Lieber Günther –
Eben bekam ich Deine Postkarte und antworte Dir, um Dich so schnell wie möglich zu beruhigen. Wir sind immer noch in Paris, Mutt und ich; und ich werde alles tun, um bleiben zu können. Monsieur musste bedauerlicherweise in ein Lager, wo man alle anderen deutschen Staatsangehörigen versammelt hat, ohne jede Unterscheidung. Wir hoffen, dass sich das nicht zu sehr in die Länge ziehen wird. Benji z. B. ist auch dort – ich weiß nicht einmal, wo –, und für ihn wird das eine kleine Katastrophe. Die Bevölkerung ist wunderbar, im Ernst, und versteht unsere Situation sehr gut. Über uns Frauen ist noch nichts entschieden; aber es ist natürlich sehr gut möglich, dass wir auch „versammelt“ werden. Das ist kein Grund zur Beunruhigung, denn alles wird hier auf sehr menschliche Art abgewickelt. Ich schreibe Dir das nur, damit du nicht beunruhigt bist, wenn du nichts mehr hörst.
Soeben hat man mir einen Brief von Henri gebracht – Du siehst, [alles] in Ordnung.
Mutt geht es gut und sie hilft mir sehr. Ich sehe sehr wenige Leute, aber Channan kommt fast jeden Tag vorbei. Er ist Pole und wird in einer der nächsten Wochen aufbrechen. Wir bedauern sehr, dass es keine jüdische Legion gibt. Nun – die Zukunft wird es weisen.
Wirst Du das lesen können? – Ich bezweifle es. Aber Postkarten gehen schneller. Und ich wollte den wenigen Platz nutzen.
Alles Liebe!
H.
Von 1929 bis 1937 war Hannah Arendt (1906–1975) mit dem deutsch-österreichischen Philosophen, Dichter und Schriftsteller Günther Anders (bürgerlich Günther Siegmund Stern, 1902–1992) verheiratet. Auch Anders floh 1933 nach Paris, wohin ihm Arendt kurze Zeit später folgte. Die Ehe zerbrach schließlich 1937 an den wirtschaftlichen und emotionalen Schwierigkeiten als Geflüchtete im Quartier Latin. Doch auch nach der Scheidung verband sie eine lange Freundschaft. Zum Zeitpunkt des Briefes war Arendt schon mit Heinrich Blücher verheiratet, den sie schon vor der Scheidung von Anders kennengelernt hatte.
Der Brief entstand in der ungewissen Phase, bevor die französischen Behörden Anfang Mai 1940 über die Presse große Teile der deutschstämmigen Ausländer anwiesen, sich zum Abtransport zu melden. Arendts Brief ist Zeugnis für das Netzwerk und den Zusammenhalt, der in der Geflüchtetengemeinschaft in Paris entstanden war. Arendt wurde mit vielen anderen Frauen für eine Woche auf dem Gelände des Buffalo-Stadions festgehalten. Bald darauf wurde sie als „feindliche Ausländerin“ vier Wochen lang im südfranzösischen Lager Gurs interniert. Ihr gelang zusammen mit Heinrich Blücher die Flucht über Lissabon nach New York. Dort wartete auch Günther Anders auf sie.
Hannah Arendt (1906-1975) war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.
Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.
Arendt, Hannah, 1942; Anders, Günther: Schreib doch mal hard facts über dich. Briefe 1939 bis 1975, Texte und Dokumente. München 2016. S.12.