Bootsflüchtlinge in Sizilien
Im Jahr 2014 erreichte die Zahl der sogenannten Bootsflüchtlinge über 170.000 Menschen und stieg im Jahr 2017 auf 199.356 geflüchtete Menschen an, die über das Mittelmeer die Küste Siziliens erreichten.
2018 dagegen waren es nur noch 23.270 Geflüchtete, die an der Küste Siziliens strandeten. Eine erschreckend niedrige Zahl, die nicht mit einem vermeintlichen Rückgang der Migrationsbewegungen zu tun hat, sondern eindeutig mit den politischen Entscheidungen und Maßnahmen auf EU- und italienischer Ebene. Durch die Abkommen mit Transitländern, wie u.a. dem von Anarchie und Bürgerkrieg erschütterten Libyen entstehen enorme Migrationsengpässe, die mit grenzenlosen Menschenrechtsverletzungen an Migrant*innen und Geflüchteten einhergehen.
„Die Bereitwilligkeit der EU, Geld für die Zusammenarbeit mit bewaffneten Milizen und korrupten Regierungen ‚anderswo‘ aufzuwenden und wissentlich zuzulassen, dass Migrant*innen festgehalten werden oder im Meer ertrinken, ist eine klare Verweigerung von Verantwortlichkeit gegenüber den Menschenrechten.“
Schließlich hat die Entscheidung der italienischen Regierung im Jahr 2018 und 2019, die Häfen zu schließen, zu einem Anstieg der Zahl der Migrant*innen geführt, die an die libyschen Küsten zurückgebracht wurden: Insgesamt wurden seit Juni 2018 über 10.000 Menschen auf See von der libyschen Küstenwache abgefangen, seitdem die oben erwähnte „Politik der geschlossenen Häfen“ in Kraft ist. Dennoch versuchen Menschen über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Ihre Not– nach langer, oft auch traumatischer Reise – ist derart angestiegen, dass selbst die schrecklichsten Geschichten über die Fahrt nach Sizilien sie nicht mehr abschrecken. Durch die Kriminalisierung der Seenotrettung sind hingegen auch die Seeleute und die NGOs mit ihren Rettungsschiffen gefährdet. Diese Politik, die eindeutig das Sterben im Mittelmeer erhöht, fand mit der neuen Regierung in Italien ab Mitte September 2019 ein Ende. Eine Wiederaufnahme der systematischen staatlichen Seenotrettung im südlichen Mittelmeer ist umso dringlicher, je mehr Menschen weiterhin im Mittelmeer ertrinken.
“If we do not intervene soon, there will be a sea of blood.“ So beschreibt Carlotta Sami, die Sprecherin der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR in Italien, die Herausforderung und Dringlichkeit der Situation auf dem Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien und Sizilien. Schaut man fast neun Jahre zurück, so entsteht der Eindruck, dass sich trotz vieler Appelle recht wenig geändert hat:
“I’m becoming more convinced that European policies on immigration consider this offering of human lives as a way to restrict the flows of people, or even as a deterrent. But, if for these people a trip on a boat is still the only possibility of hope, I believe that their death at sea must be a reason for Europe to feel ashamed and dishonoured.”
Unter den wenigen, die im Jahr 2018 die Küste von Sizilien erreichten, befinden sich viele schutzbedürftige Personen: unbegleitete Minderjährige (3.536 im Jahr 2018), schwangere Frauen oder Frauen mit minderjährigen Kindern, Opfer von Folter, Menschenhandel und schwerer Ausbeutung. Der Aufenthalt in Italien sollte diesen Zustand der Verwundbarkeit verringern, doch dies ist nicht immer der Fall. Der Mangel an spezifischen Diensten und Unterstützungsmaßnahmen oder Unterbrechungen im Zugang zu bestehenden Diensten sowie die verschärfte Unsicherheit der Rechtslage zählen zu den Hauptgründen. Zusätzlich erschwerend ist, dass die meisten Sizilien eher als Transit- statt als Zufluchtsort sehen und entweder in den Norden des Landes oder in ein anderes europäisches Land zu gelangen versuchen.
Sizilien als Einwanderungs- und Zufluchtsraum oder Eingangstor Europas?
Sizilien hat im Lauf seiner Migrationsgeschichte verschiedene Phasen der Einwanderung und Auswanderung erlebt, wobei insbesondere die transnationalen Beziehungen mit Tunesien von jahrhundertealter Bedeutung sind. Ab den 1960er und 1980er Jahren kamen weiterhin Menschen als Arbeitsmigrant*innen aus dem Maghreb, aber auch aus anderen Ländern Afrikas und Asiens. In dieser Zeit entwickelte sich Sizilien zum Eingangstor Europas und damit zu einem Transitraum für Migrant*innen in Richtung der prosperierenden Räume Norditaliens oder Nordeuropas.
