes mellitus. Frank leitete die Innere Abteilung am Guraba Hastahanesi, eine von 3 Inneren Abteilungen der Istanbul Üniversitesi. Das Laboratorium war nicht ein Forschungslaboratorium (obwohl nebenher in diesem Laboratorium auch wissenschaftliche Untersuchungen gemacht wurden) sondern ein klinisches Laboratorium, wo tägliche Urin- und Blutuntersuchungen für Patienten gemacht wurden. Im ersten Jahr, 1934-35, bauten wir ein ziemlich gutes Laboratorium aus nichts auf. Unter anderem gab es in der Türkei keine irgendwie ausgebildeten Laboranten, kein destilliertes Wasser, das wir jahrelang selbst produzieren mussten, keine Apparate oder Glaswaren, die wir, im Handel und Geschäftswesen völlig unerfahren und naiv, aus dem politisch verstörten und von der wirtschaftlichen Depression befallenen Westeuropa einführen mussten. […] Urease zur Bestimmung von Harnstoff im Blut machten wir selbst, wenn ich mich recht erinnere, aus Sojabohnen.“
Zur einer erfolgreichen Behandlung des Diabetes gehörte aber auch eine besondere Diät. Zu ihrer Durchführung beantragte Frank die Berufung der Diätschwester Else Wolf, die schon in Breslau seine langjährige Mitarbeiterin gewesen war. Er beschreibt sie in seinem Antrag als perfekt in der wissenschaftlichen Ernährungslehre und in der Kochkunst. Else Wolf passte die Diätvorschriften an die türkischen Essgewohnheiten an und schrieb darüber ein entsprechendes Lehrbuch der praktischen Diäthetik.
Ferhan Berker schreibt dazu 1959: „Heute finden wir in der Türkei hunderte von Ärzten, die die Erkenntnisse Franks zum Diabetes in einer den türkischen Verhältnissen angepaßten Weise umsetzen.“ Als Frank 1957 in der Türkei verstarb, erhielt er aufgrund seiner Leistungen in der Türkei ein Staatsbegräbnis.
Ohne die Leistung seiner Mitarbeitenden wären seine Erfolge kaum möglich gewesen. Dass auch seine Emigrantenkollegen auf solche Leistungen angewiesen waren, zeigen die Anträge auf Vertragsverlängerungen für die Mitarbeiterinnen beim Dekanat der IÜ zur Weiterleitung an das Bildungsministerium. Der Ophtalmologe Joseph Igersheimer, (1933–1939 an der IÜ), führte seine spektakulären Operationen mit Hilfe seiner Laborassistentin Susanne Hofmann aus. Sie assistierte Igersheimer bei seinen Operationen, da die türkische Krankenschwester noch nicht dazu ausgebildet war, bei Operationen zu assistieren. Ebensolche Hilfe erhielt der Ordinarius für Frauenheilkunde Wilhelm Liepmann (1933–1939 an der IÜ). Rudolf Nissen operierte unter Mitwirkung seiner Operationsschwester Irmgard Althausen.
Sie alle haben also mit Hilfe ihrer Fachfrauen die gerühmten Wunder vollbracht.
Anträgen der Ordinarien auf Vertragsverlängerungen der Ordinarien wurde denn auch mit Unterstützung der türkischen Fachkollegen stattgegeben, denn offenbar erkannte die türkische Administration angesichts des erfolgreichen Verlaufs des Emigrantenprojekts die Bedeutung der betreffenden Emigrantinnen für die Universitätsreform.
1942 konnte Lotte Löwe an der Naturwissenschaftlichen Fakultät konstatieren, „daß die Labors und Bibliotheken in sehr gutem Zustand sind […] und daß die Chemikerausbildung etwa der im früheren Breslauer Institut bis zum Jahre 1933 entsprach.“
Frauen im türkischen Bildungswesen
Erika Bruck leitete schließlich selbst ein Labor des Haseki-Klinikums der IÜ. Leiter der Inneren Klinik war Professor Akıl Muhtar Öktem vom Ordinariat für Frauenheilkunde Wilhelm Liepmanns. Sie schreibt: „Wie vorher am Gureba mußten alle Geräte Materialien und Methoden von Grund auf aufgebaut werden. Akıl Muhtar unterstützte alle meine Bestrebungen, z. B. hatte ich auch nie viel mit Verwaltung oder Finanzen zu tun.“
Über ihre Arbeit kam Erika Bruck mit türkischen Frauen in Kontakt. Sie schreibt:
„Haseki Hastahanesi hatte nur weibliche Patienten. Wenn ich ging, um ihnen Blut für Laboratoriumsuntersuchungen abzunehmen, fragte ich sie oft aus über ihre Familien- und Wohnverhältnisse, ob sie lesen und schreiben konnten. Manche hatten 10 Kinder, von denen 3 oder 4 die Kindheit überlebten. Die meisten Frauen waren so gut wie zahnlos, bevor sie 40 Jahre alt waren. Aber unter den Studenten an der Universität waren mindestens 20 % Frauen, weniger in der Medizin als in den anderen Gebieten.“
Ihre Beobachtung weist auf das große soziale Gefälle zwischen dem ländlichen Anatolien und den städtischen Zentren hin.
