Lion Feuchtwanger: Trübe Gäste

In seinem Roman Exil beschrieb Lion Feuchtwanger die düstere Lebenssituation der deutschen Emigration in Paris.

Lion Feuchtwanger, Public domain, via Wikimedia Commons

Während des Krieges und in den beiden Jahrzehnten hernach hatten in manchen Ländern Revolutionen stattgefunden. Diese Umwälzungen hatten zahlreiche Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben. Es gab also Emigranten vieler Nationen.

Die deutsche Emigration war zerklüfteter als jede andere. Es gab unter den deutschen Exilanten zahlreiche, die um ihrer politischen Gesinnung willen hatten fliehen müssen, und es gab die große Masse derjenigen, die, nur weil sie selber oder ihre Eltern in den standesamtlichen Registern als Juden geführt wurden, sich zur Auswanderung gezwungen gesehen hatten. Es gab viele, Juden und Nichtjuden, die freiwillig gegangen waren, weil sie die Luft des Dritten Reichs einfach nicht mehr hatten atmen können, und andere, die für ihr Leben gern in Deutschland geblieben wären, hätte man sie dort nur auf irgendeine Art ihren Lebensunterhalt verdienen lassen. Aber eben das war einer der wesentlichen Punkte des nationalsozialistischen Programms und eigentlich der einzige, der sich verwirklichen ließ: den politischen Gegnern, den persönlichen Feinden oder Konkurrenten der neuen Herren und den als Juden Eingetragenen die Lebensmöglichkeit zu nehmen, auf daß sie krepierten wie die Fische eines austrocknenden Gewässers. Viele der deutschen Emigranten waren eingekerkert gewesen, mißhandelt, gedemütigt, schikaniert, viele hatte Freunde und Verwandte, die in Deutschland umgekommen waren, viele arbeiteten außerhalb der Reichsgrenzen am Sturz des verhaßten Regimes. Aber es gab auch solche, die mit der neuen Herrschaft einverstanden waren, die nie gefühlt, ja kaum gewußt hatten, daß sie Juden waren, und die, nachdem sie sich plötzlich infolge irgendeiner standesamtlichen Eintragung als Juden und somit als minderwertig abgestempelt sahen, nur sehr gegen ihren Willen aus ihrer vielhundertjährigen Heimat vertrieben worden waren. Es gab also unter diesen Exilanten Menschen jeder Art, solche, die ihre Gesinnung, und solche, die einfach ihre Geburtsurkunde oder irgendein anderer Zufall aus Deutschland getrieben hatte; es gab freiwillige und es gab Muß-Emigranten.

Auch gab es unter den hundertfünfzigtausend aus Deutschland Verjagten nicht nur Menschen jeder politischen Gesinnung, sondern auch jeder sozialen Stellung und jedes Charakters. Jetzt, ob sie wollten oder nicht, bekamen sie alle die gleiche Etikette aufgeklebt, wurden sie alle im gleichen Topf gekocht. Sie waren in erster Linie Emigranten und erst in zweiter, was sie wirklich waren. Viele sträubten sich gegen eine so äußerliche Einordnung, doch es half ihnen nichts. Die Gruppe war nun einmal da, sie gehörten dazu, die Verknüpfung erwies sich als unlösbar.

Für die meisten bedeutete die freiwillige oder erzwungene Flucht aus Deutschland Preisgabe ihrer Stellung und ihres Vermögens. Denn die Stellung mußte aufgegeben, das Geld zurückgelassen werden. Womit sonst hätte die regierende Partei die Versprechungen halten können, die sie ihren Mitgliedern gemacht hatte, bevor sie ans Ruder kam? So lebten also die deutschen Emigranten zumeist in Dürftigkeit. Es gab Ärzte und Rechtsanwälte, die mit Krawatten hausierten, Büroarbeit verrichteten oder sonstwie, illegal, von der Polizei gehetzt, ihr Wissen an den Mann zu bringen suchten. Es gab Frauen mit: Hochschulbildung, die als Verkäuferinnen, Dienstmädchen, Masseusen ihr Brot verdienten.

Wohin immer diese trüben Gäste kamen, waren sie unerwünscht. Der Erdboden und die Arbeit waren verteilt unter Nationen, unter politische und gesellschaftliche Cliquen. Infolge planloser Produktion und sinnloser Verteilung hungerte ein großer Teil der Bevölkerung des Planeten bei gefüllten Vorratskammern und standen trotz Warenhungers und Arbeiterandrangs viele Maschinen still. Länder, in denen neue, fähige Menschen willkommen gewesen wären, gab es nicht mehr. Vielmehr wurden die fremden Kömmlinge, die Brot und Arbeit wollten, überall mit scheelen Augen angesehen.