Seit den 1990er Jahren erlebte Sizilien einen eindeutigen Wandel hin zu einem Einwanderungsraum für Migrant*innen aus der EU und Asien sowie einem Zufluchtsraum für Geflüchtete, die mit ersten Booten über das Mittelmeer nach Sizilien kamen. Während der 1990er Jahre ist Sizilien Ziel konsistenter Migrationsprozesse geworden, vergleichbar mit dem Norden und Mittelitalien. Im Januar 2018 erreichte die ausländische Bevölkerung auf Sizilien 193.014 Menschen, gleichbedeutend mit 3.8% der sizilianischen Gesamtbevölkerung.
Die hohe Heterogenität der Zugewanderten ist eindeutig ersichtlich: Rumän*innen (fast 30%), gefolgt von Tunesier*innen (10,5%), Marokkaner*innen (7,8%) und Singhales*innen (7,0%), Albaner*innen (4,5%), Bengaler*innen (4,3%), Chines*innen (3,9%), Pol*innen (2,8%), Philippin*innen (2,8%), Ghanaer*innen und Nigerianer*innn (beide 2,0%), Senegales*innen (1,7%), Mauretaner*innen (1,6%), Gambianer*innen (1,3%), Pakistaner*innen (1,1%), Ukrainer*innen (1,1%), Inder*innen (1,1%), Deutsche (0,9%), Malaysier*innen (0,9%) und Bulgar*innen (0,7%).
Palermo – Stadt der Aufnahme
Palermo, die sizilianische Hauptstadt, ist die Stadt mit dem höchsten ausländischen Bevölkerungsanteil auf Sizilien. Im Januar 2018 erreichte die Provinz Palermo, dicht gefolgt von Catania, das Höchstniveau von rund 36.000 Ausländern.
Obwohl Sizilien insgesamt weiterhin nicht die obersten Plätze auf der Rangliste der Zielorte von Migrant*innen und geflüchteten Menschen belegt, die über das Mittelmeer gekommen sind, entwickelt sich Palermo dennoch immer mehr zu einem bevorzugten Zielort. So ist Palermo nicht nur ein Ort der (vorübergehenden) Zuflucht, sondern auch der Einwanderung: Dies zeigen die Zahlen über die Zusammensetzung der zugewanderten Menschen in Palermo. Die größten Gruppen im Jahr 2018 sind 7213 rumänische Zugewanderte, in der Mehrzahl Frauen, gefolgt von 5455 Personen aus Bangladesch, 3635 aus Sri Lanka, 2888 Migrant*innen aus Ghana und 2265 aus Marokko. Deutlich wird bereits an diesen zahlenmäßig größten Gruppen die Vielfalt der Migration aus Europa, Asien und Afrika.
Palermo ist ein wichtiger Aufnahmeort für minderjährige unbegleitete Geflüchtete in Italien. Nach Angaben aus dem Jahr 2018 sind 90,0 % davon männlich und durchschnittlich 17 Jahre alt. Mit Blick auf Gesamtsizilien kommen fast alle Minderjährigen aus Afrika. Die größte Gruppe der jungen Geflüchteten in Palermo kommt aus Gambia, gefolgt u.a. von Eritrea, Mali, Ghana und Tunesien.
We Refugees Archiv hat im Juni 2019 mehrheitlich mit sehr jungen Migrant*innen und Geflüchteten in Palermo gearbeitet, die fast ausnahmslos als 16- oder 17-Jährige über das Mittelmeer aus den Ländern Gambia, Guinea, Mali, Nigeria und Somalia nach Sizilien gekommen sind. Ob sie in Palermo bleiben können, ist noch ungewiss. Die unterschiedlichen Motive ihrer Migration beschreiben sie in den wenigstens Fällen als Flucht, obwohl die Beschreibungen ihrer Reise nach Sizilien sehr den erschreckend bekannten Fluchterfahrungen ähneln. Sie erleben und schätzen in Palermo ein Unterstützungsnetzwerk, treffen im Viertel Ballarò ihre Freunde, haben mehrheitlich die italienische Sprache gelernt und Schulabschlüsse erlangt. Sie leben ein Palermo, welches aus ihrer Perspektive besser ist als viele andere Städte des italienischen Nordens und für sie nicht nur Zufluchtsort, sondern auch Zukunftsort werden könnte.