Herman Kruk über den Einmarsch der Wehrmacht, 22. Juni 1941

Herman Kruk schreibt am 22. Juni 1941 über den Einmarsch der Nationalsozialisten in Vilnius und seine Entscheidung, trotz dessen in Vilnius zu bleiben.

דעם 22טן יוני 1941

אַלע קוקן זיך אײנער דעם צװײטן אין די אויגן אַרײַן װי אײנער װאָלט װעלן פֿרעגן דעם צװײטן: װאָס טוט מען? װוּ טוט מען זיך אַהין?

פֿאַר די טויערן שטײען פֿיל מענטשן און קוקן סתּם אין דער װעלט אַרײַן. אָט זעט מען לויפֿן, עס לויפֿט דער, עס לויפֿט יענער.

װאָס טוט מען מיט זיך?…

ניט געװען קײן כּוח װידער אַ מאָל צו נעמען דעם װאַנדער־שטעקן אין האַנט און לאָזן זיך אין װעג אַרײַן צו פֿוס. איך בלײַב. איך בלײַב מיט מײַן שװאָגער. אויסגעטאָן די שװערע שיך, אויסגעפּאַקט דעם רוקזאַק – איך בלײַב!…

איך נעם זיך שרײַבן

אַזוי װאָקלענדיק, װאַרפֿנדיק זיך װי אַ פֿיש אין װאַסער, לויפֿנדיק פֿון זיך צו פּאַטין און פֿון איר צוריק צו אַנדערע, באַשליס  איך ענדגילטיק: איך פֿאַרלאָז זיך אויף גאָטס באַראַט, איך פֿאַרבלײַב. און טאַקע באַלד באַשליס איך ענדגילטיק: אויב שוין יאָ פֿאַרבלײַבן און אויב שוין יאָ זײַן אַ קרבן פֿון פֿאַשיזם: איך נעם זיך פֿאַר דער פֿעדער און װעל שרײַבן אַ פּינקס פֿון אַ שטאָט. קלאָר, װילנע קאָן אויך פֿאַרכאַפּט װערן. די דײַטשן װעלן נעמען פֿאַשיזירן די שטאָט. ייִדן װעלן אַרײַן אין געטאָ – דאָס אַלץ װעל איך פֿאַרשרײַבן. מײַן פּינקס דאַרף זען, דאַרף הערן און דאַרף װערן דער שפּיגל און דאָס געװיסן פֿון דער גרויסער קאַטאַסטראָפֿע און פֿון דער שװערער צײַט.

איך באַשליס צו שרײַבן אַ פּינקס פֿון די װילנער געשעענישן.

22. Juni 1941

„Die Leute sehen einander in die Augen, als wollten sie einander fragen: Was sollen wir tun? Wo sollen wir hin?

Vor den Türen vieler Häuser stehen Gruppen von Menschen und starren ziellos vor sich her. Menschen rennen umher, hier eine Person, da eine andere. Was stellt man mit sich an?

Keine Kraft mehr, um ein weiteres Mal den Wanderstab zu greifen und zu Fuß aufzubrechen. Ich bleibe hier mit meinem Schwager. Die schweren Schuhe sind ausgezogen, der Rucksack ausgepackt – ich bleibe!…“

Ich fange zu schreiben an

Wankend, zitternd wie ein Fisch im Wasser, zu Pati [Kremer] laufend und von ihr zurück zu anderen, beschließe ich endlich: Ich verlasse mich auf Gottes Rat, ich bleibe. Und gleich danach treffe ich eine weitere Entscheidung: Wenn ich schon bleibe und wenn ich ein Opfer des Faschismus werde, dann nehme ich den Stift in die Hand und schreibe eine Chronik dieser Stadt. Natürlich kann auch Vilnius besetzt werden. Die Deutschen werden die Stadt faschistisch machen. Juden werden ins Ghetto gehen – ich sollte es dokumentieren. Meine Chronik muss sehen, muss hören und muss ein Spiegel und Bewusstsein der großen Katastrophe und der harten Zeiten werden.

Ich habe entschieden, eine Chronik der Ereignisse in Vilnius zu schreiben.“

Am 23. Juni 1941 besetzt die deutsche Wehrmacht Vilnius. Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, befindet sich seit seiner Flucht aus Polen 1939 in der Stadt. Am 22. Juni 1941, dem Tag vor dem Einmarsch der Wehrmacht,  schrieb er diese Zeilen in sein Tagebuch. Er entschließt sich, trotz der imminenten Gefahr in Vilnius zu bleiben, da seine vorherige Flucht ihn aller Kraft für einen erneuten Fluchtversuch vor der Wehrmacht geraubt hat.

Kruk lebte fast vier Jahre in Vilnius und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnius Ghetto. Seine Zeit in Vilnius dokumentierte Kruk als Chronist. Im Jahr 1943 wurde Kruk in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.

Kruks Wille, der Aussichtslosigkeit seiner Situation etwas entgegenzusetzen, indem er die Verbrechen dokumentierte, deren Oper er wurde, fügt sich in ein größeres Projekt dokumentarischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus durch Jüdinnen:Juden ein. In Vilnius gründete sich auch die erste jüdische historische Kommission, die Verbrechen Deutschlands an der jüdischen Bevölkerung Polens dokumentierten, das Wilnaer Komitee. Die Arbeit des Komitees und die chronistische Tätigkeit Kruks sind ein einzigartiges Beispiel für die Selbstermächtigung Geflüchteter und Verfolgter, ihre eigene Geschichte zu schreiben und sich somit denen zu widersetzen, die sie entmenschlichen und vernichten wollten.

Jiddisches Original (PDF): Kruk, Herman, 1961: Togbuch fun Vilner geto, New York: YIVO Institute for Jewish Research, p. 3.

Für die englische Übersetzung, siehe Kruk, Herman, 2002: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939-1944, New Haven and London: Yale University Press, pp. 46-47.

Übersetzung ins Deutsche © Minor Kontor.