Nationalsozialistischer Staat Deutschland – Nationalstaat Türkei
Die schrittweise Machteroberung der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik führte zur Machtübernahme im Jahre 1933: Damit begann der Aufbau des nationalsozialistischen Führerstaats unter Adolf Hitler. Nach der Abschaffung der Hegemonialansprüche Europas im Osmanischen Reich wurde im Jahre 1923 die Türkische Republik gegründet. Damit begann der Aufbau des türkischen Nationalstaats unter Führung von Mustafa Kemal (Atatürk).
Nationalsozialistischer Staat Deutschland
In Deutschland bedeutete die Machtübernahme durch Adolf Hitler und die NSDAP im Jahre 1933 die Aufhebung der Demokratie. Im Zuge der NS-Herrschaft entstand Schritt für Schritt ein auf Rassismus und Antisemitismus gegründetes ideologisches Programm, manifestiert durch nationalsozialistische Gesetze und den Aufbau entsprechender Verwaltungssysteme bis hin zur Organisation der Massenvernichtung ab 1941. Mit der gewaltsamen Ausweitung des NS-Staatsgebiets wurden die Gesetze in den besetzten Gebieten angewendet und die NS-Ideologie verbreitet. 70 Millionen Menschen verloren ihr Leben im Krieg und 6 Millionen Juden und Jüdinnen sowie Regime-Gegner:innen wurden ermordet, bevor Deutschland 1949 zur Demokratie überging.
Nationalstaat Türkei
Nach dem I. Weltkrieg verhinderten Kemal Paşa (Atatürk) und seine Gefolgschaft die Aufteilung des osmanischen Staatsgebiets unter den Siegermächten. Nach der Gründung des türkischen Nationalstaats im Jahre 1923 entwickelte das Einparteien-Regime der Kemalisten in der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) die neue republikanische Staats- und Gesellschaftsordnung in einer `Revolution von oben´. Die `Nation´ wurde zum Zielbegriff der Republik. Dabei wurden türkische Regime-Kritiker:innen – Anhänger der alten osmanisch-islamischen Staatsordnung, Kommunisten und Vertreter anderer nationalstaatlicher Programme konsequent ausgeschaltet. Die alten Minderheitenrechte der christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften (millet) wurden in einem Nationalisierungsprozess zugunsten des einstigen muslimischen millet aufgehoben, das über Jahrhunderte das Staatsvolk gebildet hatte. Der Nationalisierungsprozess der türkischen Wirtschaft kulminierte schließlich 1942 in der Erhebung einer Besitzsteuer für alle Bürger:innen, der `Varlık Vergisi´, die aber für Christ:*innen und Juden und Jüdinnen sehr hoch ausfiel. 34.647 türkische Juden und Jüdinnen verließen daraufhin das Land.
Insgesamt war der Reformprozess der `Republikanischen Jahre´ der Türkei von 1923 bis 1950 nach innen, d.h. auf die Erneuerung der Staatsordnung gerichtet und nicht auf eine Ausweitung des Staatsgebiets und die Verbreitung weltanschaulicher Konzepte im Ausland. Er mündete in den Übergang zur Demokratie ab 1946, die erste demokratische Wahl fand 1950 statt.
