„Kettenmigration“ nach Paris

Françoise und Marie Lopez erzählen von der schritthaften Migration ihrer Eltern nach Frankreich.

Nos parents, Genaro Lopez (1891) et Maria Alvarez (1897), étaient originaires de Villalpando dans la province de Zamora. Notre père était venu une première fois seul vers 1918 puis il était rentré en Espagne où il a attrapé la grippe espagnole. Il est reparti à la Plaine avec son beau-frère, Juan Gomez (époux de notre tante paternelle Luisa Lopez) en 1920. Ils sont d’abord venus seuls, puis ont écrit à leurs femmes qu’ils avaient du travail et un logement et qu’elles pouvaient venir les rejoindre ; c’était en août 1920. Notre père et notre oncle les attendaient à une date précise et sont allés les chercher deux jours de suite à la gare d’Austerlitz. Le troisième jour, ils n’y sont pas retournés or c’est là qu’elles sont arrivées. Elles avaient été retardées à la frontière où elles attendaient leurs bagages (notamment leurs matelas…). A l’arrivée à la gare, un homme qui parlait espagnol les a recommandées à un cocher qui les a amenées jusqu’au Pont-de-Soissons, mais a refusé d’entrer dans le “ quartier espagnol ” trop mal famé. Elles se sont alors retrouvées sur le trottoir avec toutes leurs affaires et se sont mises à pleurer — elles étaient enceintes toutes les deux, notre mère de notre sœur Claudine, notre tante de notre cousine Louise. Finalement, un Espagnol du quartier est passé et est aller chercher des carrioles à bras et des hommes pour transporter leurs affaires.  En arrivant, elles se sont aperçues que les “ maisons ” dont leur avaient parlé leurs époux étaient en fait des caves aux murs blanchis à la chaux. Elles ont alors regretté l’Espagne car elles y vivaient mal mais au moins dans une maison appartenant à leur mère.

Unsere Eltern, Genaro Lopez (1891) und Maria Alvarez (1897), stammten aus Villalpando in der Provinz Zamora. Unser Vater war zum ersten Mal um 1918 allein gekommen und war dann nach Spanien zurückgekehrt, wo er sich die spanische Grippe zuzog. 1920 kehrte er mit seinem Schwager Juan Gomez (Ehemann unserer Tante väterlicherseits, Luisa Lopez) nach La Plaine zurück. Sie kamen zunächst allein und schrieben dann an ihre Frauen, dass sie Arbeit und eine Wohnung hätten und dass sie zu ihnen kommen könnten; das war im August 1920. Unser Vater und unser Onkel warteten an einem bestimmten Datum auf sie und gingen an zwei aufeinander folgenden Tagen zur Gare d’Austerlitz, um sie abzuholen. Am dritten Tag gingen sie nicht dorthin, aber genau dann sind sie angekommen. Sie waren an der Grenze aufgehalten worden, wo sie auf ihr Gepäck warteten (vor allem auf ihre Matratzen…). Am Bahnhof angekommen, verwies sie ein Mann, der Spanisch sprach, an einen Kutscher, der sie zum Pont-de-Soissons brachte, sich aber weigerte, in das „spanische Viertel“ einzutreten, das einen sehr schlechten Ruf hatte. Sie fanden sich also mit all ihren Sachen auf dem Bürgersteig wieder und begannen zu weinen – sie waren beide schwanger, unsere Mutter mit unserer Schwester Claudine, unsere Tante mit unserer Cousine Louise. Schließlich kam ein Spanier aus dem Viertel vorbei und holte einige Handkarren und Männer, um ihre Sachen zu tragen. Als sie ankamen, stellten sie fest, dass die „Häuser“, von denen ihre Ehemänner ihnen erzählt hatten, in Wirklichkeit Keller mit mit Kalk weiß getünchten Wänden waren. Sie vermissten also Spanien, weil sie dort zwar schlecht lebten, aber immerhin in einem Haus, das ihrer Mutter gehörte.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert entstand das sogenannte „Kleine Spanien“ im Pariser Vorort La Plaine Saint-Denis. 1931 machten Spanier*innen mit 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung in La Plaine Saint-Denis die größte Einwanderergemeinschaft aus.