Man erlaubte ihnen nicht zu arbeiten, kaum zu atmen. Man verlangte „Papiere“ von ihnen, Ausweise. Die hatten sie nicht, oder was sie hatten, genügte nicht. Manche waren geflohen, ohne Papiere mitnehmen zu können, die Pässe der meisten liefen allmählich ab und wurden von den Behörden des Dritten Reichs nicht erneuert. So hatten es diese Exilanten schwer, bestätigt zu bekommen, daß sie waren, wer sie waren. Das war manchen Ländern ein gelegener Vorwand, sie abzuschieben. Es kam vor, daß Menschen ohne jegliches Papier eines Nachts von den Gendarmen eines Landes heimlich über die Grenzen des Nachbarlandes und in der nächsten Nacht von den Gendarmen des Nachbarlandes ebenso heimlich wieder zurückgebracht wurden.

Den wenigsten bekamen die Leiden, die sie durchzumachen hatten. Denn es ist so, daß Leiden nur den Starken stärker, den Schwachen aber schwächer macht. Das alte Deutsch kennt für den Vertriebenen, für den Exilanten, zwei Worte: das Wort „Recke“, das nichts anderes bedeutet als eben Vertriebener, Geächteter, und das Wort „Elend“, das wiederum den Mann ohne Land, den aus dem Land Gestoßenen bedeutet. So bezeichnet die Weisheit der deutschen Sprache die beiden Pole, die das Wesen des Emigranten begrenzen. Unter den deutschen Emigranten wurden die meisten Elende und nicht sehr viele Recken; denn Gesinnung, Prinzipientreue sind Güter, auf die man leichter verzichtet als auf das tägliche Brot und auf die Butter darauf, und wenn es sich darum handelt, Ballast über Bord zu werfen, muß die Moral am ehesten daran glauben. Viele von den Emigranten verkamen. Ihre schlechten Eigenschaften, im Wohlstand versteckt und behütet, drangen Zutage, ihre guten schlugen um. Wer vorsichtig gewesen war, wurde feig, der Mutige verbrecherisch, der Sparsame geizig, Großzügigkeit wurde Hochstapelei. Die meisten wurden ich-besessen, verloren Urteil und Maß, unterschieden nicht mehr zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, ihr Elend wurde ihnen Rechtfertigung für Zügellosigkeit und Willkür. Auch wurden sie jammerselig und zänkisch. Aus sicheren Verhältnissen ins Unsichere gestoßen, verzappelten sie sich, wurden frech und servil zugleich, streitsüchtig, anspruchsvoll, besserwisserisch. Sie wurden wie Früchte, die man zu früh vom Baum gerissen hat, nicht reif, sondern trocken und holzig.

Je ranziger ihre Hoffnung wurde auf Rückkehr in die Heimat oder zumindest in gesicherte Verhältnisse, um so tiefer ließen sie sich fallen. Manchen wurde es zu einer Schande, Emigrant zu sein, sie versuchten ängstlich, es zu verbergen, natürlich umsonst. Andere, gerade weil ihnen nichts blieb als ihr Emigrantentum, trugen es arrogant zur Schau und leiteten immer höhere Ansprüche daraus her. War nicht Hannibal Emigrant gewesen, Dante, Victor Hugo, Richard Wagner, Lenin, Masaryk? Sie vergaßen, daß auch der kleine Weißrusse Maximow zu den Emigranten gehörte, der sich vor dem Montmartre-Lokal Koltschak als Türsteher und Zuhälter betätigte, und Herr Rosenbaum, der einem kunstseidene Krawatten als reinseidene aufzuschwindeln suchte, und Herr Lembke, der damit umging, sich der deutschen Staatspolizei als Spitzel anzubieten.

Man liebte sie nicht, die deutschen Emigranten, sie mußten, diese Fremden, ihren Umgang zumeist untereinander suchen. Da entlud sich denn häufig ihr Elend und ihre Verzweiflung in läppischem, kleinlichem Gezänk, einer rieb sich am andern, man sah unbewußt im andern das eigene Bild und beschimpfte in der Kleinheit des andern die eigene Unzulänglichkeit. Alle wollten sie das gleiche: Pässe, Arbeitserlaubnis, Geld, eine neue Heimat, am liebsten Rückkehr in die alte, befreite. Doch die Gründe, warum sie das wollten, die, Zwecke, wozu, und die Wege, wie sie es erreichen waren sehr verschieden, und was dem einen herrlich schien, war dem andern ein Greuel. So zerrieben sich durch die ständige Nähe selbst solche, die das gleiche innere Schicksal und die gleichen Ziele hatten, und einer erlebte Enttäuschungen am andern. Es gab Haß, manchmal Todfeindschaft unter den Emigranten, und, mehr oder minder guten Glaubens, verdächtigte einer den andern der Lässigkeit oder der Verräterei an der gemeinsamen Sache.