Istanbul und die deutschen Flüchtlinge nach dem I. Weltkrieg und die neue türkische Staatsordnung
Vor dem Hintergrund der neuen Weltordnung nach dem I. Weltkrieg kamen Flüchtlinge noch während des Türkischen Befreiungskampfes von 1919 bis 1923 ins Osmanische Reich. Die über das Schwarze Meer geflüchteten Weißruss:innen verließen Istanbul in den 1920er Jahren meist in Richtung Frankreich. Zur deutschen Kolonie nach dem I. Weltkrieg schreibt der Direktor der Deutschen Oberrealschule in Istanbul im Jahre 1935: `Erst nach dem Abzug der Entente im Herbst 1923 strömten die Deutschen zurück [ Deutschland und die Türkei waren Kriegsverlierer, Anm. der Verfasserin], nahmen unter dem hartnäckigen Widerstand der Franzosen ihre kulturellen Einrichtungen nach und nach wieder in Besitz und bauten eine im Verhältnis zur Vorkriegszeit um zwei Drittel kleinere Kolonie wieder auf. Genau wie die der Vorkriegszeit besteht sie in der Hauptsache aus Kaufleuten, kaufmännischen Angestellten, Fachmännern in türkischen Diensten und Handwerkern. Ab 1929 kamen Wirtschaftsflüchtlinge nach Istanbul: Die hohe Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise hatte sie aus Deutschland vertrieben. Einwander:innen fanden zunächst günstige Bedingungen vor, um sich im kosmopolitischen Istanbul niederzulassen.
Die von der türkischen Republik geplante wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuordnung schuf einen Bedarf an Fachkräften und Spezialist:innen. Die Türkei musste sich gewissermaßen `mit dem Schopf aus dem Sumpf ziehen´, denn das Land brauchte eine Ausstattung für die Reform, die es noch nicht selbst hervorbringen konnte. Nach dem I. Weltkrieg war Deutschland als einstiger `Waffenbruder´ bald wieder europäisches Hauptpartnerland der Türkei und so blieb es auch im II. Weltkrieg. Deutschland konnte die Türkei jedoch nicht von einer Beteiligung am Krieg überzeugen. Aber die Türkei lieferte das für die deutsche Kriegswirtschaft fundamentale Chromerz und tauschte im Clearingverfahren Fertigware gegen landwirtschaftliche Produkte. Werk- und Gebrauchsstoffe für den Städtebau und ganze Industrieanlagen, auch Waffen wurden wieder aus Deutschland bestellt. Aber wer konnte damit umgehen? Ein neues türkisches Bildungssystem sollte die nötigen Fachleute einmal hervorbringen. Bis diese in der Türkei ausgebildet werden konnten, wurden qualifizierte Fachkräfte aus Deutschland vom türkischen Staat berufen. Und ebenso kamen aus Deutschland für die Arbeit in der Türkei von ihren Stellen beurlaubte Hochschullehrer:innen, die ihre türkischen Nachfolger:innen und die Lehrer:innen für das neue Erziehungswesen ausbilden sollten.
Auch auf der Planungsebene des Reformprojekts stellte die Türkei deutsche Akademiker:innen ein, so für die Planung des Bildungssystems, die Stadtplanung Ankaras oder für die Entwicklung der Landwirtschaft.
Während dieser Periode der deutsch-türkischen Beziehungen begann die Türkei mit der Umbildung der osmanischen Staatsordnung zu der auf europäischen Rechtsnormen gegründeten staatsbürgerlichen Republik. In der laizistischen Türkei wurde Religion zur Privatsache erklärt, im neuen Nationalstaat hatten Muslime bis 1965 (Gründung des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten, Diyanet Işleri Başkanlığı) keine allgemeine Vertretung.
Nach dem Erlass des Staatszugehörigkeitsgesetzes von 1928 erhielten alle türkischen Bürger:innen einen türkischen Pass. Ausländer:innen mussten sich nach der Ankunft in Istanbul bei der Ausländerpolizei melden.
Obwohl nun nach dem Staatsbürgergesetz alle türkischen Bürger unabhängig von Glauben und Rasse vor dem Gesetz gleich waren, führte die Abschaffung des Minderheitenstatus´ in den `Republikanischen Jahren´ nicht unmittelbar zu einer Gleichstellung der türkischen Christ:innen und Juden und Jüdinnen mit den türkischen Muslim:innen. Nationalisierungsmaßnahmen trafen dabei nicht nur die türkischen Minderheiten.