Die Reform des Bildungswesen war eine der Maßnahmen der 1923 gegründeten Türkischen Republik, die dieses Gefälle aufheben sollten. Eine Sprachreform und entsprechende Alphabetisierungsprogramme bildeten eine einheitliche Grundlage für den Zugang zum Bildungswesen. Ein flächendeckendes Schulsystem wurde nach und nach vor allem auch in bildungsfernen Landesteilen aufgebaut, die Koedukation war eingeführt und Stipendienprogramme eingerichtet worden, von denen auch Mädchen profitierten. Die städtischen Schichten hatten allerdings eine längere Bildungstradition. Mädchen aus begüterten Familien absolvierten bereits im Osmanischen Reich meist Minderheitenschulen und studierten im Ausland. So die Ärztin Safiye Ali. Nach ihrer Promotion und Facharztausbildung in Deutschland eröffnete sie 1923 als erste Frau eine Praxis in Istanbul. An der Fakultät für Sprachen und Literaturen der IÜ studierten 1937/38 229 Frauen, aber nur 188 Männer. An der Medizinischen Fakultät waren im selben Studienjahr 115 Studentinnen eingeschrieben, demgegenüber studierten 1576 Männer Medizin. An der Naturwissenschaftlichen Fakultät betrug das Verhältnis in dem entsprechenden Studienjahr 262 Studentinnen zu 399 Studenten. Erika Brucks Beobachtung zu der Verteilung von männlichen und weiblichen Studierenden auf die Studienfächern passt zu dieser Statistik.
Das Frauenstudium an der IÜ entwickelte sich weiter. 1945 waren 11,66 % der Absolvent:innen der Medizinischen Fakultät der IÜ weiblich.
Die Emigrantenprofessoren hatten Nachfolgerinnen auch in Fächern mit verhältnismäßig geringer weiblicher Studentenzahl: Den Lehrstuhl von Hans Winterstein, 1933 bis 1953 Ordinarius für Physiologie an der Medizinischen Fakultät übernahm Meliha Terzioğlu. Den Lehrstuhl für Astronomie von Wolfgang Gleisberg (ab 1933 an der IÜ, ab 1954 Lehrstuhlinhaber) an der Naturwissenschaftlichen Fakultät, erhielt Nüzhet Gökdogan nach Gleisbergs Emeritierung.
Frauen an der IÜ waren also durchaus nichts Ungewöhnliches .
Wie Emigrant:innen die Türkei verließen
1942 bürgerte das ‚Reich‘ alle Emigranten:innen aus, die von der nazistischen Gesetzgebung erfasst worden waren. Die türkischen Behörden erkannten ihren Emigrantenstatus mit dem Eintrag ‚haymatloz‘ in ihren Aufenthaltspapieren an. Manche Mitarbeitende der Emigrant:innen an der IÜ waren ihren vertriebenen Chefs freiwillig in die Türkei gefolgt. Manche waren aus Deutschland ausgereist, bevor die NS-Verwaltung sie registriert hatte oder sie wegen politischer Aktivitäten hatte festnehmen können.
1944 brach die Türkei ihre Beziehungen zu Deutschland ab. Diejenigen, die noch im Besitz eines Passes waren, konnten nach Deutschland zurückkehren. Wenn sie bleiben wollten, wurden sie interniert, auch wenn sie sich selbst als Emigrant:in verstanden. Ob Emigrant:in oder nicht, die meisten nicht-jüdischen Deutschen und Österreicher:innen kehrten nach 1945 aus der Türkei in das befreite Deutschland und Österreich zurück.
