Flüchtende Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuelle außerhalb Europas in den 1930er und 1940er Jahren: Erfahrungen des Exils in Istanbul

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts suchten bildende Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuelle aus Europa Zuflucht in globalen Metropolen. Als Knotenpunkte einer sich globalisierenden Moderne waren diese Städte Orte des Zugangs, des Übergangs und der Kreativität für Menschen, die aufgrund von politischen Systemwechseln, Diktaturen und Kriegen, Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt aus ihren Heimatländern flohen. Flucht, Exil und Migration brachten künstlerische und architektonische Konzepte, Objekte und Akteur:innen auf der ganzen Welt in Kontakt und führten zu Transformationen, die in den Topografien und Strukturen der Städte ablesbar sind, insbesondere in den „Zielstädten“. Ihre städtischen Topografien enthalten Viertel, Orte und Räume, die von Migrant:innen bevölkert, frequentiert und betrieben wurden. Die städtischen Institutionen, Akademien, Vereine und Museen boten den Migrant:innen nicht nur Einkommen, Beschäftigung und Kontakte, sondern waren auch wichtige Orte der Interaktion und des Austauschs zwischen der lokalen und der zugewanderten Bevölkerung. Ausstellungen, die von Architekt:innen mit Migrationshintergrund kuratiert wurden und deren Arbeiten enthielten, waren ebenfalls mit bestimmten Orten und Räumen im städtischen Gefüge verbunden, ebenso wie die Verbreitung von Medien und Diskursen, die sich auf sie bezogen. In ihren Exilstationen und an ihren endgültigen Bestimmungsorten versuchten die zugewanderten Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuellen, ihre Produktion fortzusetzen und neue Netzwerke aufzubauen. Es kam zu inspirierenden und konfliktreichen Begegnungen sowie zu Kooperationen und Ausstellungen zwischen den Exilant:innen und den lokalen Künstlergemeinschaften. Unterwegs und in diesen Städten wurden neue theoretische Konzepte entwickelt und ausgearbeitet, die die Grenzen der Kunsttheorie und -praxis verschoben. Dieser Artikel stützt sich auf laufende Forschungsarbeiten im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts Relocating Modernism. Globale Metropolen, moderne Kunst und Exil (Metromod). 11Die Verlagerung der Moderne. Global Metropolises, Modern Art and Exile (Metromod) ist ein fünfjähriges Forschungsprojekt, das 2017 begann, am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelt ist und von Burcu Dogramaci geleitet wird. Metromod folgt der Hypothese, dass die Migrationsbewegungen von Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in und aus Europa einen tiefen Abdruck in der Kunst- und Architekturgeschichte hinterließen. Durch die Etablierung neuer transkultureller Orte der künstlerischen Begegnung in globalen Metropolen wurden Konzepte und Werke maßgeblich verändert. Im Folgenden werden Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Exil, Moderne und urbanem Umfeld in Istanbul diskutiert.

    Fußnoten

  • 1Die Verlagerung der Moderne. Global Metropolises, Modern Art and Exile (Metromod) ist ein fünfjähriges Forschungsprojekt, das 2017 begann, am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelt ist und von Burcu Dogramaci geleitet wird.

Burcu Dogramaci 

Einleitung

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts suchten bildende Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuelle aus Europa Zuflucht in globalen Metropolen. Als Knotenpunkte einer sich globalisierenden Moderne waren diese Städte Orte des Zugangs, des Übergangs und der Kreativität für Menschen, die aufgrund von politischen Systemwechseln, Diktaturen und Kriegen, Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt aus ihren Heimatländern flohen. Flucht, Exil und Migration brachten künstlerische und architektonische Konzepte, Objekte und Akteur:innen auf der ganzen Welt in Kontakt und führten zu Transformationen, die in den Topografien und Strukturen der Städte ablesbar sind, insbesondere in den „Zielstädten“. Ihre städtischen Topografien enthalten Viertel, Orte und Räume, die von Migrant:innen bevölkert, frequentiert und betrieben wurden. Die städtischen Institutionen, Akademien, Vereine und Museen boten den Migrant:innen nicht nur Einkommen, Beschäftigung und Kontakte, sondern waren auch wichtige Orte der Interaktion und des Austauschs zwischen der lokalen und der zugewanderten Bevölkerung. Ausstellungen, die von Architekt:innen mit Migrationshintergrund kuratiert wurden und deren Arbeiten enthielten, waren ebenfalls mit bestimmten Orten und Räumen im städtischen Gefüge verbunden, ebenso wie die Verbreitung von Medien und Diskursen, die sich auf sie bezogen. In ihren Exilstationen und an ihren endgültigen Bestimmungsorten versuchten die zugewanderten Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuellen, ihre Produktion fortzusetzen und neue Netzwerke aufzubauen. Es kam zu inspirierenden und konfliktreichen Begegnungen sowie zu Kooperationen und Ausstellungen zwischen den Exilant:innen und den lokalen Künstlergemeinschaften. Unterwegs und in diesen Städten wurden neue theoretische Konzepte entwickelt und ausgearbeitet, die die Grenzen der Kunsttheorie und -praxis verschoben. Dieser Artikel stützt sich auf laufende Forschungsarbeiten im Rahmen des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts Relocating Modernism. Globale Metropolen, moderne Kunst und Exil (Metromod). 22Die Verlagerung der Moderne. Global Metropolises, Modern Art and Exile (Metromod) ist ein fünfjähriges Forschungsprojekt, das 2017 begann, am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelt ist und von Burcu Dogramaci geleitet wird. Metromod folgt der Hypothese, dass die Migrationsbewegungen von Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in und aus Europa einen tiefen Abdruck in der Kunst- und Architekturgeschichte hinterließen. Durch die Etablierung neuer transkultureller Orte der künstlerischen Begegnung in globalen Metropolen wurden Konzepte und Werke maßgeblich verändert. Vor allem die jüngsten Veröffentlichungen zu aktuellen Migrationsbewegungen haben die Bedeutung der Großstädte als Ankunftsstädte hervorgehoben. „Keine Stadt ohne Migration?“, fragt Jens S. Dangschat in seinem Beitrag zum Katalog Metropole: Kosmopolis. 33Jens S. Dangscheit, 2011: „Ohne Migration keine Stadt? Keine Stadt ohne Migration?“, in Uli Hellweg (Hrsg.), Metropole: Kosmopolis = Metropolis: Kosmopolis, Berlin: Jovis, 2011 (Metropole, 5), S. 60-67. Der deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig 2016 widmete sich unter Bezugnahme auf Doug Saunders den deutschen „Arrival Cities“ als Zielstädte für Arbeitsmigrant:innen des 20. Jahrhunderts und Geflüchtete der Gegenwart. 44Peter Cachola Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann (eds.), 2016: Making Heimat. Deutschland, Ankunftsland, Ausstellungskatalog (Venedig, 15. Internationale Architekturausstellung, 28. Mai-27. November 2016), Berlin: Hatje Cantz. Wir nehmen diese urbanen Forschungsperspektiven auf zeitgenössische Migrationsbewegungen zum Ausgangspunkt, um die historischen Auswanderungsphänomene deutlicher in einem urbanen Kontext zu verorten und damit das unmittelbare Lebensumfeld vieler Auswanderer als wichtiges Handlungsfeld zu konzeptualisieren.Im Folgenden werden Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Exil, Moderne und urbanem Umfeld in Istanbul diskutiert.