Im Jahre 1923, schon vor der Ausrufung der Republik, leitete ein Beschluss des Wirtschaftskongresses der Kemalisten in Izmir die Vertreibung von Christ:innen und Juden und Jüdinnen aus Betriebsgesellschaften wie zum Beispiel den Bahn- und Schifffahrtsgesellschaften ein. Unter der Hand wurden dabei türkische Christ:innen und Juden und Jüdinnen als Nicht-Türk:innen definiert. Dieser Prozess der Nationalisierung der türkischen Wirtschaft führte im Jahre 1932 zum Erlass eines Berufssperrgesetzes, das 1934 in Kraft trat.
Aufgrund der Gleichstellung aller türkischen Bürger:innen konnte eine solche Ausgrenzung nicht offiziell vertreten werden. Deshalb griffen die Behörden auf das Kriterium der Religionszugehörigkeit aus osmanischer Zeit zurück und stellten nur noch muslimische Türk:innen in Staatsbetriebe ein : Ein nützliches Ordnungskriterium, um dem ehemaligen muslimischen Staatsvolk eine dominante Stellung im neuen nationalen Wirtschaftssystem zu verschaffen.
Im Zuge dieser Maßnahmen verloren auch zahlreiche Ausländer:innen und so auch Angehörige der deutschen Kolonie in Istanbul ihre Erwerbsgrundlage und versuchten, in noch freien Berufen Arbeit zu finden. Außerdem baten sie alteingesessene deutsche Kaufleute im Besitz einer Handelslizenz um eine Anstellung. Aber schließlich mussten Betriebe in gesperrten Branchen schließen und ehemalige Angestellte in türkischen Unternehmen blieben arbeitslos. Viele dieser Zuwander:innen verließen das Land, darunter eben die Flüchtlinge, die sich in Istanbul eine Zukunft versprochen hatten.
Anders die deutschen Fachleute und auch Facharbeiter:innen in deutschen Firmen und so auch die Akademiker:innen in türkischen Diensten. Sie dienten den türkischen Reformzwecken, ein Daueraufenthalt in der Türkei war von vornherein nicht vorgesehen.
Wie aber deutsche Spezialist:innen eine Grenzsetzung durch die türkischen Regierungsvertreter:innen auch provozieren konnten, zeigt der Fall einer landwirtschaftlichen Sachverständigen-Kommission im Vorfeld der Gründung einer deutsch-türkischen landwirtschaftlichen Hochschule, dem Yüksek Ziraat Enstüsü (YZE). Der Leiter der Kommission, der Geheime Oberregierungsrat Dr. Oldenburg missachtete türkische Gesetze und verfasste einen Bericht, den der deutsche Botschaftsrat Wilhelm Fabricius der türkischen Regierung nicht vorlegen wollte. `Er sei so voller unzweckmäßiger Angriffe gegen die Türken, daß es zu einer Verärgerung über deutsche Sachverständige Veranlassung geben kann‘. Botschafter Rudolf Nadolny musste vermitteln, die Kommission verließ das Land unverrichteter Dinge.
Die Vertreibung von Regimegegner:innenn und `Nichtariern´ aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die Türkei
Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 begann das NS-Regime zunächst mit einem bürokratischen Ausplünderungsprozess der `nichtarischen´ Bevölkerung, der zu ihrem `bürgerlichen Tod´ führte, bevor man sie schließlich physisch ermordete. Flüchtlinge aus dem `Reich´ emigrierten zunächst in die Nachbarländer und nach Übersee. Während diese Emigrant:innen im Zufluchtsland eine neue Existenz erst aufbauen mussten, erhielt 1933 eine erste Gruppe von aus NS-Deutschland per Gesetz vertriebenen Wissenschaftler:innen eine Berufung an die neu gegründete Universität Istanbul (Istanbul Üniversitesi, IÜ) und wurde unter Vertrag genommen. Die Ordinarien erhielten die Erlaubnis, ihr Lehrstuhlpersonal, d.h. ihre Assistent:innen, Techniker:innen und handwerklichen Hilfskräfte an die IÜ mitzubringen. Einige ihrer Mitarbeiter:innen kamen mit in die Türkei, bevor die NS-`Vertreibungsmaschinerie´ sie hatte erfassen können, wieder andere kamen ohne Vertreibungsgrund aus Interesse an dem Arbeitsangebot oder aus Solidarität mit den vertriebenen Professoren.
