Integrationsforderungen und ihre Auswirkungen auf Zugehörigkeit

Clara Zink, Freie Universität Berlin

 

Eine Gesellschaft, die Integration zu ihrem Credo erhebt, beruht immer auf dem Ausschluss Anderer. Sie wird niemals allen Menschen ein Zuhause bieten, die in ihr leben.

Grenzziehungen können heute längst nicht mehr nur zwischen Staaten, sondern jederzeit und an jedem Ort stattfinden, innerhalb der Zivilgesellschaft 11Yuval-Davis, Nira; Wemyss, Georgie; Cassidy, Kathryn (2019): Bordering. Cambridge : Polity, p. 16 f und zwischen einzelnen Individuen. Diese Erkenntnis ist insbesondere für Menschen, die täglich Ausgrenzung am eigenen Leib erfahren, nicht neu.

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  • 1Yuval-Davis, Nira; Wemyss, Georgie; Cassidy, Kathryn (2019): Bordering. Cambridge : Polity, p. 16 f

Noa Ha, kommissarische Wissenschaftliche Geschäftsführerin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), schreibt in ihrem Archivbeitrag für das We Refugees Archiv: „Die Logik der Grenzsicherung ist nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch innerhalb europäischer Städte zu beobachten.“ Als Beispiele für solche Grenzsicherungsprozesse nennt sie unter anderem Racial Profiling oder die Residenzpflicht   – Verfahren, die  einen „lebensgefährlichen Rand“ inmitten von Städten produzierten.

Ein anderes wichtiges Beispiel, durch das sich Grenzerhaltungsprozesse innerhalb einer Gesellschaft erkennen lassen, stellt insbesondere in Westeuropa die Debatte um die Integration von Zugewanderten dar. Obwohl der Begriff der „Integration“ in der Regel für die Einbeziehung in ein größeres Ganzes steht, dient das Integrationskonzept aus Sicht des Soziologen Willem Schinkel einer Gesellschaft vor allem dazu, ihre Grenzen aufrechtzuerhalten, soziale Schließung zu erwirken und sie von „unerwünschten Bestandteilten“ zu reinigen. 22Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.2 and p. 21

In  ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ beschreibt Hannah Arendt, wie einem Menschen mit der Staatszugehörigkeit auch seine Identität abhandenkommen kann. 33Arendt, Hannah, 2016: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 5. Aufl. Stuttgart: Reclam. (amerik. Original 1943), p. 32 f. Dass die Frage nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft für die eigene Identität zentral ist, gilt für Individuen, aber auch für das Selbstbild einer Gesellschaft: Wer ist ein Teil von ihr und wer nicht? Die Forderung nach Integration kann hilfreich dabei sein, diese Frage zu beantworten, indem sie diese vereinfacht. 44Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.21 Auf der einen Seite steht die Nation als imaginierte Gemeinschaft. Wer in sie hineingeboren wird, ist automatisch ein Teil von ihr. Auf der anderen Seite stehen „Fremde“, d. h. Zugewanderte und Geflüchtete, die nicht dazu gehören, weil sie neu sind und ihre Zugehörigkeit damit erst beweisen müssen; sie müssen integriert werden und sich selbst aktiv integrieren. Ein solche Vorstellung von Zugehörigkeit kann also überhaupt erst erzeugt und aufrechterhalten werden, indem sie das „Fremde“ ausschließt und Zugewanderte als ihr Gegenstück problematisiert. 55Schinkel, Willem (2017): Imagined societies , p. 1 f. Hannah Arendt reflektiert diese Ausschlussmechanismen, wenn sie den Begriff des Flüchtlings als Fremdzuschreibung ablehnt. 66Arendt, Hannah, 2016: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 5. Aufl. Stuttgart: Reclam. (amerik. Original 1943), p. 9

