Walter Benjamin über Prekarität in Paris, Oktober 1935

In einem Brief an den Philosophen und Leiter des nun in New York sitzenden Instituts für Sozialforschung Max Horkheimer (1895–1972) beschreibt der deutsch-jüdische Philosoph und marxistische Kulturkritiker Walter Benjamin (1892–1940) seine prekäre Lage als Geflüchteter in Paris.

Meine Situation ist so schwierig, wie eine Lage ohne Schulden es überhaupt sein kann. Ich will mir damit nicht etwa das geringste Verdienst zuschreiben, sondern nur sagen, daß jede Hilfe, die Sie mir gewähren, eine unmittelbare Entlastung für mich bewirkt. Ich habe, verglichen mit meinen Lebenskosten im April, als ich nach Paris zurückkam, mein Budget außerordentlich beschränkt. So wohne ich jetzt bei Emigranten als Untermieter. Es ist mir gelungen, Anrecht auf einen Mittagstisch zu bekommen, der für französische Intellektuelle veranstaltet wird. Aber erstens ist diese Zulassung provisorisch, zweitens kann ich vor ihr nur an Tagen, die ich nicht auf der Bibliothek verbringe, Gebrauch machen; denn das Lokal liegt weit von ihr ab. Nur im Vorbeigehen erwähne ich, daß ich meine Carte d’Identité erneuern müßte, ohne die dafür nötigen 100 Francs zu haben. Auch den Beitritt zur Presse Étrangère, den man mir aus administrativen Gründen nahegelegt hat, habe ich, da die Gebühr 50 Francs beträgt, noch nicht vollziehen können.

Walter Benjamin war ein deutsch-jüdischer Philosoph und marxistischer Kulturkritiker. Er studierte Philosophie, deutsche Literatur und Psychologie in Freiburg im Breisgau, München und Berlin und promovierte mit der Arbeit Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik bei Richard Herbertz in Bern. 1923/24 lernte er in Frankfurt am Main Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer sowie Max Horkheimer kennen. Der Versuch, sich mit der Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels an der Frankfurter Universität zu habilitieren, scheiterte. Sein Interesse für den Kommunismus führte Benjamin für mehrere Monate nach Moskau. Zu Beginn der 1930er Jahre verfolgte Benjamin gemeinsam mit Bertolt Brecht publizistische Pläne und arbeitete für den Rundfunk. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang Benjamin, im September 1933 nach Paris zu fliehen. In Paris lebte Benjamin in Armut, was der Brief vom 16. Oktober 1935 an Max Horkheimer bezeugt. Horkheimer war dafür zuständig, Benjamin mit einem Stipendium des nach New York emigrierten Instituts für Sozialforschung zu versorgen, in dessen Zeitschrift letzterer den gerade fertiggestellten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ veröffentlichen wollte. 1939 wurde Benjamin im französischen Nevers für drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager interniert. Im September 1940 unternahm er den vergeblichen Versuch, über die Grenze nach Spanien zu gelangen. Um seiner bevorstehenden Auslieferung an Deutschland zu entgehen, nahm er sich am 26. September 1940 in Portbou das Leben. 11Walter Benjamin, https://www.suhrkamp.de/person/walter-benjamin-p-301.

    Fußnoten

  • 1Walter Benjamin, https://www.suhrkamp.de/person/walter-benjamin-p-301.

Walter Benjamin an Max Horkheimer, 16.10.1935, siehe Alfred Schmid und Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.). Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 15. Briefwechsel 1913–1936. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995. S. 413 f.