Die Auswanderung von Architekt:innen, Künstler:innen und Bildhauer:innen in die Türkei war bisher Gegenstand von Studien, die sich mit dem Import von Fachkräften in das Land und der Prämisse der Modernisierung beschäftigten. Inci Aslanoğlu, Aydan Balamir, Sibel Bozdoğan, Ali Cengizkan, Burcu Dogramaci, Bernd Nicolai und Bülent Tanju haben in ihren Arbeiten, oft in monographischen Studien, das Engagement deutschsprachiger Architekten für den Aufbau der kemalistischen Republik unter Berücksichtigung der türkischen Innen- und Außenpolitik untersucht. 55Siehe in chronologischer Reihenfolge: İnci Aslanoğlu, 1980: „Bruno Tauts Wirken als Lehrer und Architekt in der Türkei“, in Bruno Taut, Ausstellungskatalog (Berlin, Akademie der Künste, 29. Juni-3. August 1980), S. 143-150; Sibel Bozdoğan, 1997: „Against Style: Bruno Taut’s Pedagogical Program in Turkey 1936-1938“, in Martha D. Pollak (Hrsg.), The Education of the Architect: Historiography, Urbanism and the Growth of Architectural Knowledge, Cambridge: The MIT Press, S. 163-192; Bernd Nicolai, 1998: Moderne und Exil: Deutschsprachige Architekten in der Türkei 1925-1955, Berlin: Verlag für Bauwesen; Bülent Tanju, 1998: „Türkiye’de Farklı Bir Mimar: Bruno Taut,“ in Afife Batur (ed.), Atatürk için düşünmek. İki eser: Katafalk ve Anıtkabir. İki Mimar: Bruno Taut ve Emin Onat. Für Atatürk gedacht. Zwei Werke: Katafalk und Anıtkabir, Zwei Architekten: Bruno Taut und Emin Onat, Istanbul: Istanbul Teknik Üniversitesi Rektörlüğü, S. 22-25; Ali Cengizkan, 2002: „Bruno Taut: Duygu ve Gönül. Türkiye’ye Gönül Veren Duygulu Dünya Yurttaşı“, in: Id., Modernin Saati. 20. Yüzyılda Modernleşme ve Demokratikleşme Pratiğinde Mimarlar, Kamusal Mekan ve Konut Mimarlığı, Ankara: Mimarlar Derneği; Boyut Yayın Grubu, S. 29-35; Burcu Dogramaci, 2008: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin: Gebr. Mann; Aydan Balamir (Hrsg.), 2010: Clemens Holzmeister: çağın dönümünde bir mimar = An Architect at the turn of an era, Istanbul: Boyut Yayın Grubu. Die Verbindung zwischen nationaler Identität und architektonischer Modernität wurde besonders herausgestellt. Das Hauptaugenmerk lag dabei auf der neuen Hauptstadt Ankara, die als pars pro toto für den Bauwillen der türkischen Ministerien angesehen wurde. In Architecture in Translation 66Esra Akcan, 2012: Architecture in Translation. Germany, Turkey, & the Modern House, Durham: Duke University Press. adaptierte Esra Akcan die Theorie der „kulturellen Übersetzung“ und untersuchte die Zirkulation von Akteur:innen und Ideen zwischen Deutschland und der Türkei. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf dem Transfer und der Transformation neuer Wohnkonzepte. Mit anderen Worten, die Perspektiven basierten eher auf einem bilateralen als auf einem multilateralen, globalen Rahmen. Eine Durchsicht früherer Veröffentlichungen zeigt, dass die Verbindungen zwischen Istanbul und den Auswanderungsbewegungen der 1920er bis 1940er Jahre noch nicht hergestellt wurden und die Metropole am Bosporus nicht als Ankunftsstadt untersucht wurde – sondern vor allem als Labor für die Stadtplanung ausländischer Planer. 77Ipek Akpınar, 2003: „Pay-i Tahtı Sekülerleştirmek: 1937 Henri Prost Planı,“ Istanbul, no. 41, S. 20-25; Uğur Tanyeli, İstanbul 1900-2000 Konutu ve Modernleşmeyi Metropolden Okumak, Istanbul: Ofset Yapımevi, 2005. Die privaten und beruflichen Räume von Emigrant:innen in Istanbul standen bisher ebenso wenig im Mittelpunkt des Interesses wie die Frage, wie sich die Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus in die urbane Matrix der Stadt eingeschrieben hat.