Auch Diawara B. erzählt in seinen Archivbeiträgen für das We Reefugees Archiv eindrücklich von solchen Ausschlussverfahren. Er wuchs in Mali auf und arbeitete einige Zeit in Algerien, bevor er 2016 als Minderjähriger nach Sizilien kam. Mittlerweile lebt er in Palermo, sein Aufenthaltsstatus ist jedoch unsicher. Wenn er  als Beispiel die italienischen Sicherheitsdekrete aufführt, macht er dabei deutlich: Derartige Grenzsicherungsverfahren haben negative Konsequenzen für beide Seiten jenseits der Grenze: „(…)sowohl für diejenigen, die Staatsbürger*innen sind, als auch für diejenigen, die Ausländer*innen sind.“

Solange sich das Selbstbild des Staates am Integrationskonzept ausrichtet, wird dieses immer nur eine Antwort auf die Frage bereithalten, wer nicht dazugehört. Eine solche Forderung nach Integration zielt nicht auf Erfolg ab. Wie sollen Menschen ihr gerecht werden?

Kefah Ali Deeb, die 2014 aufgrund politischer Verfolgung aus Syrien nach Berlin kam, bezeichnet diese Herausforderungen in ihrem Beitrag entsprechend als „Integrationsdilemma“: Um sich zu integrieren, soll sie arbeiten. Wenn sie arbeitet, hat sie keine Zeit mehr, Deutsch zu lernen. Wenn sie kein Deutsch spricht, wird ihr vorgeworfen, sich nicht genug zu integrieren. Diese kaum zu bewältigende Gleichzeitigkeit an Anforderungen wird zum Beispiel auch gut am Text „Det is Berlin“ deutlich, wenn die Autorin diesen Wust an Erwartungen mit einem Zug vergleicht, der immer weiter rattert und dabei nie zum Stehen kommt. Denn wann soll und kann ein solcher Integrationsprozess abgeschlossen sein?

Aus Sicht von Sarah Wright, Professorin für Geographie und Entwicklungsstudien
an der University of Newcastle, ist Zugehörigkeit nicht bloß ein Status, „den man haben kann (oder nicht)“. Zugehörigkeit kann sowohl erlebt als auch praktiziert werden, sie setzt sich aus einer ganzen Reihe von Praktiken und Prozessen zusammen und wird fortwährend (neu) hergestellt. 77Wright, Sarah (2015): More-than-human, emergent belongings: A weak theory approach. Progress in Human Geography, 39 (4), p. 400 f. Entsprechend hat auch Integration keinen fixen Start- und Endpunkt, und sie wird auch nicht einmalig, sondern immer wieder und unter ständig erneuerten Bedingungen von der Mehrheitsgesellschaft eingefordert. Die Willkür, die sich aus einem solch instabilenVerständnis von Integration und Zugehörigkeit ergibt, spiegelt sich auch in vielen Archivbeiträgen wider, in denen die Autor*innen ihre eigenen Erfahrungen schildern. Diawara B. beschreibt all die Anstrengungen, die er unternommen hat, um sich zu integrieren:

„Ich bin in diesem Moment ohne Dokumente und in Palermo gibt es nichts, was ich nicht getan habe, um mich zu integrieren, die Sprache, die sozialen Aktivitäten, künstlerische Dinge, ich habe alles getan.“

Was ihm all diese Bemühungen gebracht haben, ist vor allem die Erkenntnis, dass seine Bestrebungen ins Nichts führen; seine Integration wird niemals abgeschlossen sein:

„Aber gleichzeitig stehe ich auf der Seite derer, die schlechte Dinge tun, und ihnen werden die Dokumente verweigert. Und ich bin auf dieser Seite, aber ich habe alles getan. Ich habe Menschen geholfen, ich habe mir selbst geholfen, ich habe mich in jeder Hinsicht integriert, 360 Grad. Aber ich bin ohne Dokumente, nur weil ich keinen Reisepass habe. Meine Identität ist also nicht mehr die von Diawara B., es zählt nicht mehr die ganze Arbeit, die ich geleistet habe, um mich zu integrieren. Meine Identität bleibt immer die des Migranten. […]“