Die Türkei hatte die Chance erkannt, diese Vertreibung für ihr Reformprogramm zu nutzen. Die Kemalisten der CHP beriefen Emigrant:innen bis 1939 (vereinzelt bis 1941) immer dann in neugegründete Modelleinrichtungen ihres Reformprojekts, wenn die NS-Gesetzgebung in Deutschland unter Akademiker:innen und Künstler:innen und schließlich auch unter anderen Berufsgruppen neue Vertreibungswellen auslöste. Auch an türkische Ministerien und zentrale Unternehmen des staatlichen Industrialisierungsprojekts kamen deutsche und ab 1938 österreichische Emigranten:innen. Familienmitglieder dieser etwa 300 Arbeitsplatz-inhaber:innen erhielten ebenfalls ein Aufenthaltsrecht (ohne Arbeitserlaubnis). Für diese 1933 bis 1944 Vertriebenen, im Verlauf der Berufungen etwa 1000 Menschen wurde die Türkei zum Zufluchtsort.
Noch während der Zeit der NS-Herrschaft und schließlich nach 1945 verließen die meisten jedoch das Land ihrer Zuflucht: Es bot ihnen und ihren Kindern keine aussichtsreiche Zukunft. Jedenfalls schützte der türkische Staat die Emigrant:innen auch gegen türkischen Widerstand an der Universität. Ungeachtet der Maßnahmen des Nationalisierungsprojekts gegen Nicht-Türk:innen und `nicht-muslimischen Türk:innen´ erließ das kemalistische Regime sogar Sondergesetze, um im Fall der berufenen Emigrant*innen das Berufssperrgesetz zu umgehen.
In Deutschland waren die betreffenden Emigrant:innen nicht nur den Vertreibungsgesetzen ausgeliefert, sondern der Verleumdung und Bespitzelung durch die NS-Kollegenschaft ausgesetzt gewesen. Aber ungeachtet dessen sah das NS Regime die Vertreibung von renommierten Wissenschaftler:innen in die Türkei zunächst als förderlich für die `Außengeltung des Reiches´ an. Wenn sie nicht bereits als Regimegegner:innen politisch verfolgt gewesen waren, erhielten die Emigrant:innen bei Annahme einer Berufung in die Türkei deshalb Vergünstigungen wie das Erlassen der `Reichsfluchtsteuer‘.
Aus ihrer damaligen Warte konnten die Emigrant:innen in der Türkei allerdings nicht wissen, wie sich der Rassismus in Deutschland entwickeln würde und wie dauerhaft der Schutz in der Türkei sein würde. Ihr Aufenthaltsstatus in der Türkei beruhte schließlich nur auf Zeitverträgen.
Emigrant:innen zwischen den Fronten: Die rechtsnationalistische Opposition in der Republikanischen Volkspartei (CHP) und die gewaltsame Ausweitung des NS-Machtbereichs
Nach dem Tode Atatürks im Jahre 1938 machten sich unter der türkischen Beamtenschaft Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit breit. Da musste es Emigrant:innen beunruhigen, wenn die deutsche Wehrmacht im Vorfeld des II. Weltkriegs in Osteuropa vorrückte, während die Türkei die Einreise- und Niederlassungsbestimmungen für Ausländer:innen verschärfte. An in Istanbul z. T. auch schon im osmanischen Reich ansässige ausländische Familien mit Pässen aus den nun nationalsozialistisch verwalteten Gebieten erging die Aufforderung, zur Passverlängerung deutsche Vertretungen in der Türkei aufzusuchen. Da die Juden und Jüdinnen unter ihnen die Eintragung eines J (für `Jude´) im Pass vermeiden wollten und die Pässe nicht verlängerten, galten sie als `vatansız´ (in direkter Übersetzung `heimatlos´, in der Bedeutung von `staatenlos´). 19 Familien standen kurz vor der Ausweisung, die aber der neue Staatspräsident Ismet Inönü im letzten Moment verhinderte.
