Herman Kruk über medizinische Versorgung und Hoffnung
Herman Kruk war Geflüchteter aus Warschau, der für die jiddische Zeitschrift Folks-gezunt (Volksgesundheit) der Hilfsorganisation TOZ Reportagen über die Geflüchtetensituation in Vilnius schrieb und als Insider einzigartige Einblicke überlieferte. In diesem Exzerpt gibt er ein Interview mit Ärzten und Krankenschwestern wieder, wertet die durchaus positiven Berichte über die ortige Gesundheitsversorgung aus und fragt sich trotz allem Optimismus in Zahlen, woher die Geflüchteten die Hoffnung nehmen.
19 סאַניטאַרע דאָקטוירים אַון 3 סאָציאַלע היגיעניסטינס פֿירן די אַרבעט אין די דערמאָנטע 91 פּונקטן. בלויז אין חודש פֿעברואַר האָבן די דאָקטוירים און היגיעניסטינס באַזוכט די אַנשטאַלטן 448 מאָל.
פֿון דעסט װעגן, קלאָגן זײ זיך, שלאָפֿט מען נאָך אין פֿיל אינטערנאַטן צו צװײ פּערזאָן אין אַ בעט.
פֿון דעסט װעגן, טײלן מיט די היגיעניסטינס אין זײערע באַריכטן, אַז אין אַ סך אינטערנאַטן איז קאַלט.
אײנע פֿון זײ גיט איבער:
אין אַלע פּונקטן פֿון „השומר־הצעיר“ זײַנען דאָ טעגלעך 60–80 קראַנקײט־פֿאַלן. מען דאַרף די קראַנקע אַנטשפּרעכיק דערנערן…
Die Ärzte und Krankenschwestern, die die Aufsicht über die Geflüchteten haben, sind mit den Resultaten ihrer Arbeit zufrieden. […]
– Heute ist es schon um einiges besser – erzählen sie mir mit einem Lächeln im Gesicht.
– Heutzutage versorgen wir hier um die 9.000 Geflüchtete. Die Mehrheit von ihnen ist in Wohnheimen untergebracht, teilweise nutzen sie die verschiedenen Essensausgaben. Alles in allem versorgen wir momentan 91 solcher Stellen.
Der medizinhygienische Zustand ist bedeutend besser geworden. Die Zahl an Betten, Bettwäsche, Möbel wurde erhöhrt, der Zustand der Essenlagerung verbessert sich. In einem Teil der Wohnheime gibt es sogar schon Lesesäle mit jiddischer und nicht-jiddischer Presse.
Folgendes erfuhr ich aus Berichten:
19 Ärzte und 3 soziale Krankenschwestern leiten die Arbeit an den erwähnten 91 Stellen. Im Monat Februar allein haben die Ärzte und Krankenschwestern die Anstalten 448 Mal besucht.
Allerdings, so beklagen sie sich, schläft man in vielen Wohnheimen noch zu zweit in einem Bett.
Allerdings, sagen die Krankenschwestern in ihren Berichten, ist es in vielen Wohnheimen kalt.
Eine von ihnen berichtet Folgendes:
In allen Stellen von „Hashomer-Hatsair“ gibt es täglich 60–80 Krankheitsfälle. Man muss die Kranken entsprechend ernähren…
– Aber – sagt mir einer der Ärzte – wir haben von Februar bis heute schon sehr viel erreicht.
– Eine Krankenschwester ergänzt, dass wir allein im Monat Februar 16.436 Besucher im Bad mit dem Desinfektor hatten.
– 700 Kilo Seife, um sich zu waschen, wurde in diesem Monat verteilt!
In den schwächeren sanitären Anstalten haben die medizinischen Brigarden 17 Mal gearbeitet.
Im Februar haben die Ärzte 812 Mal liegenden Kranke besucht und es wurden 356 Kranke in Wohnheimen behandelt. Krankenhaushilfe wurde durch die medizinische Aufsicht von „TOZ“ an 145 Personen mit insgesamt 2.659 Krankenhaustagen gegeben.
Ich wurde über Folgendes aufgeklärt:
Laut dem Bericht für den Monat Februar hat die Ambulanz von „TOZ“ Hilfe an 5.648 Geflüchtete gegeben. Dazu wurden 4.534 Rezepte ausgestellt. Die Geflüchteten-Wohnheime wurden auf 103 lokale Apotheken verteilt.
Die Berichte sind voll von Zahlen, die Berichtverfasser strahlen vor Zufriedenheit über ihre Resultate, aber?… aber wie lang kann man bedenklos mit Zahlen um sich werfen.
Dennoch, trotz allem sind die Geflüchteten noch überaus zerfahren und überwältigt. Etwas treibt sie an, etwas jagt sie, etwas…
– Wie kann man sich hier hinsetzen?
– Ein Onkel in Amerika…
– Ein Bruder in Argentinien…
– Ein Zertifikat.
– Ein Visum.
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Oh, habe Erbarmen, die Armen!
Einige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen beschließt Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, angesichts der immanenten Gefahr durch die heranrückende Wehrmacht aus Warschau zu fliehen. Kruk floh nach Vilnius, wo er als Reporter für die jiddische Zeitschrift Folks-gezunt im Frühjahr 1940 über die Geflüchtetensituation, Geflüchtetensorgen, Unterstützungsnetzwerke und Identitätsfragen berichtete und philosophierte.
In Vilnius lebte er fast vier Jahre und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilnius dokumentierte Kruk als Chronist und berichtete über die Unterstützungsnetzwerke für polnisch-jüdische Geflüchtete vor der deutschen Besatzung der Stadt, von seinen vergeblichen Versuchen, aus der Stadt zu fliehen, von seiner Verzweiflung über den Einmarsch der Wehrmacht und seiner Trauer über das Schicksal seiner Heimatstadt Warschau, aber auch über seine Beweggründe, das Erlebte für die kommenden Generationen schriftlich festzuhalten. Im Jahr 1943 wurde er in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.
Exzerpt:
Kruk, Hermann, April 1940: Pleytim (2ter reportazsh), pp. 11–13 in: Folksgezunt: Ilustrirter populer-visnshaftlekher zshurnal far higyene un meditsin 4, p. 13.