 

Trotz seiner vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Situation in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist Istanbul heute im globalen Maßstab messbar. Es ist eine Megastadt und ein Zentrum der globalen Kunstwelt. Darüber hinaus kann sie zweifellos als „Weltstadt“ charakterisiert werden, die „Orte an sich, aber auch Knotenpunkte in Netzwerken sind; ihre kulturelle Organisation beinhaltet sowohl lokale als auch transnationale Beziehungen“, in denen transnationale Unternehmen, Einwanderer, kreative Kultur und Tourismus eine konstitutive Rolle spielen. 88Ulf Hannerz, 1998: Transnationale Verbindungen: Culture, People, Places, London; New York, NY: Routledge (Comedia), S. 128. In den 1930er und 40er Jahren wurde Istanbul, das ehemalige Zentrum des byzantinischen und des osmanischen Reiches, zur kulturellen Hauptstadt eines sich gerade modernisierenden Nationalstaates, der Türkischen Republik, die qualifizierte Künstler:innen, Architekt:innen und Wissenschaftler:innen aus dem Exil einlud, um ihre kulturelle und wissenschaftliche Landschaft aufzubauen.

Die folgenden Ausführungen beleuchten die Emigrationsgeschichte der Metropole Istanbul als Zielort für exilierte Künstler:innen und Architekt:innen der Moderne, diskutieren, wie die urbane Matrix und die Interaktion mit lokalen Akteur:innen ihr Leben und ihre Arbeit prägten, und suchen nach den Spuren, die sie hinterlassen haben: Welche Stadtteile wurden zur Heimat von Migrant:innen, und wie förderten die städtischen Topografien Kontakte – durch soziale Räume, Institutionen oder Ausstellungsräume –, aber auch Segregation, Austausch und Isolation? Welche Räume wurden von den Emigrant:innen bewohnt, gestaltet oder gebaut? Wie können historische Emigration, Architektur und Stadt zusammengebracht werden? Indem wir den Fokus von Mitteleuropa weg verlagern und die Entwicklung der künstlerischen Moderne in diesem vielfältigen urbanen Kontext jenseits Europas und in einer historischen Megastadt analysieren, werden Fragen nach Dichotomien wie Zentrum und Peripherie, kolonial und postkolonial, Nord und Süd schärfer gestellt. Die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ gewinnen auch innerhalb der Stadt selbst an Bedeutung, denn während die meisten Emigrant:innen eine zentrale Wohnlage in Istanbul bevorzugten, ließen sich einige auch an der Peripherie der Stadt nieder.

Istanbul: Geschichte(n) und Spuren des Exils

Istanbul hat eine lange Geschichte der internen und transnationalen Migration. Als Zentrum des Osmanischen Reiches und auch nach der Gründung der Türkischen Republik 1923 mit der neuen Hauptstadt Ankara war die Stadt am Bosporus ein Ziel für Menschen, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihren Wohnsitz wechseln mussten. 99Siehe Deniz Sert, 2015: „Zusammenführen, Trennen: Istanbul’s Migration History,“ in Hou Hanru, Çeren Erdem, Elena Motisi und Donatella Saroli (Hrsg.), Istanbul. Passione, gioia, furore = Istanbul. Passion, Joy, Fury = Leidenschaft, Freude, Wut, Ausstellungskatalog (Rom, MAXXI Museo nazionale delle arti del xxi secolo, 11. Dezember 2015-30. April 2016, Macerata: Quodlibet, S. 219-222). Modernistische Architekten wie Le Corbusier oder Bruno Taut besuchten in den 1910er Jahren als Reisende die Metropole am Bosporus. 1010Siehe Giuliano Gresleri (Hrsg.), 1991: Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffentlichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret, Zürich: Spur Verlag. Zu Tauts Reise nach Istanbul im Rahmen des Wettbewerbs Haus der Freundschaft siehe Burcu Dogramaci, Kulturtransfer und nationale Identität, op. cit. (Anm. 4), S. 53. Zwanzig Jahre später kehrte Taut zurück, aber diesmal als Exilant, der ein neues Kapitel der Bautätigkeit in der Stadt aufschlug.

Als Stadt auf zwei Kontinenten mit einer multireligiösen und multiethnischen Bevölkerung bot Istanbul den ankommenden Menschen ein heterogenes Bild: kontrastierende Umgebungen je nach den Stadtvierteln, ihrer Entwicklung und Bevölkerung, ihrer Nähe (oder Entfernung) zum Wasser, ihrer Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Dieser urbane Körper bietet somit zahlreiche Anhaltspunkte für die Erforschung der Wechselwirkung zwischen Migration oder Exil, Architektur und Stadt. Hier sind Institutionen wie Akademien, Universitäten oder soziale „Kontaktzonen“ 1111Der Begriff „Kontaktzonen“ ist aus Mary Louise Pratt, 1991: „Arts of the Contact Zone“, Profession, S. 33-40, entlehnt. wie Cafés und Bars oder auch Privatwohnungen, in denen ein Austausch zwischen Emigranten und/oder Einheimischen stattfand, von Bedeutung. Für das schwule New York der 1930er und 1940er Jahre wies George Chauncey auf die Bedeutung von städtischen Orten als Kontaktzonen und für die Identitätsbildung hin. 1212Siehe George Chauncey, 1994: Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890-1940, New York, NY: Basic Books. Dieser Ansatz lässt sich für die Untersuchung des migrantischen Istanbul adaptieren und unter Bezugnahme auf spezifische Orte des Kontakts, des Austauschs und der Debatte diskutieren. Darüber hinaus verweisen die von ausländischen Architekten errichteten Gebäude auch auf die Geschichte der Migration und des Exils in der Stadt.