Ja, Exil zerrieb, machte klein und elend: aber Exil härtete auch und machte groß, reckenhaft. Das Leben des Bodenständigen, des Seßhaften verlangt und verleiht andere Tugenden als das Dasein des Nomaden, des Freizügigen. Im Zeitalter der Maschine aber, im Zeitalter, da die Maschine den größeren Teil der Bauern überflüssig macht, sind die Tugenden des Freizügigen für die Gesellschaft zumindest ebenso wichtig wie die des Seßhaften und geeigneter für den, der sich sein Leben täglich neu erkämpfen muß. Der Emigrant hatte weniger Rechte als die andern, aber viele Beschränkungen, Pflichten und Vorurteile der andern fielen von ihm ab. Er wurde wendiger, schneller, geschmeidiger, härter. „Walzender Stein wird nicht moosig“, heißt es bei dem alten Sebastian Franck; ein Stein, der bewegt wird, setzt kein Moos an. Was diesem deutschen Schriftsteller offenbar als Vorzug galt.

Viele engte das Exil ein, aber den Besseren gab es mehr Weite, Elastizität, es gab ihnen Blick für das Große, Wesentliche und lehrte sie, nicht am Unwesentlichen zu haften. Menschen, von New York nach Moskau geworfen und von Stockholm nach Kapstadt, mußten, wenn sie nicht umkommen wollten, über mehr Dinge nachdenken und tiefer in diese Dinge hineinschauen als solche, die ihr Leben lang in ihrem Berliner Büro festhockten. Viele von diesen Emigranten wurden innerlich reifer, erneuerten sich, wurden jünger: jenes „Stirb und werde“, das den Menschen aus einem trüben zu einem frohen Gast dieser Erde macht, wurde ihnen Erlebnis und Besitz.

An diese Emigranten klammerten sich viele Hoffnungen innerhalb und außerhalb der Grenzen des Dritten Reichs. Diese Vertriebenen, glaubte man, seien berufen und auserwählt, die Barbaren zu vertreiben, die sich ihrer Heimat bemächtigt.

„Man erlaubte ihnen nicht zu arbeiten, kaum zu atmen. Man verlangte „Papiere“ von ihnen, Ausweise. Die hatten sie nicht, oder was sie hatten, genügte nicht. Manche waren geflohen, ohne Papiere mitnehmen zu können, die Pässe der meisten liefen allmählich ab und wurden von den Behörden des Dritten Reichs nicht erneuert. So hatten es diese Exilanten schwer, bestätigt zu bekommen, daß sie waren, wer sie waren. Das war manchen Ländern ein gelegener Vorwand, sie abzuschieben.“ Was Lion Feuchtwanger 1940 schrieb, könnte aktueller nicht sein: Auch heute noch sehen sich Menschen angesichts fehlender Dokumente von Abschiebungen in Gebiete bedroht, aus denen sie vor Krieg, Verfolgung und sonstigen humanitären Katastrophen geflohen waren.

Lion Feuchtwanger (1884-1958) war ein deutsch-jüdischer Schriftsteller und Dramaturg, der in München aufwuchs und später in Berlin lebte. In seinen historischen Romanen thematisierte er den Antisemitismus in Europa in verschiedenen Epochen. Im Januar 1933 befand er sich in den USA und kehrte, als er von der nationalsozialistischen Machtübernahme hörte, nicht mehr nach Deutschland zurück. Stattdessen ging er nach Sanary-sur-mer in Frankreich. Auch in Paris, wo sein Roman Exil spielt, hält er sich öfter auf. Im Jahr 1940 floh er über Spanien und Portugal in die USA, wo er bis zum seinem Tod lebte. Dort wohnte er in der Villa Aurora in Los Angeles, die bereits zu Lebzeiten Feuchtwangers und seiner Frau Marta ein Begegnungszentrum für die europäische intellektuelle und künstlerische Geflüchtetengemeinschaft wurde. Heute gilt sie als bedeutendes Kulturdenkmal des deutschen Exils in Kalifornien und fungiert seit den 1990er Jahren als Residenz für Kunstschaffende.

aus: Lion Feuchtwanger. Exil. Roman. Wartesaal-Trilogie Band 3. Aufbau-Verlag Berlin 1956 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1956, 2008.