In seiner Erzählung klingt Hannah Arendts Schlussfolgerung an, dass die Bezeichnung „Flüchtling“ den Weg hin zur Stigmatisierung zum „feindlichen Ausländer“ ebnet und Identität untergräbt. Egal, was Diawara B. versucht: Er bleibt auf der schlechten Seite. Als Teil der Gruppe, die von der nationalen Gesellschaft ausgeschlossen wird, trägt er unfreiwillig dazu bei, das Selbstbild des Staates aufrechtzuerhalten, der sich auf diese Weise als Gegenstück der ausgeschlossenen Gruppe definieren kann: Als moralische, unbefleckte Einheit. 88Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.21

Neben den Fragen, wer von Integration profitiert und inwiefern sie gelingen kann, stellt sich auch die Frage, was eigentlich dieses größere Ganze sein soll, in das sich integriert werden soll. Für Willem Schinkel existieren Gesellschaften nicht an sich, sondern immer in Abhängigkeit zu den vorherrschenden Vorstellungen über sie: „Damit eine Gesellschaft existieren, einen Einfluss haben und etwas bewegen kann, muss sie imaginiert werden.“ 99Im Original: „For a society to exist, to have effects, and to make a difference, it needs to be imagined “ Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press p.6 Imaginiert wird eine solche nationale Gesellschaft in der Regel nicht nur über die Distanzierung vom „Anderen“, sondern auch als basierend auf bestimmten geteilten Grundwerten, in Deutschland zum Beispiel auf Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Aber unter welchen Voraussetzungen kann ein Mensch von sich behaupten, mit diesen Werten übereinzustimmen? Und wie soll er diese Zustimmung beweisen? 1010Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wurde in den letzten Jahren reformiert, seither müssen Einbürgerungsbewerber u. a. ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und eine Loyalitätserklärung abgeben. Seit September 2008 müssen sie außerdem einen Einbürgerungstest absolvieren. Mit diesen Änderungen solle „dem gewachsenen Stellenwert der gesellschaftlichen Integration“ Rechnung getragen werden : Bundesministerum des Innern, für Bau und Heimat: Staatsangehörigkeitsrecht: Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts: Einführung des Geburtsortprinzips und weitere Reformen im Jahr 1999. Online: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/staatsangehoerigkeit/staatsangehoerigkeitsrecht/staatsangehoerigkeitsrecht-node.html, zuletzt aufgerufen am 31.03.2021

In Deutschland und vielen anderen Ländern Westeuropas wird davon ausgegangen, dass sich ein solches Bekenntnis zu den demokratischen Grundwerten qua Geburt ergibt. 1111Friese, Heidrun (2017): Die Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage. Bielefeld: transcript, p.68 In vielen Archivbeiträgen wird diese Annahme zurecht als naiv kritisiert. In „Det is Berlin“ fragt eine Autorin etwa: „Heute reden alle von Werten und Prinzipien, aber wer hält sich noch an Werte und Prinzipien?“ Eine ähnliche Frage stellt auch Kefah Ali Deeb und bezieht sich dabei konkret auf das Integrationskonzept: „Sind wirklich alle Deutschen integriert? Was bedeutet Integration eigentlich? Kann mir das jemand bitte so erklären, dass ich auch mitmachen kann?“ In „Det is Berlin“ hinterfragt die Autorin ganz grundsätzlich jene Werte, die in Deutschland angeblich so hochgehalten werden:

„Det is Berlin. Ja, tatsächlich, das ist Berlin. Hier wartet der Zug morgens nicht auf dich, wenn du verschlafen hast. Keiner interessiert sich dafür, ob du absichtlich den Morgen verschlafen hast oder etwas anderes im Sinn hattest. Keiner wird oder möchte es erfahren.“