Im Folgenden werden mit Beyoğlu und Bebek zwei Stadtteile untersucht, in denen sich Emigrant:innen der 1930er Jahre niederließen bzw. in denen eingewanderte Architekten bauten. Aus der Perspektive deutschsprachiger Architekt:innen war Istanbul weniger wichtig als Ankara, wo Architekt:innen wie Clemens Holzmeister und Ernst Egli ein vielfältiges Portfolio an Bautätigkeiten entwickelten. 1313Siehe Thomas Lier (Hrsg.), 2011: Bir Başkentin Oluşumu: Avusturyalı, Alman ve İsviçreli Mimarların Ankara’daki İzleri = Das Werden einer Hauptstadt: Spuren deutschsprachiger Architekten in Ankara, Ankara: Goethe-Institut. Dennoch war Istanbul ein wichtiger Bezugspunkt für die Auswanderungsbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im neunzehnten Jahrhundert war Istanbul die Zielstadt der polnischen Auswanderung mit einem ihrer Hauptzentren in Beyoğlu/Pera auf der europäischen Seite. 1414Paulina Dominik, 2016: „Aus den polnischen Zeiten von Pera. Late Ottoman Istanbul Through the Lens of Polish Emigration“, in Anna Hofmann und Ayşe Öncü (Hrsg.), History Takes Place: Istanbul. Dynamics of Urban Change, Berlin: jovis, S. 92-103. Polnische Emigrant:innen bauten ihre eigene soziale Infrastruktur mit Cafés und Geschäften auf; bis Mitte des 20. Jahrhunderts hieß eine Seitenstraße der Hauptstraße Rue de Péra „Leh Sokak“ (Polnische Straße). Nach der Russischen Revolution und insbesondere nach der Krimkrise suchten mehrere tausend Flüchtlinge aus Südrussland über das Schwarze Meer Zuflucht im Osmanischen Reich. Rimscha schreibt 1920 von ca. 50.000 russischen Emigranten in der Türkei (die damit nach Polen, Deutschland und Frankreich ein bevorzugtes Fluchtziel war), von denen die meisten nach Istanbul gingen. 1515Hans von Rimscha, 1924: Der russische Bürgerkrieg und die russische Emigration 1917-1921, Jena: Frommann, S. 51. Viele lebten auf der europäischen Seite im Stadtteil Galata, in der Nähe der Hauptstraße, die zunächst Grande Rue de Péra, später Istiklal Caddesi hieß und zum Taksim-Platz führt. In diesem Viertel waren die folgenden Orte und Einrichtungen wichtige Bezugspunkte für die russische Emigrantengemeinschaft in Istanbul: die russische Botschaft, ein russisches Hotel, ein orthodoxes Kloster und eine Kirche, die den Emigrant:innen eine erste Zuflucht und eine Infrastruktur für soziale Kontakte boten. Die unmittelbare Folge dieser russischen Emigration, die Istanbul zumindest vorübergehend in ein „russisches Konstantinopel“ verwandelte, waren zahlreiche Restaurants, Konditoreien und Kabaretts in der Grande Rue de Péra. Darüber hinaus zeugen verschiedene Tanz- und Ballettaufführungen von der Präsenz russischer Künstler:innen in Istanbul. 1616Aleksandr Vassiliev, 2000: Beauty in Exile. The Artists, Models and Nobility who fled the Russian Revolution and Influenced the World of Fashion, New York, NY: Harry N. Abrams, S. 68-72. Im Jahr 1921 wurde die erste russische Buchhandlung „Kultura“ eröffnet, und im selben Jahr präsentierte die „Union russischer Künstler“ ihre erste Ausstellung im Mayak Club. Zu den Mitgliedern dieser Vereinigung gehörten Vasily Iosifovich Ivanov, Vladimir Konstantinovich Petrov und Boris Isaevich Egiz. Die Migration russischer Künstler:innen nach Istanbul ist bisher wissenschaftlich wenig untersucht worden, und zahlreiche Quellen (z. B. Burnakins Almanach Russkiye na Bosfore, Istanbul 1928) sind noch nicht ausgewertet worden.

Karte von Istanbul mit Galata. Aus: Ernest Mamboury, Stambul Reiseführer, Istanbul: Rizzo, 1930. Private Sammlung, mit freundlicher Genehmigung von Burcu Dogramaci

Interessant ist eine vergleichende Perspektive auf die zweite Emigrationswelle des zwanzigsten Jahrhunderts nach Istanbul – die Ankunft von Künstler:innen, Architekten und Stadtplanern aus Nazi-Deutschland. Trotz der Tatsache, dass nicht viele Geflüchtete in die 1923 gegründete Türkische Republik kamen (etwa 1.000), ist die Konstellation der Emigrationsgemeinschaft signifikant. Im Gegensatz zu anderen Exilländern war es eine relativ homogene Gruppe von Akademiker:innen, darunter viele Hochschullehrer oder Künstler:innen, die mit wenigen Ausnahmen in Bezug auf sozialen Status und Bildung in Istanbul Zuflucht suchten. Sie waren von den Ministerien eingeladen worden, sich am Aufbau der Universitäten, an der Stadtsanierung und am künstlerischen Leben der Republik zu beteiligen. 1717Zur Auswanderung von Architekt:innen und Stadtplaner:innn in die Türkei siehe Bernd Nicolai, Moderne und Exil, op. cit. (Anm. 4); Burcu Dogramaci, Kulturtransfer und nationale Identität, a.a.O. (Anm. 4). Diese elitäre Emigration etablierter, bekannter Persönlichkeiten war besonders an bestimmte Institutionen der Stadt Istanbul gebunden: Die Emigranten aus Deutschland und Österreich arbeiteten an der Akademie der Schönen Künste, der Universität Istanbul und der Technischen Universität. Im Umkreis dieser Institutionen ließen sich die Auswanderer:innen auch auf dem europäischen Kontinent nieder. Viele Emigrant:innen lebten auf der europäischen Seite von Istanbul, 1818Mit Ausnahme von Martin Wagner zum Beispiel, der auf der asiatischen Seite in Moda/Kadıköy lebte. im europäisch geprägten Stadtteil Beyoğlu, wo sich Botschaften, Kulturinstitute, Buchhandlungen und internationale Restaurants befanden. So war die Akademie der Schönen Künste, lange Zeit die einzige Kunsthochschule der Türkei, auch ein wichtiger Bezugspunkt für Künstler:innen und Architekt:innen: der Bildhauer Rudolf Belling, der Architekt Bruno Taut und der Stadtplaner Gustav Oelsner lehrten dort. 1919Zur Geschichte der Akademie siehe Buket Altinoba, 2016: Die Istanbuler Kunstakademie von ihrer Gründung bis heute. Moderne Kunst, Nationenbildung und Kulturtransfer in der Türkei, Berlin: Gebr. Mann. Deutschsprachige Architekten wie Clemens Holzmeister, Paul Bonatz und Gustav Oelsner lehrten auch an der in den 1940er Jahren gegründeten Architekturfakultät der Technischen Universität Istanbul, die sich in Istanbul-Macka, unweit des Taksim-Platzes befindet. Einige der genannten Künstler:innen haben ihre Wohnorte möglicherweise so gewählt, dass sie Einrichtungen wie die Akademie und die Technische Universität zu Fuß erreichen konnten: Die Nähe zu diesen Institutionen könnte erklären, warum sich viele der deutschsprachigen Emigrant:innen der 1930er und 1940er Jahre in Beyoğlu/Pera niederließen. So lebten zum Beispiel Rudolf Belling und Gustav Oelsner in Beyoğlu. Dies war jahrhundertelang ein wichtiger Handels- und Umschlagplatz für internationale Waren, und im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der Kaufleute und Diplomaten und damit auch der westeuropäischen Bewohner:innen in Beyoğlu erheblich zu. Entlang der Grande Rue de Péra, der zentralen Einkaufsstraße, wurden Botschaften, ausländische Schulen, Kirchen, Hotels und Restaurants eingerichtet. 2020Orhan Pamuk beschreibt die Grande Rue de Péra mit den Augen des französischen Schriftstellers Gérard de Nerval in seinem Buch Voyage en Orient (1851): „Nerval beschreibt die Allee, die von der Loge wegführt, als ähnlich wie Paris: modische Kleidung, Wäschereien, Juweliere, funkelnde Schaufenster, Süßwarengeschäfte, englische und französische Hotels, Cafés, Botschaften.“ Orhan Pamuk, 2005: Istanbul. Memories and the City, New York, NY: Alfred A. Knopf, S. 219.

