New York, 31.5.1941
Lieber Günther –
[…] Erst die Hauptsachen: Mutt hat portugiesisches Visum und ist heute aus Frankreich abgefahren – gelobt, getrommelt und gepfiffen! Channans haben Visum, aber noch keine Passage. Tout de meme. Bleibt Erich C. B. Ich spreche morgen die Nina Rubinstein in dieser Sache; Gutmann reißt sich nach meinem Eindruck kein Bein aus. Wegen der Passage von Channan muss ich Strauss sprechen, denn eigentlich haben sie Geld, ich weiß nur noch nicht, wie da rankommen. Ich bin gar nicht der „Zu spät“ Meinung. Missverständnis. Denn abgesehen von dem man kann nie wissen, tendiere ich eher dazu, zu glauben, dass zum mindesten noch einige Monate Zeit bestehen. […]
Mit Monsieurs Filmvergangenheit ist leider nichts anzufangen. Er hat immer nur für Robert Gilbert gearbeitet und zwar als anonymer Mitarbeiter. Er hat daher auch alle die Leute nie kennen gelernt, da er der Meinung war, die gesellschaftliche Seite der Sache ist Gilberts Angelegenheit.
Geldverdienst: für den Aufbau will ich nicht schreiben. Will und kann überhaupt nicht journalistisch schreiben. Dies Emigrantenpack hängt mir noch von Paris zum Halse heraus und ich habe nicht die Absicht, die Herren hier noch näher kennen zu lernen.
Masse: Wir haben alle unsere Kleidung aus Paris gerettet, was sich nach mehr anhört, als es ist, weil wir ja seit 2 Jahren nichts mehr haben erwerben können. Masse habe ich nicht, aber Monsieur hat Deine Statur und braucht einen dunklen Anzug und eine Art Gabardine-Mantel oder so was Ähnliches. Ich brauche nur Regenmantel und ev. Übergangsmantel – und eine Schneiderin, die alles kürzer macht. Bitte, lach!
Ansonsten fühlen wir uns glänzend, auch ohne Geld. Monsieur kriegt etwas Unterstützung, unser Zimmer ist für Pariser Verhältnisse, vor allem für die Verhältnisse, in denen wir seit einem Jahre gelebt haben, einfach der Gipfel des Luxus. NY ist wie ein sehr großes Berlin – soll mir auch recht sein, wenngleich ich in den letzten Jahren ein eingefleischter Pariser geworden war. Vorläufig komme ich zu nichts, aber auch gar nichts. Muss aber Verschiedenes lesen. Wird auch schon werden. Irgendwann einmal werden es die Leute schon dicke haben mit uns zusammen zu sein. Gestern waren Kracauers bei uns. Ouf ..
[…] Dass wir nach dem Westen kommen, scheint mir vorläufig nicht faisable. Wir müssen erst hier mal sehen und versuchen wirkliche Beziehungen zu bekommen. Alles andere ist Luxus. An Feuchtwanger schreibe ich nicht. Er kann beim besten Willen nicht wissen, wer ich bin. Ergo.
So vergnügt bin ich erst, seit Mutts Telegramm und seit Channans Telegramm. Das war eine schreckliche Sorge. Brrrrr. Jetzt noch Erich – und mir kann die gesamte Welt den Buckel lang rutschen.
Auf Hilde freue ich mich ehrlich und an Mutter schreibe ich noch heute. Bin sehr sehr gerührt. War mir aber doch lieber, Du warst hier mir den Brief zu diktieren. Dies nun wirklich sowieso – aber dann eben auch überhaupt.
Von Eva hatte ich in Lisbon Nachricht. Wie geht es ihr denn?
Monsieur lasst allerherzlichst grüßen. Schick mir Deinen Judenroman – dafür bin ich zuständig!
Von Herzen Deine H.
Von 1929 bis 1937 war Hannah Arendt (1906–1975) mit dem deutsch-österreichischen Philosophen, Dichter und Schriftsteller Günther Anders (bürgerlich Günther Siegmund Stern, 1902–1992) verheiratet. Auch Anders floh 1933 nach Paris, wohin ihm Arendt kurze Zeit später folgte. Die Ehe zerbrach schließlich 1937 an den wirtschaftlichen und emotionalen Schwierigkeiten als Geflüchtete im Quartier Latin. Doch auch nach der Scheidung verband sie eine lange Freundschaft. Zum Zeitpunkt des Briefes war Arendt mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher, den sie schon vor der Scheidung von Anders kennengelernt hatte, in New York angekommen. Nach Amerika war Anders schon 1937 geflohen.
Der Brief vermittelt eine absolute Erleichterung, den Gefahren auf dem europäischen Kontinent nun endlich in New York entkommen zu sein. Er beweist auch, wie sehr die Erleichterung im Jetzt und der individuelle Blick in die Zukunft auch immer mit einem Blick zurück verbunden ist. Erinnerung von Davor, von einem Gefühl von Heimat, prägen das Hier im neuen Zuhause und geliebten Menschen wird durch Netzwerke, Geldhilfen etc. geholfen, um auch für sie die Weiterflucht zu ermöglichen.
Hannah Arendt war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. 1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im Jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.
Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.
Arendt, Hannah, 1942; Anders, Günther: Schreib doch mal hard facts über dich. Briefe 1939 bis 1975, Texte und Dokumente, München 2016. S. 27-29.