Rivke Zilbergs erstes Neujahr in New York

Die Autorin des Romanes „A Jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren und erlebte eine typische Route der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv.

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

Schnee im Central Park, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

January 1, 1940

The New Year

Last night everyone went out to hev a gud tiym. My aunt and uncle went to play cards at Mrs. Shore’s apartment. Selma and her boy went off to dance. Marvin went to Times Square. I didn’t want to go anywhere. It’s a dreadful day for me. A year ago my mother was alive. She made potato pancakes for us, but not because it was New Year’s Day. We never made a big deal about New Year’s. She made them because Uncle Zaydl had come to take us out on a sleigh ride. Mama, may she rest in peace, didn’t want to let him go without some food. „Food?“ uncle Zaydl said. „If we’re talking food, then let’s have some potato pancakes.“ So…we ate potato pancakes. In the end, we didn’t really have such a good time. As soon as we got onto the broad street, our sleigh was attaced by snow. At first we thought we were being stoned, but then it turned out that they were snowballs thrown by some hooligans, may a plague strike them, who were cursing and whistling at us. We turned back home all wet and dirty. Uncle Zaydl wished them a miserable end, and I nearly cried out of disappointment. But still, there was a home with a mother, with Lublin, and also with Layzer. I never imagined then that within a year I would be in a strange house, alone, living on charity, or that I wouldn’t even know what happend to my father, my brother, or my home.

I never imagined that I would be a refugee. What a horrible word: refugee. The word is a curse. It probably comes from refuse, garbage. A refugee is truly cursed, discarded, and worthless. In any case, I didn’t go anywhere today. For me, this New Year is not a time for celebration. It would have been better if the last New Year had never ended- or perhaps had ended for me as it did for my mother, may she rest in peace.

 

Winter im Central Park, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

1. Januar, 1940

Neujahr

Gestern Abend sind alle ausgegangen, um einen schönen Abend zu verbringen. Meine Tante und mein Onkel gingen zum Kartenspielen in die Wohnung von Frau Shore. Selma und ihr Junge sind zum Tanzen gegangen. Marvin ging zum Times Square. Ich wollte nirgendwo hingehen. Es ist ein furchtbarer Tag für mich. Vor einem Jahr lebte meine Mutter noch. Sie machte Kartoffelpuffer für uns, aber nicht, weil es das Neujahr war. Wir haben nie eine große Sache aus Silvester gemacht. Mama hat es gemacht, weil Onkel Zaydl gekommen war, um mit uns eine Schlittenfahrt zu machen. Mama, möge sie in Frieden ruhen, wollte ihn nicht ohne etwas zu essen gehen lassen. „Essen?“, sagte Onkel Zaydl. „Wenn wir schon von Essen reden, dann lasst uns Kartoffelpuffer essen.“ Und… wir aßen Kartoffelpuffer. Am Ende hatten wir nicht wirklich eine gute Zeit. Sobald wir auf die breite Straße kamen, wurde unser Schlitten vom Schnee angegriffen. Zuerst dachten wir, wir würden gesteinigt, aber dann stellte sich heraus, dass es Schneebälle waren, die von ein paar Hooligans geworfen wurden, die uns beschimpften und auspfiffen, möge sie die Pest treffen. Nass und schmutzig kehrten wir nach Hause zurück. Onkel Zaydl wünschte ihnen ein jämmerliches Ende, und ich hätte vor Enttäuschung fast geweint. Aber immerhin gab es ein Zuhause mit einer Mutter, mit Lublin und auch mit Layzer. Damals hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich in einem Jahr in einem fremden Haus sein würde, allein, von Almosen lebend, oder dass ich nicht einmal wissen würde, was mit meinem Vater, meinem Bruder oder meinem Zuhause passiert ist.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Flüchtling sein würde. Was für ein furchtbares Wort: Flüchtling. Das Wort ist ein Fluch. Wahrscheinlich kommt es von „Abfall“, „Müll“. Ein Flüchtling ist wirklich verflucht, ausrangiert und wertlos. Auf jeden Fall bin ich heute nirgendwo hingegangen. Für mich ist dieses neue Jahr kein Anlass zum Feiern. Es wäre besser gewesen, wenn das letzte Neujahr nie geendet hätte – oder vielleicht wäre es für mich so geendet wie für meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen.

Die Autorin des Romanes „A Jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky  ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren und erlebte eine typische Route der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv. Im Laufe des Lebens war sie als Lehrerin, Herausgeberin, Dichterin, Kritikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin tätig. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeitete sie in einem Tagesheim für geflüchtete jüdische Kinder, das von ihrem Lehrer in Warschau geführt wurde. Diese Arbeit führte sie bis 1917 an verschiedenen Orten fort. Später zog sie nach Odessa, um der Kriegsfront zu entkommen, und lehrte dort in einem Kindergarten. 1917 konnte sie nach der Oktoberrevolution nicht zu ihren Eltern zurückkehren, und blieb so in Kyjiw, wo sie wieder eine Arbeit als Erzieherin annahm. Als sie 1920 das Pogrom in Kyjiw überlebte, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht.

1935 zog sie nach New York, wo sie ihr Buch „In Land fun Mayn Gebayn“ („Im Lande meiner Knochen“) veröffentlichte. Darin thematisiert sie in fragmenthaften Gedichten die Internalisierung des Exils.

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

Kadya Molodovsky (übersetzt von Anita Norich), 2019:  A Jewish Refugee in New York. A novel by Kadya Molodovsky. Bloomington: Indiana University Press; S. 3-4.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor.