Zusman Segalovitsh über das Flüchtingsdasein im Zwischenstopp Równo
In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939, nur wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen, entschied sich eine Gruppe jüdischer Journalisten und Schriftsteller auf Geheiß der polnischen Regierung Warschau in Richtung Osten zu verlassen, um dem deutschen Vormarsch zu entkommen. Unter ihnen war Zusman Segalovitsh (1884–1949), der sich nach einer langen Zeit des Umherirrens mit dem Zug dazu entschließt, auszusteigen und in der ostpolnischen Stadt Równo zu bleiben.
װילנע און פֿון װילנע קײן קאָװנע און װײַטער, װײַטער פֿון דאַנען. איך האָב פֿאַרגעסן מײַן מידקײט, מײן קראַנק האַרץ. איך האָב אויפֿגעװאַכט און געלאָפֿן אַהין, אַהער, געשטאַנען אין דער רײ, געװאַרט אויף פּאַפּירלעך און דערנאָך זיך געשלעפּט לאַנגע מעת־לעתן אין שמוציקע װאַגאָנעס. סאַרני, באַראַנאָװיטש, לידע. איך בין געקומען אין װילנע. דאָרט באַגעגנט כּמעט אַלע חבֿרים, מיט װעלכע מען איז צוזאַמען אַרויס פֿון װאַרשע. אין װילנע זענען געװען די רוסן, אין װילנע איז קײן ברויט נישט געװען. שפּעטער האָבן די שטאָט פֿאַרנומען די ליטװינער… מען האָט זיך װידער געשטעלט װאַרטן אין דער רײ, געװאָלט אַ דערלויבעניש אַרײַנצופֿאָרן קײן קאָװנע…
In Równo
Unserer Zug stand wieder lang auf einer Stelle. Es war dunkel wie irgendwo unter der Erde. Wir standen an einem Bahnhof, weil ich Bewegung hörte. Waggons wurden gerückt und geschlagen. […] Ich ging zum Fenster und fragte in die Dunkelheit:
– Wo stehen wir?
– Wir stehen an der Station Równo.
[…] Der Zug stand immer noch. Die Knochen schmerzten. Sollte ich gar in Równo aussteigen? Ich hatte keine Kraft mehr. Und Hoffnung? Wer weiß, vielleicht würde es in Równo besser sein. Jetzt spielte Zufall die größte Rolle. Vielleicht liegt in Równo mein Glück? […] Inzwischen ist der Zug aus dieser Finsternis herausgefahren und ist weg in die nächste Finsternis. Wir fuhren etliche Stunden, mal hielt man, mal bewegte man sich. Wir kamen an der Station Zdołbunów an, während es schon anfing zu dämmern. […] Irgendwas hat mich von meinem Platz gerissen: Ich fahre nicht weiter, ich werde aus Zdołbunów zu Fuß zurück nach Równo laufen und komme was wolle. Stupnitski blieb in Lublin, Gotlib verließ uns in Pinsk und ich gehe nach Równo. Jeder hat sein Schicksal.
[…] Um 10 Uhr morgens kam ich in Równo an. Die Friedlichkeit und Ruhe der Chaussee war schon vergangen. Zehntausende Geflüchtete, Zivilisten und Beamte, haben die Straßen geflutet. Alles war in Bewegung wie am Tag vor dem Weltuntergang. Ich war inzwischen schon ein geübter Geflüchteter, so beschloss ich zur „TOZ“ zu gehen. Das ist die jüdische Gesundheitsgesellschaft. In jeder Stadt gab es eine solche Abteilung.
– Ich bin der und der. Vielleicht können Sie mir helfen?
– Gut! Was brauchen Sie?
– Eine Wanne und frische Kleidung. […]
Ich hatte Glück. Hunderte Menschen schliefen auf der Straße und ich hatte ein großes Zimmer. Tausende suchten nach Essen und ich hatte das Beste… Mein Glück tat mir weh! Ich habe erst jetzt wirklich gefühlt, wie Łuków und Lublin mein Herz in einen Trümmerhaufen verwandelt haben. […]
Ich habe mich in Równo unter die tausenden Geflüchteten gemischt, bin zu ihnen gelaufen und dann von ihnen entlaufen. Hinein in die Massen wie ein Pfahl unter Pfählen. Ich habe mich mit ihren bitteren Gerüchten gesättigt und bin sehr bald in meine Einsamkeit entkommen.