Beyoğlu war europäisch geprägt, und der Ausbau der Infrastruktur war sicherlich ein Zugeständnis an die ausländischen Einwohner:innen und Tourist:innen, die sich in diesem Teil der Stadt aufhielten. Die Straßenbahn und der unterirdische Tünel sorgten für eine gute Anbindung an den Hafen und andere Teile der Stadt. 2121Siehe Zuhal İbidan, 2015: The Urban Development of Istanbul in the Nineteenth Century. The Role of Enpropriations, Istanbul: Libra, S. 91-106. Und Luxushotels wie das Tokatliyan, das Pera Palace und das Park Hotel in Beyoğlu dienten nicht nur als Orte der Begegnung, sondern boten den ankommenden Emigrant:innen auch eine Unterkunft für ein paar Tage oder Wochen. Wie viele Exilkünstler:innen wurde Rudolf Belling zunächst im Park Hotel untergebracht, einem luxuriösen Hotel, das 1934 in Beyoğlu-Gümüşsuyu eröffnet wurde und im Art-Déco-Stil gestaltet war. Es war bei den ankommenden Emigranten äußerst beliebt, nicht zuletzt wegen seines Panoramablicks auf den Bosporus.

Briefkopf des Park Hotels, Istanbul, 1938. © Private Archive

Auf einer Fotografie von Gertrud Hindemith ist der Blick auf das Wasser vom Park Hotel aus festgehalten; auf dem Balkon des Hotelzimmers sitzt der Komponist Paul Hindemith, der vom türkischen Bildungsministerium ins Land geholt wurde. 2222Siehe Burcu Dogramaci, 2013: Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg: Jonas, S. 82-84. Viele Beschreibungen der neu angekommenen Emigrant:innen bezogen sich auf die Erfahrungen am Bosporus. Der Schriftsteller und Regisseur George Tabori, der sich Anfang der 1940er Jahre in Istanbul aufhielt, schreibt über die Ästhetik der Wasserlandschaft, 2323George Tabori, 1996: Das Opfer, Göttingen: Steidl, S. 239. so wie sich Rudolf Belling Anfang 1937 ausdrückte:

„Von meinem Hotelfenster aus blicke ich auf das Marmarameer hinunter, links der Bosporus, rechts das Goldene Horn. Vis-à-vis die asiatische Küste, Skütari, Haidarpasa, Kadiköi. Dann ein paar wunderbare Inseln und im Hintergrund ein schön geschwungenes Mittelgebirge. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie anders die Stadt aussehen kann, welche Pastelltöne sich über Häuser und Wasser legen.“ 2424Rudolf Belling an Alexander Amersdorffer, 23. Januar 1937, Berlin (Deutschland), Akademie der Künste, Historisches Archiv, , I/284, Bl. 37-39.

Beyoğlu/Pera war ein zentraler Ort und eine Ankunftsstadt für die deutschsprachigen Emigrant:innen der 1930er Jahre, die hier eine Umgebung vorfanden, die mit neu gebauten Wohnungen, Cafés, Restaurants und einem europäischen Flair mit verschiedenen Sprachen auf den Straßen und einer Infrastruktur, die sie mit ihren Arbeitsplätzen verband, einen gewissen Komfort bot. Außerdem war das „orientalische“ Istanbul nicht weit entfernt; Eminönü und das alte Stambul mit seinen Moscheen, dem Hippodrom und der Universität von Istanbul waren nicht weit entfernt und durch die Galata-Brücke mit Beyoğlu verbunden. Die Doppelung von „West“ und „Ost“ oder „Okzident“ und „Orient“ wird auf einer Fotografie sichtbar, die die Architekten Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte zeigt, die 1938 in Istanbul ankamen und in einer Wohnung in der Hacı İzzet Paşa Sokak in Beyoğlu wohnten. Die Kamera hielt ihr Bild mit den Minaretten einer Moschee im Rücken fest. Schütte-Lihotzky schrieb nach ihrer Ankunft: „Alles in allem wirkt Istanbul diesmal viel östlicher und orientalischer als bei den letzten Malen, als wir nicht aus dem Westen [sondern aus der Sowjetunion] gekommen waren.“ 2525Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, 25. August 1938, Wien (Österreich), Sammlungen der Universität für angewandte Kunst, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky.

