Die syrische Küste in der Nase

Kefah Ali Deeb kam im Jahr 2014 nach Berlin und hat sechs Jahre lang in einer taz-Kolumne über ihre alte Heimat Syrien und ihr neues Zuhause Berlin geschrieben. Hier beschreibt sie, wie die Vergangenheit sie in ihrer Erinnerung an ihre Heimat Syrien, die verlorenen Freunde und die Flucht immer wieder einholt.

Die Flucht aus Syrien bleibt im Kopf. Wälder, Felder, Flüsse und Seen können mein Gedächtnis wenigstens manchmal ein bisschen besänftigen.

Kefah Ali Deeb © Lena Kern

Wir waren auf der Flucht, mein Freund, über den ich bereits in früheren Kolumnen schrieb, und ich, in der Hoffnung, nicht von den Sicherheitskräften aufgegriffen zu werden. Er lenkte den Wagen und fuhr eher langsam, während ich schweigend im Beifahrersitz versunken war. Durch das offene Fenster streichelte eine nach Meer und Zedern duftende Brise mein Gesicht.

Auf einer bezaubernd schönen Strecke fuhren wir an einem Ort an der syrischen Küste vorbei, auf der einen Straßenseite das Meer, auf der anderen Zedernwälder. Mein Herz schlug für das Land, das ich nicht aus freien Stücken verlassen wollte; die Sorge um das Leben schwebte über mir.

Plötzlich durchbrach mein Freund die Stille mit der Frage: ‚Weißt du, dass ich, so lange ich lebe, diese Land nie verlassen werde?‘ Ohne meine Reaktion abzuwarten ließ er das Lied Halwa ya baladi laufen, ‚Schön bist du, mein Land‘. Ich weinte vor Kummer und Liebe zugleich, während mein Freund aus Verlegenheit laut mitträllerte: ‚Schön bist du, mein Land‘.

Nur wenige Tage später wurde wir beide in ‚unserem schönen Land‘ gefasst und kamen ins Gefängnis. Ich kam später frei, er blieb drin. Das einzige, was ich in den sechs Jahren seitdem erfuhr, war, dass er vor zwei Jahren starb. Diese Nachricht wurde von keiner offiziellen Stelle je bestätigt oder dementiert. Sicher ist, dass er sein Versprechen gehalten hat: Er hat das Land nicht verlassen.

Der Duft der Wälder

Ich sitze gerade im ICE und fahre durch Brandenburg an Wäldern vorbei; Erinnerungen rütteln mich wach. Schade, dass sich die Fenster nicht öffnen lassen; gern würde ich den Duft der Wälder einatmen und mein Gedächtnis damit vielleicht etwas besänftigen.

Ich höre zurzeit keine Lieder mehr über mein verlorenes Land, ich will keine Sehnsucht mehr haben. Ich höre auch keine Nachrichten mehr und kann keine Reportagen mehr über den elenden Zustand syrischer Flüchtlinge, über die Toten und die brennenden Weizenfelder sehen. Ich lebe nur noch mit der Hoffnung, dass dieses Elend bald ein Ende finden möge.

Der Zug fährt immer noch schnell, die Brandenburger Wälder rauschen in die umgekehrte Richtung an mir vorbei und ich bin zwischen Zug und Wäldern hin und her gerissen. Der Verlust scheint immer zu siegen.

Wälder, Felder, Täler, Flüsse, Bäche, Seen, Sonne, Mond und Regen üben stets eine große Anziehungskraft auf mich aus. Sie erwecken mein Gedächtnis und vergegenwärtigen meine Erinnerungen. Was ich vergessen will, wird präsent, die Vergangenheit holt mich zurück und mein Land zerrt an mir. Ich versuche die Flucht nach vorne zu ergreifen, arbeite viel und reise öfters bis zur Erschöpfung. Und ich frage mich: ‚Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?'“

Kefah Ali Deeb (*1982) ist bildende Künstlerin und Autorin von Kinderbüchern und Kinderzeitschriften aus Syrien. Sie floh 2014 nach Berlin und hat über sechs Jahre in der taz-Kolumne „Nachbarn“ über ihre alte Heimat Syrien und ihr neues Zuhause Berlin geschrieben. Sie ist Redakteurin von Handbook Germany, einem Informationsportal von und für geflüchtete Menschen. Zudem publiziert sie in weiteren deutschen Zeitschriften wie ZEIT online und 51 °. Als Aktivistin ist Kefah Ali Deeb u.a. Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien. Über das Projekt Multaka gibt sie im Berliner Pergamon Museum Führungen.

Im Kolumnenbeitrag „Die syrische Küste in der Nase“ beschreibt sie, wie die schmerzhaften Erinnerungen an ihre Heimat Syrien, an die Flucht von dort und die verlorenen Menschen sie immer wieder einholen. Unter anderem trauert sie um einen Freund, der vom syrischen Regime inhaftiert wurde und in dieser Gefangenschaft starb. Die Natur, in deren Anblick sich Kefah Ali Deeb kurzzeitig von der Last der Erinnerungen und den Gedanken an das weitergehende Leid im syrischen Krieg erlösen lassen will, weckt gleichzeitig die schmerzhaften Erinnerungen wieder wach. Die Vergangenheit lässt sie nicht los.

Dieser Abdruck des Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Kefah Ali Deeb.

Die Erstveröffentlichung erschien am 07. Juli 2019 in der taz Kolmne „Nachbarn“: https://taz.de/Kolumne-Nachbarn/!5585032/ (26.08.2020)

Übersetzung aus dem Arabischen ins Deutsche von Mustafa Al-Slaiman.