Eines Morgens, 8 Uhr, sind wir alle in einen Schutzraum gerannt. […] Nach einem Tag, oder etwas länger oder weniger, wird der Deutsche einmarschieren und er wird das machen, was auch immer er machen will … In einem solchen Moment kam das Dienstmädchen von unserem Fishbein in den Schutzraum gerannt. Bis jetzt war sie oben in der Küche gewesen, sie hielt nichts von Schutzräumen. Jetzt kam sie atemlos herbeigerannt und begann zu erzählen. Das Radio war doch die ganze Zeit an. Sie hörte, wie Moskau verkündigte, dass die Sowjetmacht beschlossen hat, die östlichen Gebiete einzunehmen. Heute werden schon die Russen kommen. Ganz sicher, ganz sicher. Sie hat es selbst gehört. Augen und Ohren waren auf sie gerichtet, geglaubt hat man es aber noch nicht.
[…] 15 Uhr. Um Punkt 15 Uhr sind die ersten sowjetischen Panzer in die Stadt geglischt. Einer nach dem anderen. Auf jedem Panzer war ein roter Banner und ein bewaffneter Soldat mit den Waffen bereit.
[…] Als ich Warschau verließ, habe ich gefühlt, dass es nicht lange dauern würde, bis ich sterbe. Und jetzt – ich halte mich… Das machte mich einfach neugierig. Zieh weiter. Soll es ein Spiel mit dem Leben, dem Monster sein. Soll es!
[…] Das Radio meldete, dass Litauen Vilnius bekommen und das dies sehr bald geschehen soll. Ich wurde hellhörig, mein Herz klopfte. Litauen wird Vilnius bekommen. Litauen ist doch ein neutrales Land und von dort wird man sich eventuell in die Welt hinausstehlen können. Die Fantasie spielte verrückt. In meiner Seele sang etwas enthusiastisch und trompetete:
Vilnius und von Vilnius aus nach Kowno und weiter, weiter von dannen. Ich vergaß meine Müdigkeit, mein krankes Herz. Ich bin aufgewacht und bin hierhin und dahin gelaufen, in Schlangen gestanden, auf Dokumente gewartet und sich danach lange Tage in schmutzigen Waggons geschleppt. Sarny, Baranowicze, Lida. Ich kam in Vilnius an. Dort traf ich auf fast alle Freunde, mit denen ich Warschau verlassen hatte. In Vilnius waren die Russen, in Vilnius gab es kein Brot. Später übernahmen die Stadt die Litauer … Ich begann erneut, mich einzureihen, um eine Erlaubnis zu bekommen, nach Kowno fahren zu dürfen …
Zusman Segalovitsh (1884–1949), 11Für biographische Details siehe Cohen, Nathan: Segalovitsh, Zusman in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Segalovitsh_Zusman (25.9.2019). gilt als einer der populärsten jiddischen Schriftsteller im Polen der Zwischenkriegszeit. Er war einer der wenigen polnisch-jüdischen Schriftstellern, die einen Sitzplatz im sogenannten Journalistenzug ergattern konnten, der in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939 Warschau vorerst in Richtung Lublin verließ, um dem deutschen Einmarsch zu entgehen, und am 10. Oktober 1939 in Vilnius ankam. Segalovitsh hingegen kam nicht mit dem Zug nach Vilnius, sondern auf anderen Wegen. Er entschied sich nach längerem Umherirren mit dem Zug, nahe der ostpolnischen Równo 22heute Riwne im Nordwesten der Ukraine auszusteigen und hier als Teil der großen Geflüchtetengemeinschaft vorerst zu bleiben. Er erlebte die sowjetische Besatzung, erfuhr hier davon, dass Vilnius Litauen zugeteilt wurde und entschloss sich so zur Weiterflucht nach Vilnius. Zwei Jahre später verließ er Vilnius, um über die Sowjetunion nach Palästina zu gelangen, und überlebte so die Shoah. 1948 erreichte er die USA, wo er bis zu seinem Tod 1949 lebte.
Fußnoten
1Für biographische Details siehe Cohen, Nathan: Segalovitsh, Zusman in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Segalovitsh_Zusman (25.9.2019).
Segalovitsh, Zusman, 1947: Gebrente Trit : Eyndrikn un iberlebungen fun a plitim-vanderung, Buenos Aires: Tsentral-Farband fun poylishe yidn in Argentine, Kapitel 4: In Rovno.