Die „Orientalität“ der Stadt war einige Kilometer weiter unten am Wasser im ehemaligen Vorort Bebek, wo sich einige Auswanderer:innen niederließen, weniger sichtbar. Zu jener Zeit war Bebek nicht mehr als ein Fischerdorf. Seit dem neunzehnten Jahrhundert hatte die osmanische Elite begonnen, in Bebek Sommerhäuser zu bauen, 2626Cahit Kayra, 1993: Bebek. Mekânlar ve zamanlar, Istanbul: Akbank, (Akbank kültür ve sanat kitapları, 57), S. 50-119. das nicht allzu weit vom Zentrum des Reiches – dem alten Stambul – entfernt war, aber weit genug, um eine prestigeträchtige geschlossene Gemeinschaft zu bilden. Dies mag der Grund dafür sein, dass auch in kemalistischer Zeit, nach der Gründung der Republik 1923, reiche und wohlhabende Türk:innen – die neue Elite – begannen, Häuser in und um Bebek zu bauen. Vor allem Ernst Eglis Villa für den Ingenieur Ragip Devres in Istanbul-Bebek (1932/1933, Cevdet Paşa Caddesi Nr. 101) ist als Beispiel für modernen Wohnungsbau mit architektonischen Bezügen zum Internationalen Stil sowie zu den Wiener Interieurs von Adolf Loos zu nennen. Mit seinen umlaufenden Balkonen, den Stahlsäulen, dem Flachdach und den Panoramafenstern sowie der Innenausstattung mit hölzernen Wandpaneelen folgte das Haus den Parametern der internationalen architektonischen Moderne und unterschied sich damit vom klassischen türkischen Wohnbau.

Nicht weit entfernt wohnten die Biolog:innen und Zoolog:innen Kurt und Leonore Kosswig in einem um 1900 erbauten Haus (Inşirah Sokağı Nr. 32). Sie unterhielten ein offenes „Haus am Berg“, in dem sich viele Emigrant:innen trafen, Theateraufführungen stattfanden und Musik gespielt wurde. Die Kosswigs, die beide Türkisch sprachen, gehörten einer Vereinigung von Wissenschaftler:innen an – einer Art „Privatakademie“ –, die von dem Ökonomen Alexander Rüstow und dem Juristen Andreas Schwarz geleitet wurde und der Vertreter verschiedener Disziplinen angehörten, darunter auch der Finanzökonom Fritz Neumark. Die Treffen fanden in den Wohnungen der Mitglieder der „Privatakademie“ statt, und die Teilnehmer:innen hielten Vorträge über ihr eigenes Fachgebiet. 2727Siehe Horst Widmann, 1973: Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. Mit einer Bio-Bibliographie der emigrierten Hochschullehrer im Anhang, Bern; Frankfurt am Main: Lang, S. 180; siehe auch Fritz Neumark, 1980: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Frankfurt; Main: Knecht, S. 190-191. Das Kosswigsche Haus in Bebek war ein Ort des Austausches zwischen Emigrant:innen, ein Refugium im Exil, aber auch eine Insel oder ein Exil im Exil. 1943 gründete Kurt Kosswig mit anderen Emigranten wie Alexander Rüstow, Ernst Reuter und Gerhard Kessler den politischen Kreis „Deutscher Freiheitsbund“. In ihrem Pamphlet „Was soll werden?“ formulierten sie Ideen für den Wiederaufbau Deutschlands, die Wiederherstellung der Demokratie und die Verfolgung der NS-Verbrechen. 2828Kemal Bozay, 2001: Exil Türkei. Ein Forschungsbeitrag zur deutschsprachigen Emigration in der Türkei (1933-1945), Münster; Hamburg; London: Lit, S. 72-73. Die Peripherie, weit entfernt von den Orten, an denen sich Geschichte, Kultur und Migration verdichteten, bot einerseits die Möglichkeit, einen sozialen Ort aufzubauen, an dem sich das Leben in seinem eigenen Rhythmus und Tempo entfalten konnte. Andererseits boten weit entfernte Stadtteile wie Bebek andere Möglichkeiten zur kulturellen und politischen Selbstorganisation der Emigrant:innen. Für Bebek lässt sich sagen, dass sich hier verschiedene Minderheiten niederließen, darunter Menschen aus England oder der Levante. 2929Ernst E. Hirsch, 2008: Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 47. Die Kontakte zwischen der deutschsprachigen Emigrantengemeinschaft waren einfach, da mehrere Professoren mit ihren Familien in der Nähe wohnten. 3030Ebd., S. 131.
Die Bedeutung des Hauses als zusätzlicher Zufluchtsort zeigt sich in einer Reihe von Fotografien von Kurt und Leonore Kosswig, die ihr Haus von innen und außen sowie den Blick von der Terrasse auf den Bosporus zeigen. Die Fotografien aus dem Jahr 1940 zeigen das Wohnzimmer als einen Ort der Entspannung mit einem Kanapee im Vordergrund, einem Esstisch mit vier Stühlen und einem Kinderstuhl in der Ecke. Die Bewohner:innen treten auf den meisten Bildern nicht in Erscheinung, vielmehr steht das Mobiliar, das sie größtenteils aus Europa mitbrachten, im Mittelpunkt. Das verlassene Interieur ist detailliert fotografiert und zeigt deutlich, dass die europäischen Konventionen beibehalten wurden. Auch andere Exilierte in der Türkei haben ihre Wohnungen fotografiert, darunter der Indologe Walter Ruben und der Kommunalwissenschaftler Ernst Reuter, die in Wohnungen in Ankara lebten. Diese Fotografien können als Beweis für die Selbstvergewisserung über den eigenen Status im Exil interpretiert werden. Darüber hinaus dienten die Fotografien auch als Kommunikationsmittel und sollten den im Herkunftsland verbliebenen Freund:innen und Verwandten Informationen über die Lebensbedingungen im Exil liefern.

Sowohl Bebek als auch Beyoğlu/Pera waren zwei unterschiedliche Stadtteile, die den ankommenden Emigranten verschiedene „Zugänge“ zu Istanbul boten: Während das lebendige, kosmopolitische Beyoğlu/Pera ein wichtiger Ort im Zentrum der Metropole und gut mit den zentralen Institutionen verbunden war, war das ruhige Bebek an der Peripherie ein Rückzugsort, an dem die Kosswigs aktiv ihr eigenes Handeln einsetzten, um soziale Netzwerke aufzubauen.

