Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939) wartete nicht lang und verließ Berlin kurze Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Schon im Februar 1933 befand er sich in Paris – einer Stadt, der er sich seit den 1920er Jahren verbunden fühlte. Er floh quasi nach Hause – so fühlte es sich anfänglich an. Doch Roth litt sehr unter dem Geflüchtetendasein in Paris unter der Einsamkeit, der ökonomischen und professionellen Unsicherheit. Seine Sorgen raubten ihm den Schlaf.
An Stefan Zweig
Hotel Foyot
Paris
Mittwoch [Februar 1936?]
Lieber Freund, ich bin keineswegs gekränkt, Ihrer Frau muß meine äußerste Verzweiflung als Verbitterung erschienen sein. Das ist recht merkwürdig. Sie sind müde, ich weiß es, und ich bin trostlos darüber, daß ich Sie noch müder mache. ich bin zu zittrig, um mich genauer und zärtlicher auszudrücken. Ich bin zu verworren in diesem Augenblick, ich weiß nicht, ob ich nicht lieber im Bett bliebe, um ganz passiv das Ende abzuwarten. So viel aber weiß ich, daß es unmöglich ist, so, wie Sie schreiben, für mich etwas Anderes zu machen. Wo Reportagen? Wo Filme? Wie es abwarten? Woher das Wartekapitel? Mit lechzender Zunge laufe ich herum, ein Schnorrer mit heraushängender Zunge und mit wedelnden Schwanz. Wie soll ich nicht neue Verträge eingehn, auf neue Bücher? Nicht einmal diese Verträge bekomme ich. Was soll ich tun, jetzt, heute, nächste Woche? Alle Ihre an sich richtigen Überlegungen haben in diesem Fall gar keine Voraussetzungen. Sie müssen Sich nur einmal hineindenken, das können Sie doch, in meinen Tag, ich habe Ihnen den Verlauf ja beschrieben. Ich habe keine Nächte mehr. Ich [sitze?] bis 3h morgens herum, ich lege mich angezogen um 4h hin, ich erwache um 5h und wandere irr durch’s Zimmer. Ich bin seit 2 Wochen nicht aus den Kleidern gekommen. Sie wissen doch, was Zeit bedeutet, eine Stunde ist ein See, ein Tag ein Meer, die Nacht eine Ewigkeit, das Erwachen ein Höllenschreck, das Aufstehen ein Kampf um Klarheit gegen einen bösen Fiebertraum. Zeit, Zeit, Zeit haben das ist es, und ich habe ja keine. In zwei Wochen kommt ein Vertrag, in drei Wochen Antwort aus Amerika, das sagt man so – und wieviel Leben verliere ich in den zwei Wochen! Für nichts! Für nichts! Erniedrigt, geschändet, verschuldet, lächelnd, lächelnd mit zusammengebissenen Zähnen – ein akrobatisches Kunststück – damit es der Hotelwirt nicht merkt, die Feder krampfhaft in der Hand, den Gedanken, der eben gekommen war, fest in den Zügeln, weil er davongaloppiert, manchmal auch hungrig, nach 3 Sätzen im Sessel einschlafend, was wollen Sie, was verlangen Sie Geduld von einem Menschen, der halb eine Leiche, halb ein Irrer ist? Was soll ich denn tun, wenn nicht Bücher schreiben? Ich kann nicht einmal mehr einrücken, alt und krank, der einzige Beruf, den ich je hatte. Schulden, Gespenster, Entbehrung und schreiben, reden, lächeln und kein Anzug, kein Hemd, kein Stiefel, und hungrige offene Mäuler, und Schnorrer, um sie zu stopfen und Gespenster, Gespenster ringsum, immer wieder. Und hinter mir welch ein Leben! Was wollen Sie, mein lieber Freund? Wie gut können Sie es beschreiben und wie fremd klingt mir das, was Sie mir privat raten! Ja, Sie wissen doch alles! Sie wissen doch Alles! Sie spüren doch das Verborgenste auf und das Offene sehen Sie doch erst recht! Oder gerade das nicht? Ich kann keine Filme offerieren, nicht auf englischen Märkten mit Lania und dgl. konkurrieren, mit […] Frischauer – nein, ich bin nicht dazu imstande. Bitte, lieber Freund, nehmen Sie alles wörtlich. Ich werde todkrank oder verrückt, vielleicht bin ich es schon. Nicht böse sein und immer wissen Sie, daß ich Sie liebe.
Ihr J.R.
Joseph Roth gilt als einer der bekanntesten Journalisten der 1920er Jahre, als präziser Chronist, erfolgreicher Romanautor und engagierter Gegner des Nationalsozialismus. Sein literarisches und journalistisches Werk besteht aus Zeitungsartikeln, Glossen, Reiseberichten, Feuilletons, Romanen und Erzählungen.
Roth wuchs im ostgalizischen Brody auf, studierte in Lemberg und Wien, war Soldat im Ersten Weltkrieg und erlebte den Zusammenbruch Österreich-Ungarn – seiner Heimat. Nostalgie nach diesem multiethnischen Reich begleitete ihn den Rest seines Lebens und viele seiner Romane widmen sich dem Verlust von Heimat und der Erfahrung von Entwurzelung. Ab 1919 arbeitete er als Journalist für verschiedene Wiener, Berliner und Prager Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Frankfurter Zeitung.
Ab 1933 durfte Roth als Jude dort nicht mehr publizieren. Er verließ Deutschland endgültig und führte sein Engagement gegen die nationalsozialistische Diktatur im Pariser Exil fort. Er engagierte sich für die Geflüchtetenhilfe, zum Beispiel für Entre‘ Aide Autrichienne und pflegte intensive Verbindungen zu geflüchteten Schicksalgenoss*innen, unter ihnen Stefan Zweig (1881–1942), an den auch der zitierte Brief adressiert war, Ernst Toller (1893–1939), Egon Erwin Kisch (1885–1948), Soma Morgenstern (1890–1976) und Irmgard Keun (1905–1982). Die meiste Zeit lebte er in Paris in Hotels. Das Café Le Tournon wurde für Roth zum Hauptaufenthaltsort, an dem er seine „Entourage“ um sich versammelte. Schwer alkoholkrank waren seine letzten Jahre deutlich geprägt von den politischen Verhältnissen und den Erfahrungen des Geflüchtetendaseins. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er nicht mehr; er starb am 27. Mai 1939 im Pariser Armenhospital Hôpital Necker. 11https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/roth-joseph.html
In diesem Brief an seinen Freund Stefan Zweig von 1936 beschreibt er unbeschönigend sein Leiden unter dem Geflüchtetendasein in Paris: die Einsamkeit, die ökonomische und professionelle Unsicherheit, das Getriebensein und Festsitzen. Seine Sorgen raubten ihm den Schlaf.