Die Eskalation des Rassismus in Deutschland manifestierte sich in rassistischen Gesetzen wie dem `Blutschutzgesetz´ von 1935 oder organisierter Gewalt gegen Juden und Jüdinnen während des Progroms am 9. November 1938. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich 1938 und der Errichtung des Protektorats Böhmen/Mähren 1939 weitete der NS-Staat sein Machtgebiet immer weiter aus.
Die steigenden Flüchtlingszahlen führten zu Aufnahmebeschränkungen in den Zufluchtsländern. Zur Diskussion einer Lösung trafen sich Vertreter:innen von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen im französischen Evian. Sie konnten keine befriedigende Vereinbarung über die Aufnahme von Flüchtlingen treffen. Chaim Weizmann und Mosche Schertok von der Jewish Agency for Palestine sprachen daraufhin beim türkischen Staatspräsidenten Inönü vor und boten eine hohe Summe für den Einlass von 200 000 Juden und Jüdinnen in der Türkei. Das türkische Parlament stimmte mit Argumenten wie `Überfremdung´ und `Auslösung einer antisemitischen Gegenreaktion´ dagegen, die auch schon Vertreter anderer Staaten gegen eine jüdische Immigration ins Feld geführt hatten. Angesichts der anhaltenden Diskussion in der türkischen Presse über die Aufnahme von Flüchtlingen stellte Ministerpräsident Refik Saydam 1939 noch einmal klar: Einen Zuzug von ausländischen Juden gestattet die Türkei nicht, sie lehnt es auch ab, jüdischen Emigranten generell Einlaß zu gewähren. Eine Ausnahme ist nur zulässig, wenn es sich um wissenschaftliche oder technische Hilfskräfte aus dem Auslande handelt, die von der Türkei in den Dienst genommen werden. Sie haben in der Türkei für sich und ihre Familien Aufenthaltsrecht für die Dauer ihrer kontraktlichen Verpflichtungen. Danach müssen sie das Land verlassen, so die Presseerklärung Saydams in der Tageszeitung `Ulus´.
So weit die Aufnahmebedingungen für Emigrant:innen. Doch Flüchtlingsort in größeren Umfang sollte Istanbul als Knotenpunkt für die Passage nach Palästina werden. 1938 eröffnete zunächst die Jewish Agency in Istanbul eine erste Transitstelle für jüdische Flüchtlinge mit französischen und italienischen Auslandspässen. Chaim Barlas übernahm die Leitung.
Versuchte Gleichschaltung: Der Einfluss des `Reichs´ in der Türkei und die türkische Reaktion.
1936 arbeiteten 1337 Deutsche in Türkei: Niedergelassene Auslandsdeutsche, regulär vom Reich entsandte Fachleute sowie die Emigrant:innen in türkischen Diensten.
1936 erklärte die NS-Regierung Emigrant:innen weltweit und so auch in der Türkei zu Regimegegnern. Noch bestehende Beamtenverhältnisse wurden nun aufgekündigt, Vermögen beschlagnahmt, Vergünstigungen wie der Erlass der Reichsfluchtsteuer eingestellt: Die Emigrant:innen wurden nun zu Flüchtlingen, ihre Rückkehr ins `Reich´ war nicht mehr erwünscht. Das Reich begann mit der Ausbürgerung von `politisch auffälligen´ Emigrant:innen.
Nicht genug damit: Wo es die bilateralen Beziehungen Deutschlands zum Aufnahmeland zuließen, sollten Emigrant:innen von ihren Zufluchtsstädten vertrieben werden. Ins Visier des NS-Regimes gerieten auch Deutsche mit regulärem Aufenthalt im Ausland, das waren die reichsdeutschen Fachkräfte und die Auslandsdeutschen.
