Vom 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Nationalstaaten in das 21. Jahrhundert als Jahrhundert der Städte

Es sind die Staaten, die über Asylgesetzgebungen entscheiden, obwohl Städte die Orte sind, die Schutz bieten – Städte sorgen dafür, dass Menschen zusammenleben können. Immer stärker gelten Städte im Zeitalter der Globalisierung als Motoren des Wandels im Umgang mit Geflüchteten und Migrant*innen. Dort, wo Migration, d.h. der Neuanfang und das Leben stattfinden – auf lokaler Ebene –, erproben Bürger*innen und Stadtregierungen neue Lösungswege. Es geht darum Gestaltungsräume zu finden, um die hohe Verletzlichkeit der Neuangekommenen zu verringern und  Teilhabe zu ermöglichen. Und das steht immer öfter im Kontrast zu den ausgrenzenden Entwicklungen von Nationalstaaten und deren Gesetzgebungen. Damit geht ein Perspektivwechsel einher: nämlich weg von den nationalstaatlichen und EU-europäischen Machtbereichen hin zu den Räumen, wo Ankommen und gesellschaftliches Zusammenleben passiert.

Mit der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten vom September 2016 wurde die Bedeutung der Ankunftsorte für Geflüchtete hervorgehoben und der Blick auf lokale Lösungen und Chancen gestärkt.

„Wir verpflichten uns, die Aufnahmeländer und -gemeinschaften in dieser Hinsicht zu unterstützen, insbesondere durch die Nutzung vor Ort vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten. Wir werden lokale Entwicklungsprogramme unterstützen, die sowohl den Flüchtlingen als auch den Aufnahmegemeinschaften zugutekommen.“ 11Vereinte Nationen, 2016: New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 19.09.2016, A/RES/71/1: https://www.un.org/depts/german/gv-71/band1/ar71001.pdf (01.10.2019), p. 15.

Das 21. Jahrhundert als Jahrhundert der Städte

Das 20. Jahrhundert ist oft als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ oder als „Jahrhundert der Vertreibungen“ bezeichnet worden.22Marrus, Michael, 1985: The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century. Tempel University Press, Philadelphia; Oltmer, Jochen, 2010:  Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86), München: R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag. In der Tat erreichten Zwangsmigrationen unterschiedlicher Form ein bis dahin ungekanntes Ausmaß. Der Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich bisher durch eine Fortführung als neues Jahrhundert der Geflüchteten ab. 33Barber, Benjamin, 2013:  If Mayors Ruled the World. Dysfunctional Nations, Rising Cities, Yale University Press. Inwieweit Städte im neuen Jahrhundert eine Rolle des Widerstands und der Neudefinitionen im Umgang mit Migrant*innen einnehmen können, gilt es an ausgewählten Städten zu analysieren. Dabei werden auch Kontinuitätslinien und Brüche zur Rolle der Stadt im 20. Jahrhundert nachgezeichnet, nahmen doch auch im „Jahrhundert der Flüchtlinge“ vor allem urbane Zentren den Platz ein, einen (vielleicht temporären) Ort der Zuflucht und des Neuanfangs zu bieten.

Der Local Turn

Die Krise der EU-Migrations- und Asylpolitik angesichts der Frage nach Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten hat spätestens seit dem Sommer 2015 den Fokus auf Lösungen auf lokaler Ebene verstärkt. Der sogenannte „local turn“ gewinnt somit auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Einwanderung und gesellschaftliche Partizipation Raum. 44Hughes, Caroline / Öjendal, Joakim / Schierenbek, Isabell, 2015: The struggle versus the song: the local turn in peacebuilidng: an introduction, pp. 817-824 in Third World Quarterly 36(5). Die lokale Ebene bzw. die Stadt entwickelt sich immer stärker als neuer Lösungsraum für politische Sackgassen der Nationalstaaten. Innerhalb dieser Entwicklungen deklarieren sich immer mehr Städte weltweit zu Städten der Zuflucht oder der Aufnahme, wie beispielsweise Palermo.

Stadt als Zufluchtsort

Eine eindeutige Definition des Konzepts „Stadt der Zuflucht“ ist unmöglich, da mit ihm sowohl Solidaritätsbekundungen und Praktiken verbunden sind, die nicht immer an konkrete Bedingungen geknüpft sind. Nicht alle urbanen Gemeinden genießen den gleichen Handlungsspielraum, sondern sind in unterschiedlichem Maße den Restriktionen der Nationalstaaten ausgesetzt. Darüber hinaus gibt es urbane Räume, in denen Praktiken ausgeübt werden, die denen der erklärten „Sanctuary Cities“ ähneln, die sich jedoch nicht als Zufluchtsstädte beschreiben. 55Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across. National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1.

