Dr. Ing. Martin Wagner, Stadtbaurat a.d.
Berlin-Halensee, Friedrichsruherstrasse 25, Fernsprecher: J7 3958
Istanbul, Kadiköy-Moda, Mano-Palace, am 30 Mai 1935.
Lieber Kollege Gropius,
Nachdem ich nun schon 4 Wochen auf türkischem Boden lebe, muss ich auch Ihnen einmal ewas von dem „Stambullen“ erzählen, was er hier so sieht und macht.
Wenn Sie vor meiner Abfahrt mir die väterliche Mahnung ans Herz legten, den Paschas nicht gleich in die Beine zu beissen, so war diese Mahnung – psychologisch gesehen – ganz überflüssig, zumal die Paschas doch als Retter aus meiner Not der Arbeitslosigkeit auftraten, wie hätte ich – u s w? Und wirklich, eine Befreiung war diese Reise hierher. Ich sehe erst heute, unter welchem seelischen Druck ich in Berlin stand. Man war dort wohl sicher sehr krank und lebte zwischen Wänden ohne Ausgang. Vielleicht ist die Ausgeherlaubnis noch kränkender, als das Eingesperrtsein zwischen vier Wänden. Und nun die Befreiung! Man lebt wieder auf. Man hat Arbeit. Man findet Anerkennung. Man wird geachtet. Es ist besonders die türkische Jugend, die in Deutschland studiert hat, die sich mir hier anschliesst, und die von mir Hilfe gegen die Ecole des beaux Arts erwartet, die bisher das Feld hier beherrscht hat. Das Feld dieser Schule ist aber ein formales, wie ethnisches Trümmerfeld. Man muss hier ganz von vorne anfangen. Ich sehe darin aber ein grosses Glück für Istanbul, weil diese Stadt noch alles aus sich machen kann, weil sie aus sich was machen muss.[…]
Stambul dagegen ist eine Hoffnung, weil es ein einziges Trümmerfeld ist, aus dem einige herrliche Juwelen herausragen. Hier muss die Arbeit des Städtebauers beginnen, wenn – Istanbul nicht so arm wäre, d.h. nicht soviel Steuern an den Staat abzuliefern hätte, der sie zum Aufbau neuer Industrien und vor allem für die Landesverteidigung verwendet.
Als ich hierher kam, da war ich zunächst wie zwischen zwei Pole gespannt. Auf der einen breite herrliche Landschaft und herrliche Bauten, und auf der anderen Seite ein völlig verdorbenes Stadtbild des 19ten Jahrhunderts und nichts von städtebaulicher Organisation oder städtebaulichem Können. Das Städtebaubüro besteht aus einen Baudirektor und drei jungen Architekten, von denen nur der eine bei Bonatz in Stuttgart etwas von Städtebau gehört hat. Von Planarbeiten keine Spur. Ich stand vor einem Nichts. Der Wettbewerb, den Ehlgötz gewann, ist natürlich auch nichts anderes, als Bilderbogenarbeit, weil die notwendigsten Unterlagen für eine solche Arbeit nicht zur Verfügung standen. Es ist auch bis heute noch nicht entschieden, wer den Plan nun machen soll. Ich selbst bin zu diesem Zweck nicht hergerufen worden. Ich bin hier nur ganz allgemein ein technischer Berater der Stadt, der sich nur auf zwei Monate verpflichtet hat, hier zu bleiben. Aber sofort nach meinem Eintreffen habe ich den Herrn kurz skizzieren müssen, welche Unterlagen sie für einen Generalplan erst ausarbeiten müssen und was ein Generalplan nach deutscher Auffassung eigentlich ist. Daneben erhielt ich den Auftrag, für Istanbul ein neues Baugesetz auszuarbeiten, weil das alte nur aus zwei kleinen Druckseiten besteht. An sich natürlich ein Ideal, wenn man es mit einem Höchststand architektonischer Kultur zu tun hätte. Aber wo hier nur Unternehmer herrschen, muss die Stadt doch wohl zunächst durch die Fesseln einer Bauordnung hindurch, bis ein höherer Reifestand erreicht ist. Ich hätte hier also tüchtig zu tun, wenn mich das Bedürfnis der Türken nach Ruhe und Gemütlichkeit nicht dauernd bremsen würde. Langsam, langsam geht hier alles und Poelzig wartet ja nun auch schon länger als 3 Monate auf seinen Vertrag über den Bau des Theaters und kann ihn nicht erhalten, obgleich ich ihm hier ständig Hilfsstellung leiste.