Aufgrund der beschränkten fachlichen Entwicklungsmöglichkeiten wanderten die wissenschaftlichen Emigrant:innen schon vor 1944 nach Möglichkeit nach Palästina oder in die USA weiter. Die Hilfsorganisation `Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland´ mit ihrem Gründer und Vertreter Philipp Schwartz an der IÜ vermittelte solche Emigrationen in ein zweites Zufluchtsland über die Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) in London. Beide Hilfsorganisationen arbeiteten zusammen.
Hilda Pollaczek (geb. Geiringer), kam aus Berlin zu ihrem akademischen Lehrer Richard von Mises an den Mathematik-Lehrstuhl der IÜ. Sie wollte von Mises folgen, der einen Ruf an die Harvard University in den USA angenommen hatte. Welche Befürchtung sie hatte, als Frau in den USA keine Stelle zu finden, zeigt ihr Brief an die Sekräterin der SPSL:
„Please would you consider that it is much more difficult for a university woman to find any position than – under similar circumstances – for a man. Because there is in many cases the added difficulty that university posts are not given to women.“
Aus Angst, keine Einreisepapiere für die USA zu bekommen schreibt sie schließlich an von Mises: „Gibt es keinen Weg, pro cura zu heiraten? Hier [in Istanbul, Anm. der Autorin] hat ein Emigrant, der eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, seine ‚Braut‘ geheiratet, und ihr wurde gestattet, direkt aus Wien zu ihm zu kommen.“ Die SPSL vermittelte Hilda Geiringer schließlich als ‚lecturer‘ an das Bryn Mawr College in Pennsylvania. In den USA heiratete sie Richard von Mises.
Hilfreich für eine solche Vermittlung waren Veröffentlichungen, die Emigrantinnen über die Forschungsarbeiten an der IÜ mit Kollegen und Ordinarien verfassten. Ein Beispiel sei genannt: Die Dermatologin Berta Ottenstein leitete das Labor des Krebsinstituts des Pathologen Siegfried Oberndorfer vom Lehrstuhl für Allgemeine und Experimentelle Pathologie (1934 bis 1938). Sie veröffentlichte zu den Resultaten der Forschung am Institut.
Im Rahmen des Reformprojekts sandte die IÜ ‚ihre‘ Emigranten:innen auch auf Fachkongresse ins Ausland. Sie machten die türkische Universität im Ausland bekannt. Berta Ottenstein war eine der Kongressteilnehmer:innen im nicht nazifizierten Ausland. Sie vertrat die IÜ auf dem 3. Internationalen Mikrobiologiekongress in New York im Jahre 1939 mit einer Arbeit zur Krebsforschung aus dem Institut. Nach ihrer Emigration in die USA erhielt sie eine Stelle als research fellow an der Harvard University. Zurück in Deutschland wurde Ottenstein 1951 eine außerplanmäßige Professur verliehen.
Auch Erika Bruck setzte ihre Karriere in den USA fort. Sie ging 1947 in die USA und war dort von 1969 bis 1978 Professorin für Pädiatrie an der State University New York, Buffalo. Ihre Erfahrungen in der Türkei wertete sie positiv. Sie schreibt dazu rückblickend:
„Meine Arbeit in der Türkei hat zwar meine medizinische Ausbildung – nach einem Jahr als Medizinalpraktikantin – unterbrochen, hat mich aber viel gelehrt, was mir später half, obwohl es nicht offiziell für meine Karriere angerechnet wurde: nicht nur Laboratoriumstechnik, sondern viel über die Rolle von Laboriatoriumstechnik in der Medizin. Ich lernte, hauptsächlich von meinem Schwager, wie man ohne in Mitteleuropa als unentbehrlich betrachtete Hilfsmittel Ziele erreichen kann, ohne die Qualität zu kompromittieren. Durch Kontakt mit türkischen Studenten, Patienten und – bei weit sich ins Hinterland erstreckenden Anatolienreisen – einfachen Türken in kleinen Städten und Dörfern lernte ich viel über den Einfluß der Schulbildung, der öffentlichen Hygiene, der Umwelt auf die Gesundheit von Individuen sowie der Bevölkerung im ganzen.“
Wie Erika Bruck haben Emigrantinnen an der IÜ Vertreibung und Flucht nicht nur als Opfer erlebt, sondern ihr Schicksal kreativ gewendet: An der Universität Istanbul haben sie einen entscheidenden Beitrag zur türkischen Universitätsreform geleistet.