In der heutigen Diskussion gibt es unterschiedliche Bezeichnungen für diese Städte und Gemeinden, die von „Städte der Zuflucht“, „Città di accoglienza“ über „Solidarity Cities“, „Willkommensstädte“ oder „Sichere Häfen“ reichen. Die Städte versuchen, sich innerhalb ihrer Möglichkeiten ihrer nationalen Regierung zu widersetzen und Schutzräume zu bieten. Das Ziel ist, neue Antworten zu finden, um einen möglichen Rechtsraum für die ansässigen Geflüchteten zu schaffen, die sich dem Diktat des Nationalstaats proaktiv widersetzen oder diese kreativ übersetzen.

Sanctuary cities are an innovative urban response to exclusionary national policies. 66Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. p. 125.

Dabei geht es in der Regel darum, die Zusammenarbeit mit ihrer jeweiligen nationalen Regierung bei Fällen der illegalen Einwanderung und fehlender Aufenthaltsgenehmigung zu reduzieren und Möglichkeiten zu schaffen, innerhalb der Stadtgrenzen Zuflucht zu bieten. Es gibt vier Aspekte, die eine Stadt der Zuflucht auszeichnen: 77Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across. National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. pp. 126-127

(1) Legalität, z.B. die offizielle Verpflichtung einer städtischen legislative Instanz, Zufluchtsmaßnahmen und -praxen zu unterstützen;

(2) Diskurs, z.B. die Herausforderung ausschließender Narrative, die Migrant*innen und Geflüchtete als kriminell und unwürdig darstellen;

(3) Identität, z.B. die Formierung kollektiver Identitäten, die eine einheitliche Mitgliedschaft einer urbanen Gemeinschaft ausdrücken;

(4) Maßstab, z.B. die Zurückweisung nationaler Migrations- und Fluchtgesetzgebungen sowie die Umsetzung von Maßnahmen und Praktiken der Zugehörigkeit.

Diese vier Aspekte treten auf zahlreiche Weisen in verschiedenen Kontexten kombiniert auf. Nichtsdestotrotz können sie als eine verständliche Definition einer Stadt der Zuflucht dienen.

Eine Frage der Perspektive

Der Blick der Geflüchteten auf ihre Stadt der Zuflucht öffnet eine Perspektive, die mit den Strategien und Hoffnungen der Menschen zu tun hat, die mit der jeweiligen Stadt verknüpft waren oder sind. Obwohl Vilnius – Hauptstadt einer polnischen Wojewodschaft bis Oktober 1939, danach bis Juni 1940 Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik – sich selbst sicherlich nicht als „sanctuary city“ definiert hat, stellte sie für die jüdischen Flüchtlinge für eine gewisse Zeit den Zufluchtsort schlechthin dar. Internationale jüdische Organisationen und Selbstorganisationen von Flüchtlingen trafen auf städtische Initiativen, die den Flüchtlingen einen sicheren Hafen boten.

Urban sanctuary communities are changing the discourses of migration and belonging and are reimagining the city as an inclusive space. 88Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary acrossNational Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. p. 125.

Dieser Hafen wurde von vielen sowohl für eine wie auch immer geartete Weiterfahrt genutzt. Doch aufgrund der über Jahrhunderte in die Stadt geflochtenen jüdischen Infrastruktur stellte Vilnius für viele eben auch eine Stadt des Neuanfangs und Basis zur Fortführung des kulturellen Lebens dar. Dass diese Hoffnungen vom nationalsozialistischen Deutschland auf brutalste Weise zerschlagen wurden, sollte nicht dazu führen, die Geschichte rückwärts zu lesen und Vilnius als eine sanctuary city für jüdische Geflüchtete zu disqualifizieren.

In der heutigen Zeit definiert sich Palermo als Stadt der Aufnahme und signalisiert damit eine Bereitschaft zur Öffnung und Teilhabe aller Menschen über die Zuflucht hinaus:

„There are no migrants; who arrives in Palermo becomes a Palermitan.” 99Charter von Palermo, 2015

    Fußnoten

  • 1Vereinte Nationen, 2016: New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 19.09.2016, A/RES/71/1: https://www.un.org/depts/german/gv-71/band1/ar71001.pdf (01.10.2019), p. 15.
  • 2Marrus, Michael, 1985: The Unwanted. European Refugees in the Twentieth Century. Tempel University Press, Philadelphia; Oltmer, Jochen, 2010:  Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 86), München: R. Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
  • 3Barber, Benjamin, 2013:  If Mayors Ruled the World. Dysfunctional Nations, Rising Cities, Yale University Press.
  • 4Hughes, Caroline / Öjendal, Joakim / Schierenbek, Isabell, 2015: The struggle versus the song: the local turn in peacebuilidng: an introduction, pp. 817-824 in Third World Quarterly 36(5).
  • 5Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across. National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1.
  • 6Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. p. 125.
  • 7Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary across. National Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. pp. 126-127
  • 8Bauder, H. / Gonzalez, D. A., 2018: Municipal Responses to ‘Illegality’: Urban Sanctuary acrossNational Contexts. Social Inclusion 2018, Volume 6, Issue 1, cit. p. 125.
  • 9Charter von Palermo, 2015