 

Schlussfolgerung

In Istanbul gründeten und suchten emigrierte Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuelle institutionelle Diskursräume, indem sie an verschiedenen Universitäten lehrten und Vorträge hielten. Diese Foren setzten sich nicht nur innovativ mit herausfordernden Themen wie dem Nationalismus in der Kunst auseinander, sondern trugen auch zum Aufbau von Netzwerken von emigrierten Künstler:innen bei und führten möglicherweise zu Kollaborationen. Der Fall Istanbul deutet darauf hin, dass die Vernetzung in Privatwohnungen im Allgemeinen unter Emigrantengruppen stattfand, vielleicht unter Ausschluss der Einheimischen.
Die türkische Regierung lud verfolgte Künstler:innen, Architekt:innen und Intellektuelle aktiv ein, an ihrem Programm zum Aufbau der Nation mitzuwirken. In Istanbul scheint es unter den zugewanderten Künstler:innen und Architekt:innen eine Neigung gegeben zu haben, sich in den kulturell vertrauten „europäischen“ Teilen der Stadt niederzulassen. Auch Hotels scheinen in Istanbul eine wichtige Rolle gespielt zu haben – als temporäre Aufenthaltsorte, als Treffpunkte und als Räume der kulturellen Produktion.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Emigrant:innen stärker mit ihrer unmittelbaren Umgebung und ihrem Kontext identifizierten: der engen Gemeinschaft, der Nachbarschaft, dem Viertel oder der Stadt. In ihrem Alltag reagierten sie unmittelbar auf die Herausforderungen und Möglichkeiten, die ihnen ihre Arbeits- und Wohnorte boten. Sie ließen sich an bestimmten Orten nieder und prägten so das Gesicht des Viertels, in dem sie lebten. Während einige es vorzogen, in den zentralen Bereichen ihrer Städte zu leben und zu arbeiten, wählten andere eher periphere Standorte, an denen sie in unmittelbarer Nähe zueinander lebten. Die Topografie forderte und konstituierte ihre Identität als Emigrant:innen. Wasser scheint ein entscheidender Faktor bei der Wahl des Wohnorts und als Anregung für die visuelle Produktion gewesen zu sein, wie die Fotografien von Leonore und Kurt Kosswig zeigen.
Dieser Artikel unterstreicht auch die Grenzen der Auseinandersetzung mit der untersuchten Stadt als autarke Einheit. Anstatt die emigrierten Künstler:innen als im Fluss befindlich und die lokale Kunstszene als statisch zu betrachten, zeigt der Fall Istanbul, dass sich die Szenen in dynamischen Veränderungsprozessen befanden. Für die weitere Forschung ist es eine wesentliche Aufgabe, diesen Mikrokosmos der Emigrant:innen genauer zu erfassen und so Exilforschung und Stadtforschung miteinander zu synthetisieren.

 