Verschiedene spanische Migrant*innen hatten sich in Saint-Denis, Saint-Ouen und Aubervilliers nach drei zu unterscheidenden Migrationsbewegungen angesiedelt. Sogenannte Wirtschaftsmigrant*innen prägten das Jahrzehnt der 1920er. Nach der Zerschlagung des Aufstands in Asturien Ende 1934 fingen vor allem politische Geflüchtete an, in die Pariser Vororte einzutreffen und ihre Zahl stieg bis 1950 circa 1,5 Millionen nach der Niederlage des republikanischen Lagers 1939. Zwischen 1955 und 1970 folgte eine weitere Generation von spanischen Wirtschaftsmigrant*innen. 11« La petite Espagne de la Plaine-Sainte-Denis », https://www.tourisme93.com/la-petite-espagne-de-la-plaine-saint-denis.html [Zugriff am 28. Juli 2020].

Oft, wie im Falle von Françoise und Marie Lopezs Eltern, vollzog sich die Migration schrittweise. In der Forschung wird dieses Phänomen u.a. „Kettenmigration“ genannt – ein Begriff, der seit der Debatte über die Einwanderungspolitik nach Donald Trumps Rücknahme des Programms „Deferred Action for Childhood Arrivals“ mehr als umstritten ist. „Kettenmigration“ bezeichnet eine selbstverständliche Dynamik: Migrant*innen folgen bereits abgewanderten Verwandten oder Bekannten (sog. Pioniermigrant*innen) ins Zielgebiet. Über diese sozialen Beziehungen (Netzwerke) erhalten sie ggf. vertrauenswürdige Informationen (z.B. über Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten) und Unterstützung (z.B. bei der Arbeitsplatzsuche oder Behördengängen am Zielort), die sowohl die Migration als auch Integrationsprozesse erleichtern. 11https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/270587/kettenmigration. Die Verbindung nach Spanien blieb für viele auch nach der Migration auf andere Weise bestehen. Als der Bürgerkrieg in Spanien wütete, machten sich beispielsweise einige ethnisch-spanische Männer im Alter von 18 bis 46 aus der Plaine Saint-Denis auf den Weg zurück nach Spanien, um im republikanischen Lager zu kämpfen. Diejenigen, die in „Klein Spanien“ blieben, organisierten Unterstützungsnetzwerke für Kommunist*innen oder Anarchist*innen.

Die Aufnahmeerfahrungen unterschieden sich für spanische Migrant*innen in Abhängigkeit vom jeweiligen französischen Migrationsregime. Dieses wiederum veränderte sich mit der wirtschaftlichen und politischen Lage Frankreichs, doch Ausgrenzung und Diskriminierung beherrschte das leben vieler egal wann sie ankamen. Als Anfang 1939 beispielsweise spanisch-republikanische Bürgerkriegs-Geflüchtete einen buchstäblichen Exodus Richtung Frankreich antraten, von denen es viele auch nach Paris und Umgebung schlug, wurde es nur allzu augenscheinlich, dass sich Frankreich vom Land der Geflüchteten zum Land des erzwungenen Transits gewandelt hatte. Denn obwohl die französischen Autoritäten Ende der 1930er inzwischen sehr gut darauf vorbereitet gewesen wären, spanische Bürgerkriegs-Geflüchtete „human“ aufzunehmen, sprachen die innen- und außenpolitischen sowie wirtschaftlichen Entwicklungen offensichtlich dagegen: Einwanderung sollte unter der rechtsgerichteten Regierung Édouard Daladiers stark eingegrenzt werden und Geflüchteten so erschwert werden, in Frankreich zu bleiben. 22Scott Soo, The routes to exile: France and the Spanish Civil War refugees, 1939-2009 (New York : Manchester University Press, 2013), S. 1–3.

    Fußnoten

  • 1https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/270587/kettenmigration.
  • 2Scott Soo, The routes to exile: France and the Spanish Civil War refugees, 1939-2009 (New York : Manchester University Press, 2013), S. 1–3.

Ausschnitt aus dem Interview mit Françoise und Marie Lopez, geführt von Natacha Lillo, Dozentin für spanische Zivilisation an der Universität Paris-Diderot (Paris 7), am 25. Oktober 1999 in Plaine Saint-Denis.

Natacha Lillo, La Petite Espagne de la Plaine Saint-Denis (Paris: Autrement, 2004).