1937 und 1939 reiste Oberregierungsrat Herbert Scurla vom deutschen Erziehungsministerium in die Türkei. Auch in der Türkei wollte der NS-Staat nun die `Spreu vom Weizen trennen´. Die Interventionsversuche gefährdeten auch den Aufenthaltsstatus von Emigrant:innen.
Seit 1933 überprüfte die NSDAP, Ortsgruppe Istanbul, die Einstellung der Deutschen auch in Istanbul und informierte das Generalkonsulat. Im Zuge der sogenannten `Gleichschaltung´ der `Deutschen Kolonie´ gerieten deutsche Einrichtungen in Istanbul unter den Einfluss nationalsozialistisch gesinnter Auslandsdeutscher und der Ortsgruppe Istanbul. Jüdische Schüler:innen verließen die Deutsche Schule, noch 1943 wurde eine jüdische Schülerin der Schule verwiesen. Der deutsche Verein `Teutonia´ schloß Mitglieder mit `antideutscher Tendenz´ von der Mitgliedschaft aus. Das Deutsche Krankenhaus und die Evangelische Kirche in Istanbul blieben die deutschen Einrichtungen, an die sich auch Emigrant:innen wendeten.
Scurlas Inspektion galt vor allem der vom Reich entsandten Belegschaft der Landwirtschaftlichen Hochschule, über die er durch die Parteigenoss:innen vor Ort informiert wurde. Diese war wie die Universität Istanbul im Jahr 1933 eröffnet worden. Die Nähe der von deutschen Universitäten beurlaubten Professorenschaft der YZE zum `Reich´ hatte unter dem Einfluss nationalistischer Kreise innerhalb der Republikanischen Volkspartei CHP dazu geführt, dass die Verträge der Deutschen an der YZE ab 1938 nicht verlängert wurden. Wie auch im Fall der erwähnten Landwirtschaftlichen Kommission von 1932 provozierte die deutsche Professorenschaft auch noch selbst die türkische Verwaltung der Hochschule: Ein Teil der YZE-Belegschaft hatte türkische Rahmenbestimmungen der Anstellung verletzt. Zwar hatten sich bis 1939 deutschfreundliche Beamte am Landwirtschaftsministerium durchgesetzt, doch Scurlas Anweisung an die Reichsprofessoren, Direktiven nur noch von der Deutschen Botschaft und nicht mehr vom türkischen Landwirtschaftsministerium anzunehmen, trug zum Abbruch des deutsch-türkischen Projekts bei. Die deutschen Professoren kehrten an ihre Stellen in Deutschland zurück. Als auch die drei Emigranten unter der Belegschaft an der Hochschule entlassen wurden, wies die Türkei sie nicht aus: Einer konnte ungefährdet nach Deutschland zurückkehren, ein anderer nahm eine Anstellung in Palästina an (er wurde nach dem Krieg an die Ankara-Universität berufen). Ein dritter baute die Ankaraner Wasserversorgung neu auf.
Scurlas zweites Inspektionsziel war die Registrierung von bisher vom Reich nicht erfassten `Juden und Jüdinnen´ im Sinne der Definition des Reichs. Ein Fragebogen, verteilt durch die deutschen Vertretungen, sollte klären, wer in der deutschen Kolonie vom `Reich´ bereits als `Nicht-Arier´ registriert worden war. Pässe von `Nicht-Ariern´ und ebenso von Antwortverweigerern wurden nicht mehr verlängert. Emigrant:innen, die 1933, noch vor der Registrierung durch die Reichsbehörden, das Land verlassen hatten, mussten sich nun entscheiden: Passbesitz bedeutet Anerkennung der deutschen Gesetze, (ab 1939 gab es für Auslandsdeutsche den sogenannten Heimatschein). Passlosigkeit konnte Ausweisung bedeuten. Ein Beispiel für eine Entscheidung und ihre Konsequenz: Der in Deutschland bei der Ausreise nicht als `Reichsgegner´ registrierte Traugott Fuchs[AvO1] , als Assistent mit dem Romanisten Leo Spitzer an den Lehrstuhl für Europäische Sprachen der IÜ berufen, behielt seinen Pass. Er wurde daraufhin zum Wehrdienst einberufen. Der Emigrant Herrmann Quinke, Leiter des Deutschen Krankenhauses in Istanbul, stellte ihm daraufhin eine Bescheinigung über eine Wehrdienstuntauglichkeit aus.