    Fußnoten

  • 2Die Verlagerung der Moderne. Global Metropolises, Modern Art and Exile (Metromod) ist ein fünfjähriges Forschungsprojekt, das 2017 begann, am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelt ist und von Burcu Dogramaci geleitet wird.
  • 3Jens S. Dangscheit, 2011: „Ohne Migration keine Stadt? Keine Stadt ohne Migration?“, in Uli Hellweg (Hrsg.), Metropole: Kosmopolis = Metropolis: Kosmopolis, Berlin: Jovis, 2011 (Metropole, 5), S. 60-67.
  • 4Peter Cachola Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann (eds.), 2016: Making Heimat. Deutschland, Ankunftsland, Ausstellungskatalog (Venedig, 15. Internationale Architekturausstellung, 28. Mai-27. November 2016), Berlin: Hatje Cantz.
  • 5Siehe in chronologischer Reihenfolge: İnci Aslanoğlu, 1980: „Bruno Tauts Wirken als Lehrer und Architekt in der Türkei“, in Bruno Taut, Ausstellungskatalog (Berlin, Akademie der Künste, 29. Juni-3. August 1980), S. 143-150; Sibel Bozdoğan, 1997: „Against Style: Bruno Taut’s Pedagogical Program in Turkey 1936-1938“, in Martha D. Pollak (Hrsg.), The Education of the Architect: Historiography, Urbanism and the Growth of Architectural Knowledge, Cambridge: The MIT Press, S. 163-192; Bernd Nicolai, 1998: Moderne und Exil: Deutschsprachige Architekten in der Türkei 1925-1955, Berlin: Verlag für Bauwesen; Bülent Tanju, 1998: „Türkiye’de Farklı Bir Mimar: Bruno Taut,“ in Afife Batur (ed.), Atatürk için düşünmek. İki eser: Katafalk ve Anıtkabir. İki Mimar: Bruno Taut ve Emin Onat. Für Atatürk gedacht. Zwei Werke: Katafalk und Anıtkabir, Zwei Architekten: Bruno Taut und Emin Onat, Istanbul: Istanbul Teknik Üniversitesi Rektörlüğü, S. 22-25; Ali Cengizkan, 2002: „Bruno Taut: Duygu ve Gönül. Türkiye’ye Gönül Veren Duygulu Dünya Yurttaşı“, in: Id., Modernin Saati. 20. Yüzyılda Modernleşme ve Demokratikleşme Pratiğinde Mimarlar, Kamusal Mekan ve Konut Mimarlığı, Ankara: Mimarlar Derneği; Boyut Yayın Grubu, S. 29-35; Burcu Dogramaci, 2008: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin: Gebr. Mann; Aydan Balamir (Hrsg.), 2010: Clemens Holzmeister: çağın dönümünde bir mimar = An Architect at the turn of an era, Istanbul: Boyut Yayın Grubu.
  • 6Esra Akcan, 2012: Architecture in Translation. Germany, Turkey, & the Modern House, Durham: Duke University Press.
  • 7Ipek Akpınar, 2003: „Pay-i Tahtı Sekülerleştirmek: 1937 Henri Prost Planı,“ Istanbul, no. 41, S. 20-25; Uğur Tanyeli, İstanbul 1900-2000 Konutu ve Modernleşmeyi Metropolden Okumak, Istanbul: Ofset Yapımevi, 2005.
  • 8Ulf Hannerz, 1998: Transnationale Verbindungen: Culture, People, Places, London; New York, NY: Routledge (Comedia), S. 128.
  • 9Siehe Deniz Sert, 2015: „Zusammenführen, Trennen: Istanbul’s Migration History,“ in Hou Hanru, Çeren Erdem, Elena Motisi und Donatella Saroli (Hrsg.), Istanbul. Passione, gioia, furore = Istanbul. Passion, Joy, Fury = Leidenschaft, Freude, Wut, Ausstellungskatalog (Rom, MAXXI Museo nazionale delle arti del xxi secolo, 11. Dezember 2015-30. April 2016, Macerata: Quodlibet, S. 219-222).
  • 10Siehe Giuliano Gresleri (Hrsg.), 1991: Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffentlichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret, Zürich: Spur Verlag. Zu Tauts Reise nach Istanbul im Rahmen des Wettbewerbs Haus der Freundschaft siehe Burcu Dogramaci, Kulturtransfer und nationale Identität, op. cit. (Anm. 4), S. 53.
  • 11Der Begriff „Kontaktzonen“ ist aus Mary Louise Pratt, 1991: „Arts of the Contact Zone“, Profession, S. 33-40, entlehnt.
  • 12Siehe George Chauncey, 1994: Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890-1940, New York, NY: Basic Books.
  • 13Siehe Thomas Lier (Hrsg.), 2011: Bir Başkentin Oluşumu: Avusturyalı, Alman ve İsviçreli Mimarların Ankara’daki İzleri = Das Werden einer Hauptstadt: Spuren deutschsprachiger Architekten in Ankara, Ankara: Goethe-Institut.
  • 14Paulina Dominik, 2016: „Aus den polnischen Zeiten von Pera. Late Ottoman Istanbul Through the Lens of Polish Emigration“, in Anna Hofmann und Ayşe Öncü (Hrsg.), History Takes Place: Istanbul. Dynamics of Urban Change, Berlin: jovis, S. 92-103. Polnische Emigrant:innen bauten ihre eigene soziale Infrastruktur mit Cafés und Geschäften auf; bis Mitte des 20. Jahrhunderts hieß eine Seitenstraße der Hauptstraße Rue de Péra „Leh Sokak“ (Polnische Straße).
  • 15Hans von Rimscha, 1924: Der russische Bürgerkrieg und die russische Emigration 1917-1921, Jena: Frommann, S. 51.
  • 16Aleksandr Vassiliev, 2000: Beauty in Exile. The Artists, Models and Nobility who fled the Russian Revolution and Influenced the World of Fashion, New York, NY: Harry N. Abrams, S. 68-72.
  • 17Zur Auswanderung von Architekt:innen und Stadtplaner:innn in die Türkei siehe Bernd Nicolai, Moderne und Exil, op. cit. (Anm. 4); Burcu Dogramaci, Kulturtransfer und nationale Identität, a.a.O. (Anm. 4).
  • 18Mit Ausnahme von Martin Wagner zum Beispiel, der auf der asiatischen Seite in Moda/Kadıköy lebte.
  • 19Zur Geschichte der Akademie siehe Buket Altinoba, 2016: Die Istanbuler Kunstakademie von ihrer Gründung bis heute. Moderne Kunst, Nationenbildung und Kulturtransfer in der Türkei, Berlin: Gebr. Mann.
  • 20Orhan Pamuk beschreibt die Grande Rue de Péra mit den Augen des französischen Schriftstellers Gérard de Nerval in seinem Buch Voyage en Orient (1851): „Nerval beschreibt die Allee, die von der Loge wegführt, als ähnlich wie Paris: modische Kleidung, Wäschereien, Juweliere, funkelnde Schaufenster, Süßwarengeschäfte, englische und französische Hotels, Cafés, Botschaften.“ Orhan Pamuk, 2005: Istanbul. Memories and the City, New York, NY: Alfred A. Knopf, S. 219.
  • 21Siehe Zuhal İbidan, 2015: The Urban Development of Istanbul in the Nineteenth Century. The Role of Enpropriations, Istanbul: Libra, S. 91-106.
  • 22Siehe Burcu Dogramaci, 2013: Fotografieren und Forschen. Wissenschaftliche Expeditionen mit der Kamera im türkischen Exil nach 1933, Marburg: Jonas, S. 82-84.
  • 23George Tabori, 1996: Das Opfer, Göttingen: Steidl, S. 239.
  • 24Rudolf Belling an Alexander Amersdorffer, 23. Januar 1937, Berlin (Deutschland), Akademie der Künste, Historisches Archiv, , I/284, Bl. 37-39.
  • 25Margarete Schütte-Lihotzky an Adele Hanakam, 25. August 1938, Wien (Österreich), Sammlungen der Universität für angewandte Kunst, Nachlass Margarete Schütte-Lihotzky.
  • 26Cahit Kayra, 1993: Bebek. Mekânlar ve zamanlar, Istanbul: Akbank, (Akbank kültür ve sanat kitapları, 57), S. 50-119.
  • 27Siehe Horst Widmann, 1973: Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. Mit einer Bio-Bibliographie der emigrierten Hochschullehrer im Anhang, Bern; Frankfurt am Main: Lang, S. 180; siehe auch Fritz Neumark, 1980: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Frankfurt; Main: Knecht, S. 190-191.
  • 28Kemal Bozay, 2001: Exil Türkei. Ein Forschungsbeitrag zur deutschsprachigen Emigration in der Türkei (1933-1945), Münster; Hamburg; London: Lit, S. 72-73.
  • 29Ernst E. Hirsch, 2008: Als Rechtsgelehrter im Lande Atatürks, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 47.
  • 30Ebd., S. 131.

Dieser Artikel ist eine gekürzte und veränderte Fassung von:

Burcu Dogramaci und Rachel Lee, 2019: „Refugee Artists, Architects and Intellectuals Beyond Europe in the 1930s and 1940s: Experiences of Exile in Istanbul and Bombay“, Abe Journal 14-15 (2019), https://journals.openedition.org/abe/5949#ftn74.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Burcu Dogramaci.

Deutsche Übersetzung: Minor Kontor und Burcu Dogramaci.