Ob persönlicher oder theoretischer Natur, die genannten Denkanstöße der Autor*innen haben eines gemeinsam: Sie zeigen auf, dass ein auf Integration basierendes nationales Selbstbild höchst fragil ist. Eine Gesellschaft, die wirklich Gleichberechtigung anstrebt, bedarf eines neuen Selbstverständnisses, das Zugewanderte nicht als ihr Gegenstück, sondern als ihre Basis betrachtet. Noa Ha erklärt an dieser Stelle treffend:

„Dabei gibt es in diesem Land genug Erfahrungen mit Flucht und Migration, die jetzt genutzt werden könnten. (…) So brachten etwa die Kriege in Ex-Jugoslawien, die zwischenstaatlichen Verträge zu sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen, aber auch die Kolonialherrschaft Menschen ins Land. (…) Die Erfahrungen bündeln sich in den vielfältigen Selbstorganisationen von Migrant*innen. Sie setzen sich seit Jahrzehnten für ein interkulturelles Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland ein.“

 

Literatur
Arendt, Hannah, 2016: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 5. Aufl. Stuttgart: Reclam. (amerik. Original 1943)
Homepage des Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Staatsangehörigkeitsrecht: Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts: Einführung des Geburtsortprinzips und weitere Reformen im Jahr 1999 (Zuletzt aufgerufen am 31.03.21)
Friese, Heidrun (2017): Die Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage. Bielefeld: transcript
Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press.
Wright, Sarah (2015): More-than-human, emergent belongings: A weak theory approach. Progress in Human Geography, 39 (4), S.391-411
Yuval-Davis, Nira; Wemyss, Georgie; Cassidy, Kathryn (2019): Bordering. Cambridge : Polity.

    Fußnoten

  • 2Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.2 and p. 21
  • 3Arendt, Hannah, 2016: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 5. Aufl. Stuttgart: Reclam. (amerik. Original 1943), p. 32 f.
  • 4Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.21
  • 5Schinkel, Willem (2017): Imagined societies , p. 1 f.
  • 6Arendt, Hannah, 2016: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 5. Aufl. Stuttgart: Reclam. (amerik. Original 1943), p. 9
  • 7Wright, Sarah (2015): More-than-human, emergent belongings: A weak theory approach. Progress in Human Geography, 39 (4), p. 400 f.
  • 8Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press, p.21
  • 9Im Original: „For a society to exist, to have effects, and to make a difference, it needs to be imagined “ Schinkel, Willem (2017): Imagined societies : a critique of immigrant integration in Western Europe. New York: Cambridge University Press p.6
  • 10Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wurde in den letzten Jahren reformiert, seither müssen Einbürgerungsbewerber u. a. ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und eine Loyalitätserklärung abgeben. Seit September 2008 müssen sie außerdem einen Einbürgerungstest absolvieren. Mit diesen Änderungen solle „dem gewachsenen Stellenwert der gesellschaftlichen Integration“ Rechnung getragen werden : Bundesministerum des Innern, für Bau und Heimat: Staatsangehörigkeitsrecht: Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts: Einführung des Geburtsortprinzips und weitere Reformen im Jahr 1999. Online: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/verfassung/staatsangehoerigkeit/staatsangehoerigkeitsrecht/staatsangehoerigkeitsrecht-node.html, zuletzt aufgerufen am 31.03.2021
  • 11Friese, Heidrun (2017): Die Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage. Bielefeld: transcript, p.68

Das Essay wurde von Clara Zink im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und dem We Refugees Archiv geschrieben.

Unter der Leitung von Prof. Schirin Amir-Moazami erarbeitenden Studierende im Seminar „Narrative von Geflüchteten im Licht der Grenzregimeforschung“ im Wintersemester 2020/21 kritische Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie literarische und wissenschaftliche Texte zum Thema Grenzregime.

Die Grenzregimeforschung richtet den Blick primär auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Migration und Grenzen als gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen.

In Zusammenarbeit mit dem We Refugees Archiv führten die Seminarteilnehmenden Interviews mit Geflüchteten über ihre Alltagserfahrungen in Deutschland durch oder schrieben Artikel zu den gemeinsamen Themen des Seminars und des Archivs.