Der Krieg kam ohne viel Aufhebens, er war zu oft schon angekündigt worden, es war, als ob er sagen wollte: ich komme, um euch zu beweisen, dass ihr euch auf mich verlassen könnt. Die Männer nahmen ihre Uniformen aus dem Kleiderschrank, machten sich die Nägel und hielten sich gähnend die Hand vor den Mund. Der Himmel aber Paris verdunkelte sich, Taschenlampen im Nachtlokal. Man nahm den Krieg nicht erst — nicht so ernst wie den Krieg gegen die Hitlergegner, die nun, durch den Nichtangriffspakt, wohl oder übel zu Verbündeten Hitlers geworden waren. Wohin mit ihnen, man hotte keine Zeit, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, man räumte die Schlösser an der Loire aus und umstellte sie mit Stacheldraht, in Paris wurde eine Fußballarena, das Stade Colombe, als Sammellager für die aus Deutschland Geflohenen gewählt. […]
Am nächsten Tag begab ich mich mit einer Decke und Proviant für vierundzwanzig Stunden ins Stade Colombe, zusammen mit Tausenden von anderen Emigranten deutscher Abstammung. Wir hofften, man wurde uns nach Hause schicken, nachdem man unsere Papiere geprüft halte. Wir trugen Halbschuhe und Sommeranzüge und warteten bis zum Abend. Als es dunkel wurde, legten wir uns auf die Steinbänke der Fußballarena und schliefen ein, und als wir am Morgen erwachten, teilte man uns mit, wir wären Gefangene und wurden in Kürze abtransportiert.
Wir gingen auf der Aschenbahn umher, lagen auf den Steinbänken und aßen dreimal am Tag aus einer Konserve eine Leberpastete, die in alle Poren eindrang, das Gesicht verklebte, die Haare, die Hände, die Ohren. Wir wuschen uns in einem Eimer, der jeweils für zehn oder fünfzehn Leute bestimmt war, spielten Schach mit selbstgefertigten Figuren und setzten in Gedanken Eingaben an die Behörden auf, in denen wir gegen unsere Behandlung protestierten und sofortige Entlassung verlangten. Am zehnten Tage standen Autobusse bereit, die uns zur Gare d’Austerlitz beförderten, wo verschiedene Züge auf uns warten sollten. Ich sah Walter Benjamin mit seinem hinkenden Gang den Zug entlang kommen, und wir beschlossen, um jeden Preis zusammenzubleiben. Dann wurden die Wagen von außen verschlossen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir fuhren durch eine Landschaft voll von Erinnerungen, voll Erinnerungen an Ursula, meine letzte Liebe. Dieselbe Landschaft, in der wir eben noch in der Mittagshitze uns auf offenem Feld umarmt hatten oder nachts in den Herbergen, wo man die köstlichsten Fische aß und den herben Wein der Loire tank. Ich war ein verarmter König, der von seiner Maîtresse beschenkt, ausgehalten wurde. Wir liebten uns unter den Erlen der Loire, im Halbdunkel der Rue du Trocadéro in Paris, wenn sie mit geschlossenen Augen ihr Leben aushauchte, in der Dämmerstunde eines zünde gehenden Tages. Sie liebte die späten Abendstunden, sie liebte Beethovens Fünfte, von Toscanini dirigiert, sie liebte den Eiffelturm, den sie vom Bett aus sehen konnte, ihren Hund David, der uns mit heraushängender Zunge zusah.
Schon als Kind begann Hans Sahl expressionistische Gedichte und kleine Erzählungen zu schreiben, die mitunter auch veröffentlicht wurden. Sahl, der aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus stammte, war promovierter Kunsthistoriker, der ab 1925 für verschiedene Berliner Zeitungen Film- und Theaterkritiken verfasste. Als linker Intellektueller stand er nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten gerüchteweise auf einer „Schwarzen Liste“, daher floh Sahl im April 1933 nach Prag – Max Reinhardt saß im selben Zug.
Von Prag entkam Sahl über die Schweiz nach Paris, das er zum Zentrum seines Exils machte. Kurz nach Kriegsbeginn wurde Sahl, wie in diesem Exzerpt beschrieben, in Frankreich als „feindlicher Ausländer“ interniert. Im Juni 1940 gelang ihm die Flucht nach Marseille ins unbesetzte Frankreich, wo er für einige Monate die Arbeit des Emergency Rescue Committee unterstützte. Im April 1941 gelang ihm die Flucht in die USA. Zwischen 1953 und 1958 lebte Sahl wieder in der Bundesrepublik Deutschland, wurde dort aber nicht heimisch. Er kehrte als Korrespondent verschiedener deutscher Zeitungen in die USA zurück. 1989 kam er für seine letzten Lebensjahre noch einmal zurück nach Deutschland.
Hans Sahl, 1990. Das Exil im Exil. München, Luchterhand. Kapitel 4.
Mit besonderem Dank an Édouard Sill, der We Refugees Archiv mit seiner Recherchearbeit in Paris unterstützte.