Diejenigen, die anlässlich der Fragebogenaktion auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft verzichteten, waren allerdings tatsächlich zunächst von Ausweisung bedroht. Die rechtsnationalistische Opposition innerhalb der CHP konnte sich aber auch in diesem Fall nicht durchsetzen. Die türkische Presse hatte bereits die Ausweisung von passlosen Deutschen gemeldet. Doch der türkische Staatspräsident Inönü unterband auch diese Maßnahme.
Scurlas drittes Inspektionsziel war, durch Verhandlung mit der türkischen Regierung den Ersatz der Emigrant:innen in türkischen Diensten durch regulär aus dem Reich entsandte Fachleute zu erreichen. Die türkische Regierung lehnte ab. Im türkischen Parlament konsolidierte sich schließlich die Position Inönüs und ein Gesetzesentwurf der innerparteilichen Opposition mit antisemitischer Grundlage wurde abgewiesen.
Hatte Scurla 1939 dem `Reich´ die Ausbürgerung der Türkeiemigrant:innen empfohlen, so wurde diese Empfehlung 1941 auf alle Emigrant:innen angewandt. Weltweit und auch in der Türkei verloren nun alle Emigrant:innen die deutsche Staatsbürgerschaft.
Doch die Türkeiemigrant:innen blieben auf ihren Stellen. Ihre Verträge wurden verlängert und ihre Aufenthaltsgenehmigungen verzeichneten das übliche `haymatloz´ (so die türkische Schreibweise der Übersetzung von `vatansız). Die Nachfrage bei den türkischen Behörden, ob nun Ausweisung drohe, wurde verneint: Ernst Hirsch vom Lehrstuhl für Handelsrecht der IÜ erhielt vom türkischen Unterrichtsministerium die Antwort, die Tätigkeit der Emigrant*innen läge in türkischem Interesse.
Das galt auch für Emigrant:innen des akademischen Mittelbaus und die Nicht-Akademiker:innen an der IÜ. Sie waren ohnehin nicht von türkischen Konkurrenzinteressen bedroht, denn die deutsche Assistentenschaft durfte sich an der IÜ nicht habilitieren und für die nicht-akademischen Planstellen hatte das türkische Berufsbildungssystem bis in die fünfziger Jahre kein qualifiziertes türkisches Personal hervorgebracht. Als die Türkei 1944 die Beziehungen zu Deutschland abbrach, bevor sie 1945 Deutschland den Krieg erklärte, blieben die passlosen Emigranten auf ihren Positionen in türkischen Einrichtungen. Hingegen wurden Emigrant:innen, Auslandsdeutsche, Spezialist:innen und `Reichsvertreter‘im Besitz eines Heimatscheins oder deutschen Passes bis zum Kriegsende 1945 interniert.