So wird auch meine Arbeit nur langsam vorwärts kommen. Wenn mich die Leute hier behalten wollen, dann habe ich aber auch Zeit und kann diese Zeit zur Erziehung an mir selbst verwenden. In Europa wird es wohl noch einige Jahre dauern – auch das sehe ich hier klarer – bis es uns wieder ruft und gebrauchen kann. Alles Kranke muss erst genesen. Und es wird genesen.
Da ich nun leider zu einer Verabredung fort muss, kann ich Ihnen nicht weiter schreiben. Ich nehme aber an, dass auch Sie mir bald etwas von sich mitzuteilen haben, sodass ich Ihnen später mehr berichten kann.
Mit den herzlichsten Grüssen, auch an Ihre Frau, und alle Londoner bin ich
M. Wagner
Ein enger Vertrauter Atatürks setzte sich vehement für die Anwerbung von ausländischer Architekten ein. Es kamen erfahrene Architekten und Künstler in die Türkei, darunter 1935 der ehemaligen Stadtbaurat von Berlin, Martin Wagner (1885-1957). Er erhielt eine Berufung zum städtebaulichen Berater der Stadt Istanbul. Dort erarbeitete er eine Reihe städtebaulicher Gutachten und einen General-Entwicklungsplan für die Stadt. Durch seine Vermittlung wurde ein Jahr später der berühmte Architekt Bruno Taut aus Japan in die Türkei an die Akademie der Schönen Künste in Istanbul verpflichtet.
Martin Wagner unterhielt während seiner Zeit des Exils in Istanbul mit vielen Anhänger:innen und Vertreter:innen des Neuen Bauens, wie Ernst Reuter (Ankara), Walter Gropius (erst London, später USA) Ernst May (Tanganjika in Ostafrika emigriert), Martin Mächler, Hans Scharoun (Berlin) und eben auch Bruno Taut (Istanbul) (Brief-)Kontakte.
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit der Weimarer Republik (1910er bis 1930er Jahre) entwickelte sich das Neue Bauen als bedeutende Strömung der deutschen Architektur und des Städtebaus, die konservativen und traditionalistischen Strömungen gegenüberstand. Das Neue Bauen zeichnete sich durch einen rationalistischen Ansatz und sozialpolitische Zielsetzungen aus: Durch einen einfachen, aber dennoch ästhetischen Baustil sollten für möglichst viele Menschen Wohnraum geschaffen werden.
„Die Architekten des Neuen Bauens eint über alle Grenzen der Länder hinaus ein warm empfundenes Herz für alle Menschen in Not, sie sind ohne soziales Empfinden undenkbar, ja man kann geradezu sagen, daß diese Schar die sozialen Momente bewußt in den Vordergrund des Neuen Bauens stellt.“ (Ernst May in: Das Neue Frankfurt 1928)
Im Nationalsozialismus wurde das Neue Bauen unterdrückt und stattdessen traditionalistische „heimatschützende“ Baustile durchgesetzt.
In diesem Brief an Walter Gropius vom Mai 1935 berichtet Wagner über seine erste Zeit in Istanbul, über seine Gefühle der Befreiung nach Zeiten von großem seelischen Druck in Berlin. Er reflektiert über Istanbul als Stadt der Moderne, beschreibt deren Bauten und die Möglichkeiten für Stadtplaner wie ihn. Wagner verfällt dabei, wie auch in einem weiteren Brief an Walter Gropius im Jahr 1937, in einen überheblichen, diskriminierenden Ton über die in seinen Augen nicht existierende Stadtplanung und langsamen Arbeitsprozesse in Istanbul. Seine Darstellung spiegelt die vorherrschende hegemoniale Sicht und paternalistische Überheblichkeit der angeworbenen deutschsprachigen Professoren gegenüber der türkischen Gesellschaft wider.
Briefwechsel Martin Wagner- Walter Gropius
Harvard Univ., Houghton Library, Walter Gropius Archive: MW an Gropius, HL 7/515x