In einem Bericht zur „Judenfrage in der Türkei“ hatte das `Reich´ schon 1938 feststellen müssen, dass der türkische Antisemitismus nicht mit dem deutschen Rassismus vergleichbar sei:
„Der türkischen Judenfeindschaft liegt jedoch im Grunde nicht so sehr eine Gegnerschaft gegen das Judentum an sich als einer wegen ihrer Zersetzungstendenzen zu fürchtenden Weltgefahr zu Grunde, als vielmehr das durch lange Jahrhunderte kriegerischen Herrschens, besonders aber durch die Entwicklung der jungen türkischen Republik unter Atatürk hochgezogenen, heute etwas übersteigerte türkische Nationalbewusstsein, das jedes fremde Volkstum und damit auch das jüdische zu assimilieren trachtet und von ihm verlangt, dass es sich Sprache, Sitte und äußere Haltung den Forderungen des Gastvolks unterwirft.“
Konkurrenzinteressen gegenüber Emigranten-Professoren konnten sich jedoch in Einzelfällen geltend machen. Karl Hellmann vom Lehrstuhl für Rhino-Laryngologie der IÜ wanderte 1943 nach Palästina weiter, als sein langjähriger türkischer Kollege die Übernahme des Lehrstuhls durchsetzte. Paul Pulewka, Pharmakologe in Ankara, erhielt nach eineinhalb Jahren seinen Vertrag zurück, den er wohl aufgrund der von ihm initiierten Arzneimittelkontrolle auf Betreiben der Lobby der aufstrebenden türkischen Pharmafirmen 1940 verloren hatte. Emigrant:innen konnten also auch ohne Vertrag in der Türkei bleiben, vorausgesetzt, sie fanden Mittel zur Existenzsicherung.
Als die Türkei auf Druck Englands drei Emigranten aus dem Wirtschaftsministerium entließ, betrieben zwei von ihnen in Istanbul einen Import-Export-Handel. Einer von ihnen erhielt eine Anstellung an einer Fakultät der Ankara-Universität. In Emigrantenkreisen munkelte man von fadenscheinigen Entlassungsgründen und meinte damit die Aufdeckung einer Spionagetätigkeit. Dass diese Begründungen so `fadenscheinig´ nicht waren, zeigen die Dokumente des Amerikanischen Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services, Vorläufer des CIA), die einige `German refugee professors´ als Agenten gegen des NS-Regime verzeichnen. Spionagetätigkeit aus Kreisen der deutschen Kolonie für die deutsche `Abwehr´ (NS-Geheimdienst) rief allerdings Ausweisung hervor.
Die türkische Empfindlichkeit gegenüber Spionagetätigkeit für das `Reich´ gegen Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre war insbesondere durch die Einmarschpläne der Wehrmacht in die Türkei begründet. 1941 waren die deutschen Truppen bis in die Nähe der türkischen Grenze vorgerückt. Man hatte die Bewohner:innen Istanbuls bereits auf eine Evakuierung vorbereitet. Doch der Verlauf des Russlandfeldzugs ab 1941 verhinderte den Einmarsch der Wehrmacht in der Türker.
Istanbul als Transitstadt
Als das NS-Regime 1941 die `Endlösung´, d.h. die Ermordung der Juden beschloss, hatten sich durch die Ausweitung des NS-deutschen Machtbereichs zugleich die Fluchtwege geschlossen. Das machte Istanbul zur Stadt der Flüchtlinge mit dem Fluchtziel Palästina. Die Flüchtlinge gerieten auch in dieser Phase der Flüchtlingsgeschichte Istanbuls zwischen zwei Fronten. Die Türkei förderte den Transit nach Palästina, suchte aber eine Einwanderung in die Türkei zu verhindern. Die `White Paper´-Politik der englischen Mandatsregierung kontingentierte sowohl die illegale als auch die legale Einwanderung angesichts des arabischen Widerstands und unterschied bei den Flüchtigen zwischen Einwander:innen und Flüchtlingen. Vor diesem Hintergrund verloren Flüchtlinge auf dem Meer ihr Leben: In der Türkei durften sie nicht bleiben und in Palästina nicht einwandern. So im Fall des Flüchtlingsschiffs `Struma´, das im Schwarzen Meer unterging. Insgesamt ertranken 1,393 Flüchtlinge bei Havarien. 38,542 erreichten Palästina mit dem Schiff.
Mit dem Beginn des II. Weltkriegs gestattete die Türkei Flüchtlingshilfsorganisationen wie dem Mossad, dem Histradut, dem American Jewish Joint Distribution Comittee (JDC) und dem War Refugee Board (WRB) die Koordination der Flüchtlingshilfe von Istanbul aus. 16.474 Flüchtlinge erreichten ihren Zielort Palästina auf dem Landweg durch die Türkei über Istanbul.